Von Berlin bis Köln; Hamburg bis München – in kaum einem deutschen Museum waren wir auf Werke des Künstlers Paul Wunderlich (1927 – 2010) gestoßen. In dem hervorragend ausgestatteten Katalog Poesie und Präzision heißt es denn auch:
Wahr ist es, die deutschen Museen haben mit wenigen Ausnahmen Wunderlichs Bildersaal aus ihren Revieren verbannt. Zu abgehoben, zu künstlich und wiederum zu leicht betretbar für viele erscheint er ihnen. Dabei steht die Realität als Bild auslösender Anstoß öfter als man wahrzunehmen meint hinter einer Bildfolge – aber vermutlich sieht man nicht mehr genauer hin.
Folglich kannten wir ihn auch kaum: allenfalls war er im Umkreis der Werke von Horst Janssen erwähnt worden. Auch in den Tagebüchern von Fritz J. Raddatz, der mit Wunderlich befreundet war, wird er immer einmal wieder erwähnt – als einer der wenigen der bundesdeutschen Kulturelite ohne Allüren und selbstverliebte Eitelkeiten.
Der Zufall wollte es, dass wir ihn 2009 anläßlich eines Besuchs des Landesmuseums Schloß Gottorf bei Schleswig entdeckten. Wir kamen gerade noch rechtzeitig zur Anselm-Kiefer-Ausstellung und hatten uns eigentlich schon „sattgesehen“ an anspruchsvollen Bildern und Motiven – als wir im oberen Stock auf die Ausstellung der Werke von Paul Wunderlich stießen. Wir waren sofort davon fasziniert.
Was macht diese Faszination aus? Das soll beispielhaft am 1994 entstandenen Bild „Die Schöne und die Maske“ erläutert werden. Das Bild stellt eine Frau dar, die wie gebannt auf eine Maske schaut. Ihre Augenpartie wird von einer Art durchsichtiger Augenbinde umgeben. Das sichtbare Auge lugt daraus hervor. Auf dem schwarzen Haarschopf ist eine Feder aufgesteckt. Die seltsam gestreckte Hand umfasst die Brust der Frau. Stirn und Nasenpartie bilden eine Linie ab. Darunter die rot gefärbten Lippen. Im Hintergrund ein grauer Vorhang – in derselben Farbe gehalten wie das Kleid oder die Bluse der Frau.
Die Frau schaut wie verzaubert auf die Maske oder: als würde sie sich im Spiegel betrachten ohne sich im Spiegelbild wiederzufinden: ganz erstaunt oder auch erwartungsvoll?
Die Maske ist in kräftigem Blau gehalten – mit diversen Verzierungen in gelblich-gründlichen Kringeln. Die weißlich-graue obere Kopfpartie wirkt wie eine freigelegte Hirnmasse. Zwischen dieser und der Maske lugt ein Blatt hervor. Die Wirbelsäule wird in grauen Punkten angedeutet; bis zum Ende der Halspartie, die mit einem Graustrich abgeschlossen wird.
Das sichtbare Auge der Frau und das aus der Maske hervorlugende Auge befinden sich auf gleicher Höhe. Sie scheinen sich wechselseitig zu mustern. Was erwarten sie voneinander? Begegnen sie sich nur stumm? Oder sind sie kurz davor, miteinander in Kontakt zu treten? Schwer zu sagen! Auf jeden Fall drückt das Bild ein Spannungsverhältnis aus, das dem Bild seine Atmosphäre verleiht. Man könnte von einem Spannungsbogen sprechen, der von Erotik bis zu Erstarrung reicht. Durch das Maskensymbol wird ein Geheimnis angedeutet, das den Betrachter in den Bann zieht. Zu gern würde er wissen, wie die Geschichte sich weiter entwickelt – aber genau das verrät das Bild nicht. Auf diese Weise aber bleibt die Spannung erhalten und uns bleibt nichts anderes übrig, als das Bild immer erneut zu betrachten. Vielleicht kommen wir auf diese Weise dem Geheimnis näher.
Zum Bild Erwartung (1991)
Eine Frau sitzt auf einem in schwarz gehaltenen, rechtwinklig angelegten Sitzmöbel. Den rechten Arm hat sie auf die Seitenlehne gelegt; die Hand schließt – wiederum im rechten Winkel mit der scharfen Kante des Möbels ab. Der Ellbogen berührt eine quaderförmige, eckige Blumenvase, aus der zwei Blumenstengel wie verloren hervorragen. Der dritte ragte quer über den Kopf der Frau in den Raum.
