Vor einem Jahr – am 15.6.2018 – starb Dieter Wellershoff. Er war einer der bedeutenden deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit. Sein umfangreiches Gesamtwerk umfasst Romane; Novellen und Erzählungen; Essays; Hörspiele und Drehbücher sowie Autobiografische Schriften. Zuletzt veröffentlichte er noch ein ungewöhnliches Kunstbuch.
Wir haben unsere persönlichen Erinnerungen an ihn festgehalten: auf der Grundlage von Briefen und Gesprächsprotokollen.
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1992 wurden wir das erste Mal mit dem Werk von Dieter Wellershoff konfrontiert. Unsere Mutter lag damals im Sterben, und wir suchten nach einer Möglichkeit, uns mit dem Thema Tod vertraut zu machen. Wellershoff hatte damals den Roman Blick auf einen fernen Berg veröffentlicht, in dem er sich mit dem Sterbensprozess seines jüngeren Bruders auseinander setzt.
Danach dauerte es lange – auch bedingt durch unsere Berufstätigkeit – bis wir wieder auf einen Text von Wellershoff stießen. Das war 2006. Wir waren inzwischen nicht mehr berufstätig und hatten endlich Zeit, uns der Literatur zu widmen. Zuvor war Der Liebeswunsch erschienen. Wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, Bücher, die uns ansprachen, zu rezensieren. Wir wollten unsere Eindrücke fixieren und vermeiden, dass das Gelesene einfach vorbeirauscht. Nach einigem Zögern entschlossen wir uns, ihm unsere Besprechung zukommen zu lassen. Zu unserer Überraschung erhielten wir nach einiger Zeit einen Brief von Wellershoff. Er schrieb:
Ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief und die beigelegte Rezension meines Romans „Der Liebeswunsch“, die zugleich konzentriert und differenziert ist und in der gedrängten Beschreibung der Handlung und des Themas, auch seiner Tiefendimension, absolut kompetent ist. Ich bewundere die Energie, die Sie, ohne berufliche Verpflichtung und Honorierung, aufbringen, um Bücher, die Sie beeindruckt haben, den Menschen Ihres privaten Umkreises nahe zu bringen und zu erschließen. Es ist sicher auch ein großer Gewinn für Sie selbst. Ich kann das sagen, weil ich viel über andere Bücher geschrieben habe… Besonders sympathisch hat mich Ihr Motiv berührt, schlechten und unangemessenen Besprechungen meines Romans eine gerechtere Kritik gegenüberzustellen. Ich danke Ihnen für diesen Impuls. Vielleicht kann ich mich konkret bedanken, indem ich diesem Brief das Skript eines Vortrages über meine Auffassung von Literatur und meine Art des Schreibens beilege.
Dies war der Beginn unseres Briefkontakts mit Wellershoff. Das Ganze lief meist nach folgendem Ritual ab: wir schickten ihm unsere Rezension zu einem seiner Texte, und er motivierte uns, noch diesen und jenen Text zu lesen. Auf diese Weise haben wir uns im Laufe der Jahre einen Großteil seines Werkes erschlossen; immer begleitet von aufmunternden Repliken Wellershoffs. Etwa derart: Ich danke Ihnen für die ganz persönliche Rezension zu meinem Roman „Der Himmel ist kein Ort“. Sie ist für mich in ihrer klaren Sprache und dem genauen, eindringlichen Verständnis des Textes ein ungewöhnliches Dokument einer engagierten und sensiblen Lektüre. Sie haben mir damit ein unerwartetes Geschenk gemacht.
Er wunderte sich, dass er oft Besprechungen von uns bekam, die wir gemeinsam verfasst hatten. Jeder von uns hatte eigene Relevanzpunkte, und nur selten gab es Überschneidungen. So passte es meist ganz gut, wenn wir unsere Sichtweisen zusammenführten. Wellershoff sah in dieser Art Parallelbesprechung eines seiner Werke ein seltenes Beispiel für differente Übereinstimmung. Uns verblüffte diese Formulierung. Was hatte er damit gemeint? Vielleicht genau das: Dass jeder von uns etwas Eigenes in seinen Werken erblickte, was sich dennoch problemlos zusammenfügte. Jahrelang ging das so weiter, und wir arbeiteten uns mehr und mehr in sein Werk ein, so dass wir mit der Zeit ein Gespür für den spezifischen Wellershoff-Sound bekamen.
