Die vielen Nachrichten über antisemitische Ausschreitungen und die rasend schnell wachsende Zustimmung zur AfD machen mir Angst. Daran ändern auch die vielen Aufrufe zu einer Erinnerungskultur und mahnende Politiker Worte nichts. Persönlich glaube ich nicht an das Vorhandensein einer solchen Erinnerungskultur bei größeren Teilen unserer Bevölkerung. Am 8.Mai 1945 wurde einfach ein Schlussstrich über die Untaten im Namen Deutschlands gezogen. Gedanklich wurde ein Mantel des Vergessens und Verschweigens ausgebreitet, die Täter erhielten mit wenigen Ausnahmen Generalabsolution. Der erste Bundeskanzler, Konrad Adenauer, der kein Freund der Nazis gewesen war, erkannte, dass zu viele Deutsche in die braunen Machenschaften verstrickt waren, um überhaupt an eine umfassende und sofortige Aufarbeitung denken zu können. Der neue Staat konnte nur mit den alten Nazis eine Chance haben. Dies war jedenfalls die vorherrschende Meinung. Die Deutschen haben sich auch sprachlich eine künstliche Distanz zur kollektiven Schuld Deutschlands geschaffen: „Nazideutschland“ war der neue Begriff, der es ermöglichte, eine Minderheit der Bösen gegenüber der großen Mehrheit der Unschuldigen zu suggerieren. Vater, Mutter, Onkel und Tante, die die Nazis in einer demokratischen Wahl an die Macht gebracht hatten, konnten sich selbst auf diese Weise zu Unschuldslämmern stilisieren. Die Generation der bei Kriegsende erwachsenen Deutschen hat sich nie innerlich diesen Verbrechen Deutschlands gestellt und sie an sich heran gelassen. Das Morden in Auschwitz und Treblinka blieb so etwas ganz und gar Abstraktes, wofür man in keiner Weise verantwortlich gemacht werden konnte. Genau dieser Umstand hat verhindert, heute von einer glaubhaften Erinnerungskultur reden zu können.
Ich gestehe deshalb, dass mir all die sicher gut gemeinten Aufrufe vorkommen, wie das Pfeifen im dunklen Wald. Die ungebremst wachsende Zustimmung zur AfD ist der Beweis für das Fehlen einer Erinnerungskultur. Meine eigene neun Jahre ältere Schwester, die die Schrecknisse des Krieges und die Opfer der Vertreibung und der Bombenangriffe in vollem Bewußtsein erlebt hat, bekennt sich zur AfD. Wir Deutschen haben offensichtlich wieder eine Sehnsucht nach Abschaffung der Demokratie. Niklas Frank, der Sohn des „Schlächters von Polen“, hat die Untaten seines Vaters im Generalgouvernement Polen und dessen schier unglaubliche Verlogenheit in Büchern analysiert. Zu dieser damaligen und heutigen Verlogenheit zu den Verbrechen Deutschlands hat er sich ein Denkmal anfertigen lassen, das er in seinem Garten aufgestellt hat und auch zur Vermietung anbietet: Ein drei Meter hohes in den Farben Deutschlands gestrichenen Krokodil, das eine riesenhafte Träne weint. Ich bin gespannt, wie viele Interessenten sich das Mahnmal für eine wirkliche Erinnerungskultur mieten werden.
Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-86686-0008 / CC-BY-SA 3.0