Die Frau sitzt ganz entspannt. Sie trägt eine Augenbinde, aus der ein Auge sichtbar wird. Der Schädel ist kahl; unterhalb der um den Kopf führenden Binde ist der Haarschopf rötlich gefärbt. Eine Brust ist entblößt; die untere Hälfte des Körpers wird von einem weiß-grauen Rock bedeckt, der scharf vom schwarzen Untergrund der Sitzgelegenheit abgegrenzt wird. Die linke Hand der Frau liegt auf dem Rock auf; Zeige- und Mittelfinger sind gestreckt. Die Mimik der Frau unterstreicht den entspannten Eindruck, den sie in ihrer ganzen Haltung auf den Betrachter ausstrahlt.
Während man vom Bildtitel „Erwartung“ eher auf einen angespannten Ausdruck der Frau schließen würde, wirkt diese völlig ruhig und gelassen. Auch keine Spur von Resignation läßt sich ausmachen. Das erwartete Ereignis scheint sie nicht zu beunruhigen. Bestenfalls verrät der Blick der Frau einen leichten melancholischen Zug, von dem man nicht weiß, wer oder was ihn auslöst.
Gerade dieser undramatische Grundzug des Bildes weckt die Aufmerksamkeit des Betrachters. Man denkt sich unwillkürlich in die Frau hinein, die da so gelassen sitzt und auf etwas wartet, das sich uns nicht entschließt. Aber gerade diese Offenheit regt an, darüber nachzudenken, was die Erwartung der Frau auszulösen vermag. Der Phantasie des Betrachters wird Raum gelassen. Das ist eine Kunst für sich, die anregend wirkt.
Zum Bild Familie (1990)
Im Mittelpunkt des Bildes: eine Frau und ein Mann, die sich starr anzublicken scheinen. Im Hintergrund – an die Frau geschmiegt, ein Kind – mit einer Zigarette im Mund. Im Vordergrund – rechts und links im Bild – zwei Hunde.
Bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass die Blicke der Personen einander verfehlen – ins Leere gehen. Auch scheinen die Gesichter wie hinter Masken verborgen. Die realen, dem Bild zugrunde liegenden Gesichter bleiben zwar erkennbar; erhalten aber durch die farblich dick aufgetragenen Masken einen doppeldeutigen, entfremdeten Ausdruck : sie wirken wie erstarrt. Dieser Eindruck verstärkt sich noch dadurch, dass die Maske des Mannes eine scharfkantige, rechtswinklige Form annimmt, die seinem Blick eine zusätzliche Starre zu verleihen scheint. Demgegenüber wirkt die rundliche Maske der Frau wie ein Gegenpol – wären da nicht die wie Hörner aufgesetzten Gebilde, die ihr einen „teuflichschen Anschein“ verleihen. Die relativ warmen Farben des Bildes stehen in starkem Kontrast zur „sozialen Kälte“, die das Bild ausdrückt. Genau diese Ambivalenz im Ganzen, wie in den Details ist es, die fasziniert.
Die besondere Kunstfertigkeit Wunderlichs besteht nun darin, dass die Masken nicht etwa den Gesichtsausdruck der Figuren verdecken; vielmehr scheint ihre Funktion darin zu bestehen, Wesensmerkmale oder Charakterzüge der jeweiligen Personen stärker hervortreten zu lassen. Während der Mann eine gewisse Gelassenheit, ja möglicherweise Langeweile zum Ausdruck bringt – auch dadurch, dass er das Kinn mit der Hand abstützt -; scheint das Gesicht der Frau eine Spur von Enttäuschung zu enthalten, die sich aus der Augenpartie ablesen läßt. Dagegen wirkt das Kind mit der Zigarette im Mund geradezu abgebrüht – so als hätte es mit den beiden Erwachsenen – doch wahrscheinlich die Eltern – wenig zu schaffen.
Diese Deutung läßt den Schluss zu, dass der Maler ein familiales Ritual abbildet – angesiedelt zwischen Routine, (Selbst-)Zufriedenheit und Melancholie. Keine der Haltungen ist wirklich dominant; aber von jeder findet sich etwas im Bild. Durch den Kunstgriff der Maskierung wird genau dieser ambivalente Charakter der Bildaussage pointiert hervorgehoben. Das mögen der Bildbeispiele genug sein, um zu zeigen, dass dieser Maler mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als ihm gewährt wurde.
Bildquelle: Screenshot Website Paul Wunderlich