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Etwas Besonderes war die Entdeckung seines Gedichtbandes mit dem Titel Zwischenreich. Wir hatten bis dato gar nicht gewusst, dass Wellershoff Gedichte geschrieben hat. Die meisten der Gedichte waren in den 1970er Jahren entstanden; in einer Zeit persönlicher und gesellschaftlicher Konflikte. In unserer Besprechung des Bandes heißt es:
Fast alle Gedichte bestechen durch einen reflexiven Grundton, der mal expressiv, mal als Subtext mitschwingt. Dadurch vermitteln sie eine Atmosphäre der Unruhe, des (Selbst-) Zweifels oder der Spannung – selbst da, wo Themen wie Stille oder Landschaftseindrücke geschildert werden. Es ist, als traue der Autor dem Frieden nicht; als sei er ständig auf der Suche nach einem Ort des Innehaltens; nach einem Haltepunkt, von dem aus er sich seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit vergewissern kann.
Wellershoff bedankte sich für die Rezension, die er wegen der sensiblen Sachlichkeit und Einfühlsamkeit der Textbeschreibung als ein besonderes persönliches Geschenk empfunden habe. Gleich zu Anfang Ihres Briefes haben Sie von der Überraschung gesprochen, die die Entdeckung dieser Gedichte für Sie bedeutete. Das drückt sich Schritt für Schritt auch in Ihrem Umgang mit den Texten aus. Sie nehmen sie behutsam in die Hand, um sie zu betrachten und auf ihre Untertöne abzuhorchen. Das hat mich angeregt, Ihnen zu Ihren Fundstücken zu folgen und mir dabei selbst in meiner damaligen Aufgewühltheit wieder vor Augen zu kommen, vor allem in den Texten aus den 70er Jahren, die für mich eine Zeit der Umwälzungen und Infragestellungen war. Ich spürte wieder die Bodenlosigkeit der Texte und meine Gegenwehr, die darin lag, sie zu formulieren. Aber ich habe diese Gedichte wegen ihrer Brisanz und Intimität lange Zeit zurückgehalten und sie erst 2008 in dem schmalen Bändchen „Zwischenreich“ veröffentlicht. Dort sind sie gewissermaßen weiterhin in Quarantäne und werden gelegentlich von subtilen und neugierigen Lesern, wie Sie es sind, aufgespürt. Das ist dann jedes Mal wie ein tiefer Atemzug.
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Nach jahrelangen Briefkontakten und Telefonanrufen luden uns die Wellershoffs eines Tages zu sich nach Hause ein. Unser erstes Aufeinandertreffen verlief völlig entspannt. Selten sind wir einem Menschen begegnet, der so unkompliziert, interessiert und aufmerksam war wie Dieter Wellershoff. Man kann wohl sagen: wir hatten sofort einen persönlichen Draht zueinander. Wir konnten über alles reden: natürlich über Literatur, Kunst und Musik; aber auch über alle möglichen Alltagsdinge, z.B. über Fußball. Vor allem wollte er wissen, woran man arbeitet. Er erkundigte sich stets danach. Nie äußerte er sich abgehoben oder floskelhaft; alles, was er sagte, war durchdacht und erfahrungsgesättigt. Er war einer, der wusste, worüber er sprach. Man merkte ihm an, dass er immer versuchte, den entscheidenden Punkt zu treffen. Er formulierte behutsam und originell, so dass man oft erst später verstand, was er gemeint hatte. Man musste darüber nachdenken, was er gesagt hatte. Das machte den Reiz der Kommunikation mit ihm aus.
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In der Zeit, als wir an längeren Texten über das Werk von Dieter Wellershoff arbeiteten, intensivierte sich unser Kontakt. Wir haben uns oft gefragt, was Wellershoff an unseren Besprechungen besonders schätzte. Es war wohl dies: Bei der Auswahl der Autoren, mit denen wir uns befasst haben, folgen wir ganz allein unseren subjektiven Vorlieben und Neigungen. Gleiches gilt für unsere Textinterpretationen. Wir nehmen uns die Freiheit, unsere individuellen Leseeindrücke möglichst unverstellt zum Ausdruck zu bringen – ohne Rücksichtnahme auf formale Standards oder mediale Prioritätensetzungen.
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Bei einem weiteren Besuch erzählte Wellershoff, dass er an einem Kunstprojekt arbeite. Auf dem Sofa lagen zwei Ordner mit Fotokopien von Kunstwerken. Er suche sich Bilder aus und bespreche sie. Aber nicht wie üblich ganzheitlich oder formal oder in kunsthistorischer Perspektive, sondern absolut subjektiv und assoziativ. Und nur ganz kurz: allenfalls eine halbe bis ganze Seite. Nur ein kurzer, prägnanter Eindruck wird festgehalten. Darauf gekommen bin ich, als ein Redakteur von „Christ und Welt“ mich gebeten hat, ein Bild mit nur einem Satz zu besprechen. Das ist zwar nicht möglich, aber eine Kurzbesprechung reizte mich doch sehr.
Dann reichte er jedem von uns einen Ordner mit Folien, in denen sich ein Bild und der dazugehörige Text befanden. Er forderte uns auf, ein Van Gogh-Bild anzuschauen. Es zeigte eine Landschaft vor einem Gebirge. Gemalt in dicken, bunten Linien. Darüber ein blaugrün gehaltenes Wolkenband. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich einen Punkt im Bild vor, auf dem Sie sich niederlassen würden. Jetzt öffnen Sie die Augen. Haben Sie nicht auch das Gefühl, die wilden Wolken überfluten wie ein Wasserfall das Tal, das auf dem Bild zu sehen ist?
Wir staunten nicht schlecht über den Umfang, den das Kunstprojekt angenommen hatte. Den meisten Interpretationen merkte man an, dass er Kunstgeschichte studiert hat. Seine Frau Maria auch. Dabei hatten sie sich seinerzeit in Bonn kennengelernt. Beide lehnten sie Formanalyen ab. Man muss einfach zum Ausdruck bringen, was einem das Bild sagt. Das ist das Wichtigste; alles andere ist nur Beiwerk.
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Fast bei jedem Besuch sprach Wellershoff wie selbstverständlich über den Tod. So auch im Zusammenhang mit dem Erscheinen seiner vollständigen Werkausgabe. Es beruhigt mich, dass die Ausgabe vorliegt. Sie wird auch nach meinem Tod bleiben. Vor dem Tod habe ich keine Angst. Man kann das Sterben heute medizinisch begleiten, Schmerzen vermeiden und das Hinübergleiten beeinflussen. Der Tod ist die nahe Zukunft; eine andere gibt es nicht mehr. Aber es gehört zum Leben, dass es ein Ende hat. Mich interessiert die Erfahrung des Todes; ob man ihn denkend erleben kann.
In einigen seiner Romane habe er das Sterben und den Tod thematisiert; so in Der Sieger nimmt alles. Er holt den Band aus dem Regal und liest uns den Anfang des Romans vor. Man merkte ihm an, dass er gern vorlas und ganz darin aufging. Er gab uns das Buch mit und bat uns, ihm unseren Eindruck mitzuteilen. Wir schickten ihm nach einer Weile unsere Besprechung und er schrieb uns zurück:
Ich habe mich sehr gefreut über den Aufsatz, den Sie gemeinsam über mein Buch geschrieben haben, das mir so wichtig ist und das so verschwunden ist aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich der Sache angenommen haben. Und ich bin ja fast erschrocken über die Schärfe der Kategorien, die ich damals ins Spiel gebracht habe; also z.B. der „aufrichtige Ehefälscher“ und ähnliche Begriffe. Das ist ja wirklich eine einschneidende, kritische Gesellschaftssicht.
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Beiden Wellershoffs machte die Dauer unserer Besuche offensichtlich kaum etwas aus. Im Gegenteil. Während wir angesichts der Intensität der Gespräche manches Mal schon ziemlich erschöpft waren, schienen sie aufzuleben. Es konnte vorkommen, dass er vorschlug, noch ein Glas Sekt auf unsere Bekanntschaft zu trinken. Wenn wir uns nach zwei oder drei Stunden verabschiedeten, überreichte Wellershoff uns meist noch ein oder zwei Bücher mit persönlichen Widmungen. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir sagen, was Sie davon halten. Auf diese Weise lasen wir mit der Zeit alle Romane; zahlreiche Erzählungen, einige Novellen und seine literarischen Essays. Die Besprechungen summierten sich, und wir veröffentlichten sie schließlich in unserem Buch: Leben braucht keine Begründung. Zum literarischen Werk Dieter Wellershoffs (2012).
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Als wir das Buch endlich in den Händen hielten, fuhren wir zur Mainzer Straße und steckten ihm ein Exemplar in den Briefkasten. Kurze Zeit später rief er an: Das Buch gefällt mir sehr. Aber Ihre Namen auf dem Cover sind zu klein geraten. Wir erinnern ihn noch einmal an die Entstehungsgeschichte des Buches. Als wir ihm sagen, dass uns sein Lob und seine Ermunterungen immer sehr motiviert hätten, meint er: Ich habe bei jedem der Beiträge mitgefiebert. Dass wir diese Dichte in der Darstellung erreicht hätten, hänge wohl damit zusammen, dass wir seine Texte nicht sporadisch, sondern sehr konzentriert in einem engen Zeitraum gelesen hätten. Kaum jemand nimmt sich heute noch die Zeit, sich intensiv mit einem Autor zu beschäftigen. Viele Kritiken bleiben oberflächlich. Der ganze Literaturbetrieb ist wegen seiner Marktorientierung schnelllebig geworden. Von Anfang an hatte man mir den Stempel „schwieriger Autor“ aufgedrückt: schwer zu lesen und zu verstehen. Das hat sich dann durchgehalten. Bis heute vermisse ich eine angemessene Wahrnehmung im Literaturbetrieb. Reich-Ranicki hat seinerzeit meinen Roman „Schattengrenze“ wirr und unlesbar genannt. So etwas war existentiell bedrohlich, und viele aus dem Feuilleton haben das damals einfach nachgeplappert. Ich weiß, dass ich damals viele Gegner hatte, z.B. in der Darmstädter Büchner-Preis-Jury. Selbst Feministinnen haben mich als frauenfeindlich bekämpft. Und natürlich war auch die Kirche mir gegenüber immer ablehnend.
Oft wird durch die Skandalisierung von Literatur der Erfolg künstlich herbeigeführt, und auf diese Weise werden Auflagen gesichert. Viel Mist überschwemmt den Markt, konzeptionslos, ohne Lebenserfahrung, Grundüberzeugung und Gesellschaftsreflexion. Dahinter stehen „gemachte Autoren“. Ich habe mich nie am literarischen Mainstream oder an Vorbildern orientiert, sondern bin meinem Schreibkonzept immer treu geblieben. Zum Glück habe ich immer einen verständigen Verleger und Lektor und gute und treue Leser gehabt, die mich von Neuerscheinung zu Neuerscheinung begleitet haben. Diese werden hoffentlich auch Ihr Buch mit Interesse aufnehmen.
Dann kommt er auf sein Kunstbuch zu sprechen. Es steht kurz vor der Vollendung. Es hat mich enorm viel Kraft gekostet. Ich ziehe darin einen großen Bogen um und durch die Kunstgeschichte, die mit Dürer beginnt und mit Richter und Neo Rauch endet. Dürer steht für die Eröffnung der Welt; Rauch für deren Schließung. Bei ihm ist alles kaputt, vergiftet, hässlich und unrettbar verloren. Dieser zum Star der Kunstszene emporgeschossene Maler steht für die Verschließung der Welt ohne Widerspruch. Auf diese Formel habe ich meine Analyse gebracht. Ich wundere mich, wie willfährig die Kunstkritik auf diesen Maler einschwenkt, z.B. Leute wie Werner Spiess. Man versucht teilweise, seine Werke als „Traumdeutungen“ zu interpretieren. Aber im Unterschied zu Freud, für den Träume Aspekte der Realität enthalten, kann ich bei Rauch keine Sinnzusammenhänge wahrnehmen. Viele Motive sind nicht zu erkennen oder beliebig platziert. Oft stimmen die Proportionen und Farben nicht. Und vieles wirkt wegen der Eindeutigkeit der dargestellten Dinge profan bis naiv. Das zur Tugend zu erheben, ist mehr als problematisch. Vergeblich sucht man nach einer inspirierenden Idee oder einem Konzept. Vielleicht ist das aber ja so auch gedacht.
Richter hingegen hat sich in jeder Form und Machart geübt; auch aus Unsicherheit und Angst. Er hat sich an jede Richtung und Technik angehängt, um nur ja Beachtung und Anerkennung zu finden. Spektakulär sind seine Bilder im Riesenformat, so als wolle er damit sein Wahrgenommenwerden absichern. Richter steht für das anything goes, dieser Variante der Postmoderne. In der Kunst ist es scheinbar möglich, immer größere und abstraktere Bilder zu malen. Offenbar ist es mittlerweile für die Käufer von Kunst eine Prestigefrage, ein großes Bild zu besitzen. Je größer, desto bedeutender, scheint das Motto zu lauten. In der Literatur verläuft die „Ausgrenzung“ versteckter, unsichtbarer. Wer sich da dem Spektakel verweigert, wird auf dezentere Weise „entsorgt“.
Er möchte uns gern ein Kapitel aus seinem Buch über Lucien Freud als Vorabdruck mitgeben – als Dank und kleine Gegengabe für unsere Arbeit. Wir gehen zu einem Copy-Shop, um eine Kopie anfertigen zu lassen. Als wir auf dem Rückweg die Straße überqueren, wundern wir uns, dass die Mainzer Strasse einst eine so „schlimme Gegend“ gewesen sei, wie er uns einmal erzählt hatte. Daraufhin bemerkt er lapidar: Eine Domina wohnt immer noch hier. Gleich da vorn.
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Wie immer fragt er nach unseren Aktivitäten. Wir berichten von den Arbeiten an einem Reisebuch, und er meint, man müsse auch einmal eine Pause einlegen. Ob wir nicht das heutige Fußballspiel der EM gemeinsam schauen wollen. Er erweist sich als erstaunlich informiert und interessiert. Ich vermisse die Frische im deutschen Team. Ich würde Spieler wie Schürrle und Podolski einsetzen. Das sage ich nicht als Kölner. Nicht verstehen kann ich, dass ein Spieler wie Kroos gesagt hat, er traue sich keinen riskanten Pass zu, aus Furcht, einen Fehler zu begehen.
Er spricht dann von der Bankenkrise. Als wir ihn verwundert anschauen, sagt er: Ich meine nicht die Deutsche Bank des Herrn Ackermann, sondern die deutsche Ersatzbank, auf der noch einige Talente schlummern.
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Wellershoff ist in dieser Zeit überaus aktiv. Immer häufiger wird er auf seine Kriegserlebnisse angesprochen. In kurzer Zeitspanne gibt er Interviews mit der taz und der Frankfurter Allgemeinen, die ihn nach seiner Meinung über den Fernsehfilm Unsere Mütter, unsere Väter fragt. Dann erscheint auf Spiegel-Online ein Beitrag der Tochter Marianne, die von Gesprächen mit ihren Eltern über deren Kriegserfahrungen berichtet. Dann nimmt er an einer Jauch-Sendung zum gleichen Thema teil und schließlich gibt es noch einen Fernsehfilm über den Liebeswunsch.
Wir hatten uns schon bei anderen Gelegenheiten gewundert, wie offen er über den Krieg sprach. Wie er sich als 17Jähriger freiwillig gemeldet hat. Und wie sehr die Kriegserlebnisse ihn geprägt haben. Ich habe daraus einen unbändigen Lebenswillen geschöpft nach all den furchtbaren Erfahrungen. Diese ganz subjektive Wahrnehmung möchte ich zum Ausdruck bringen, nicht die übliche, nachträgliche kritische Sicht. Die Tatsache und Bedeutung des Lebens – das ist fortan mein Thema gewesen.
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Nach dem Erscheinen der letzten drei Bände seiner Werkausgabe haben wir uns intensiv mit den Texten befasst, die wir bis dato noch nicht kannten. Dazu gehörten Teile seiner Autobiographischen Schriften; seine Theorie des Kriminalromans; die Hörspiele und Drehbücher; seine Arbeiten über Benn; Die ungeschriebenen Geschichten u.a.m.
Unsere Notizen zu seinen Schriften nahmen einen solchen Umfang an, dass wir uns entschlossen, ein zweites Buch aufzulegen: Leben und Schreiben – was sonst? Ein Streifzug durch die Werkausgabe von Dieter Wellershoff (2014). Als wir ihm das Buch zuschickten, ist er überrascht und gerührt. Es ist für mich nicht fassbar, was Sie da leisten. Sie arbeiten damit gegen das Vergessen an. Ich wundere mich über die Kohärenz der Beiträge: sie sind wunderbar aufeinander abgestimmt und geben einen sehr guten Überblick über mein gesamtes Werk. Nachdem ich das Buch gelesen habe, bin ich selbst erstaunt, auf wie vielen Feldern ich gearbeitet habe. Das kommt sehr schön heraus; auch die disziplinären Verschränkungen: die Beiträge zur Kunstgeschichte; meine Kenntnisse der Psychologie und Philosophie; all das haben Sie zutage gefördert und auf sehr stimmige Weise aufeinander bezogen.
Heute wird alles nur noch oberflächlich angetippt, eingeordnet, und dann geht es zum nächsten über. Alles ist nur noch auf den Markt ausgerichtet. Ich bin noch ganz erfüllt von der Lektüre Ihres Buches. Ich habe es vor mir liegen. Was Sie da an Bergungsarbeit geleistet haben! Sie geben mir das sozusagen als beglaubigtes Geschenk zurück. Ich lese das sehr gerne und fühle mich darin verstanden. Und ich könnte mir vorstellen, dass es auch anderen Menschen den Blick öffnen würde für das, was in meinen Büchern zu lesen ist. Wenn man älter wird, ist man natürlich dankbar dafür, dass es Freunde gibt, die das, was man geschrieben hat, noch einmal ins Leben zurücktragen.
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Nach dem Erscheinen seines Kunstbuches Was die Bilder erzählen. Ein Rundgang durch mein imaginäres Museum (2013) haben wir uns natürlich intensiv mit diesem ungewöhnlichen Buch befasst. Wir hatten ja über viele Monate den Entstehungsprozess des Buches verfolgt, und zwischendurch hatte er uns immer einmal wieder aus seinem Manuskript vorgelesen. Nun war das Buch endlich in der Welt. In einem Brief berichten wir ihm von unseren Studien:
Wir sind – Ihrem Rat folgend – erst einmal durch das imaginäre Museum gestreift, mal hier hin, mal dort hin. Aber bald genügte uns dieses Flanieren und bruchstückhaft voyeuristische Vor-Gehen nicht mehr, und wir begannen, das Buch von vorne nach hinten zu lesen. Welch ein Glück, denn erst dieser Gangart verdanken wir eine Aufklärung des Blicks und unerhört sympathische Lehrstunden über einzelne Bilder sowie die kunstgeschichtliche Entwicklung in einem Zeitrahmen von mehr als fünfhundert Jahren.
Die Interpretationen variieren: von dem „einen Satz“ (etwa bei Magrittes Apfel) über die knappe Skizzierung des Eindrucks bis zur kunstgeschichtlichen und biographischen Kontextualisierung; von der genauen Bildbeschreibung bis zur Erzählung einer passenden Geschichte, erfunden aus der spontanen Wirkung des Bilder (etwa bei Leo Putz Spätherbst). Auch einfühlsame Portraits von Malern wie Munch, Rothko oder Lucian Freud oder essayhafte Abhandlungen wie die über G. Richter bilden eine Gruppe unter den Interpretationen. Durch diese Bandbreite der Betrachtungen auf die Werke und ihre Schöpfer entsteht bei der Rezeption ein Gefühl von Freiheit (so oder so aber auch anders kann man über Bilder sprechen) und zugleich ein Gewinn an ästhetischer Wahrnehmungsschärfe in Bild und Schrift.
Dass hier ein großer Schriftsteller mit all seiner Sprachmacht „Blicke ins Nachbarmedium“ wirft, sorgt für eine ästhetisch-poetische „Verdoppelung“, die in gewöhnlichen Kunstkatalogen nicht zu finden ist.
Darauf antwortet er: Ich empfinde große Freude und begrüße, wie Sie vorgegangen sind: nämlich erst zu stöbern und dann den Band von vorn nach hinten zu lesen. Ich staune selbst, was da zustande gekommen ist. Was als Stückwerk begann, erschließt sich jetzt als ein wohlgeordnetes Ganzes. Ihr Brief ist so frisch geschrieben, jenseits des Üblichen im Feuilleton. Ich fühle mich angesichts der bevorstehenden Termine bestärkt. Ich rate Ihnen, den Brief zur Grundlage einer ausführlichen Rezension zu machen.
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Einige Male haben wir uns mit den Wellershoffs im Restaurant Capricorn in der Kölner Südstadt zum Essen verabredet. Es war erstaunlich, wie aufgeräumt und guter Stimmung beide stets waren.
Wellershoff erzählt, dass sein Kunstbuch positiv aufgenommen wird – wenn auch nur in kleinen Besprechungen. Nur die Kunstgeschichtler machen einen Bogen um das Werk. Anscheinend habe ich das Gesetz der disziplinären Abgrenzung verletzt. Dabei habe ich doch gerade den von der Kunst eingeschlagenen Weg, sich vom Leben zu emanzipieren, rückführen und korrigieren wollen, indem ich zeige, dass die Kunst, genau wie die Literatur, Wirklichkeiten in verschiedenen Facetten und aus diversen Perspektiven zur Sprache bringt, also das Leben selbst bespiegelt.
Wir sprechen über alles Mögliche, und die Zeit verfliegt im Nu. Dezent werden wir darauf hingewiesen, dass das Lokal bald schließt. Zum Schluss erwähnen wir noch, dass wir begonnen hätten, uns wieder einmal mit Arno Schmidt zu beschäftigen. Uns sei aufgefallen, dass dieser in seiner Werkausgabe nicht vorkomme. Zu unserer Verblüffung sagt er: Dieser doch sehr bekannte Autor war mir zu nah. Deshalb habe ich immer einen großen Bogen um ihn gemacht. Auch formal gab es große Differenzen zwischen uns. Darüber sollten wir beim nächsten Treffen einmal diskutieren.
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Nach dem Anhören seiner Audio-CD über das Sterben schreiben wir ihm unseren Eindruck davon:
Nach zweimaligem Hören Ihrer Audio CD „Ans Ende kommen“ können wir einmal mehr unsere Faszination kundtun darüber, wie Sie dieses schwierige Thema angegangen sind. Hier spricht ein Weiser, den so schnell nichts erschüttern kann. Er spricht mit ungebrochener, fester Stimme – untypisch für einen alten Menschen. Hier erzählt einer aus dem Fundus seiner reichen Lebenserfahrung, und vor diesem Hintergrund versucht er, das gegenwärtig erlebte Altern bis zum Lebensende gedanklich in den Blick zu nehmen. Was uns tief beeindruckt: Sie verbinden mit Ihren vielseitigen Reflexionen über das Altern den Gang durch die wichtigsten Stadien Ihres Lebens; dabei verfolgen Sie neben der eigenen Biographie auch immer eine allgemeinere Perspektive. Sie gewinnen den verschiedenen Aspekten des Alterns stets die Ambivalenz der Erfahrung ab: Zu den Verlusten, Einschränkungen und Gebrechen gesellen sich bei Ihnen auch immer die Gewinne des „Mehrwerdens“, an Erfahrung etwa, der Rechte und Ansprüche auf Respekt und Achtung, des Angekommenseins und des beruhigenden Gefühls, eine Menge geschafft und geleistet zu haben. Sie sprechen über den letzten Lebensabschnitt mit philosophischer Weisheit und Gelassenheit, beschönigen nichts, wollen aber keineswegs Mitleid erheischen, sondern bezeugen mit dem Selbstbewusstsein eines alten Menschen: „Das Wesentliche ist mir nicht zu nehmen.“ Schließlich finden wir das Modell der Kerze, das Bild des allmählichen Erlöschens als Vorstellung über das Sterben, ungemein tröstlich. Und zum Schluss Ihr eigener Trost in der Vorstellung, dass Ihr großes Gesamtwerk sich in vielen Bücherschränken befindet und immer einmal wieder gelesen wird. Genauso werden wir es auch in der Zukunft halten!
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Im April 2016 erhielten wir eine Einladung der Johannes a Lasco Bibliothek Emden zu einem Vortrag über das literarische Werk Dieter Wellershoffs. Zu unserer Überraschung kamen ca. 90 Leute zu der Veranstaltung. Sie fand im Rahmen einer Vortragsreihe über bedeutende Schriftsteller wie Oscar Wilde; Arno Schmidt; Jean Paul u.a. statt. In einem Brief und später auch mündlich berichteten wir ihm von der Veranstaltung:
Ort der Handlung war eine ehemalige Kirchenruine, in deren stehengebliebenen Außenmauern eine moderne Bibliothek errichtet wurde, die ein großes Spektrum theologischer Schriften aus mehreren Jahrhunderten beherbergt. Wir hatten einen Tisch mit Ihren sämtlichen Büchern aufgebaut: die Einzelbände mit den persönlichen Widmungen; ihre Werkausgabe; das Kunstbuch und den neuen Band mit Erzählungen. Daneben ein Tisch mit unseren Büchern, soweit sie Bezüge zu Ihrem Werk aufweisen.
Wir haben Textbeispiele aus Ihrem Werk als „Varianten eines übergreifenden Gesamtthemas“ dargestellt, das man als den „großen Lebenstext“ bezeichnen könnte – so haben Sie selbst ihr Werk verschiedentlich charakterisiert. Wir haben die Texte wechselseitig gelesen und interpretiert. Das hat den Leuten das Zuhören erleichtert und sie die Sprachmächtigkeit Ihrer Texte genießen lassen. Selten haben wir ein derart aufmerksames, ja andächtiges Publikum erlebt. Viele haben sich an der Diskussion beteiligt. Einige hatten noch gar nichts von Ihnen gelesen; andere nur sporadisch. Wir sind uns sicher – so wurde es in einigen Beiträgen auch gesagt – dass Ihr Werk bei einem Teil der Zuhörer eine neue Aufmerksamkeit erlangen wird. Wir werden mit unseren bescheidenen Möglichkeiten dazu beitragen. Vielleicht erhalten wir die Gelegenheit, eine ähnliche Veranstaltung, über die auch in der regionalen Presse berichtet wurde, zu wiederholen.
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In gewisser Weise war der 90. Geburtstag Wellershoffs eine Zäsur in unseren persönlichen Begegnungen. Die ganze Prozedur hatte ihn viel Kraft gekostet, das merkte man, wenn man mit ihm sprach. Auf die Frage, wie er alles überstanden habe, sagte er lapidar: Man ist am leben, solange man lebt. Um gleich darauf zu sagen: Wir würden Sie gern ins Restaurant einladen, es gibt viel zu reden. Aber wir haben Gebrechen und werden immer unbeholfener. Deshalb brauchen wir dazu Ihre Hilfe. Im Übrigen sind wir immer hier. Da wir die Erfahrung gemacht hatten, dass längerfristige Verabredungen wegen der wechselnden Befindlichkeiten der Beiden immer schwieriger wurden, riefen wir sie spontan an und vereinbarten ein Treffen zum Tee. Er meint: Ein sehr guter Vorschlag, realistisch, lebensnah und praktisch-konkret.
Wir berichteten noch einmal von unserem Vortrag in Emden. Er wollte wissen, ob die Zuhörer sein Werk gekannt hätten und wie wir vorgegangen seien. Als wir ihm unser Konzept noch einmal erläuterten und ihm sagten, wir hätten den Fokus auf seinen emphatischen Lebensbegriff gelegt und diesen gegen das normale Leben mit seinen Gewohnheiten und Routinen abgegrenzt, meinte er: Sie haben den Leuten den Text hinter dem Text vermittelt. Damit haben Sie ihnen eine Orientierung gegeben und einen Zusammenhang hergestellt, den sie sich ohne weiteres nicht selbst hätten aneignen können.
Zum ersten Mal fragt er nach unserer Herkunft. Joke sagt ihm, er stamme aus dem Arbeitermilieu; schon sein Opa und auch der Vater und die älteren Brüder seien Werftarbeiter gewesen. Dann will er wissen, ob Joke Sport betrieben habe. Er sei begeisterter Fußballer gewesen. Daraufhin bemerkt Wellershoff, er habe während seiner Militärzeit geboxt und weiter: Wer in der Jugend nicht geboxt oder Fußball gespielt hat, kennt das Lebensinnere nicht: den Kampf, die Schmerzen, die Niederlagen und die Demut vor der Leistung anderer.
Joke berichtet, dass er über seinen Opa und das Milieu seiner Kindheit ein Buch geschrieben habe. Der Opa sei ein großer Erzähler gewesen. Vor allem von seinen Kriegserfahrungen aus der Hölle von Verdun, in der er schwer verwundet wurde, habe er viel gesprochen. Das hätte ihn für alle Zeit immun gegen alles Militärische gemacht. Das sei bei ihm ganz anders gewesen, meint Wellershoff; er sei wie natürlich in diese Welt hineingewachsen. Diese Welt war ganz einfach da; eine andere gab es nicht.
Wir haben bei unseren Besuchen immer versucht, das Interesse auf Wellershoffs Werk zu lenken. Dann konnten wir seine Fähigkeit bewundern, ein angesprochenes Thema in einer Art Quintessenz aus philosophischer und literarischer Ausdrucksform gewissermaßen zu transzendieren. Er formulierte selten in der Alltagssprache. Man merkte ihm an, wie es in ihm arbeitete, wenn er aufmerksam zuhörte, und dann kamen Aussagen, über die man lange nachdenken musste, weil man sie zunächst gar nicht in ihrer ganzen Tragweite erfasste. Natürlich tat es uns gut, wenn er sich positiv zu unseren Bemühungen um sein Werk äußerte. Einmal sagte er: Sie sind mit Ihren Texten in mein Lebensinneres eingetaucht und haben es für mich festgehalten. Und nur, weil es gemeinsame Grundüberzeugungen zwischen uns gibt, ist Ihnen dies möglich gewesen. Sie haben mir auf diese Weise ein Stück Leben zurück geschenkt.
Nach einer solchen Bemerkung wusste man kaum noch etwas zu sagen. Man war einfach nur froh, einen solchen Menschen kennen gelernt zu haben. Und wir sind sicher, dass auch den Beiden die Begegnungen mit uns etwas gegeben haben. Das macht uns im Nachhinein glücklich und gleichzeitig demütig. Was wir nach dieser Begegnung noch nicht ahnten: Es war unsere letzte Begegnung mit Dieter Wellershoff.
(Dieser Text basiert auf unserer Buchveröffentlichung Dieter Wellershoff – Eine Begegnung der besonderen Art von 2019)
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Titelbild: Wikipedia, Alfred Löhr, Signature from a letter, dated 1972_12_29, CC BY-SA 3.0
Text: Wikipedia, Bodow, CC BY-SA 4.0, Supposé (Verlag)