Gestern Abend saß ich im Bonner Opernhaus, wo ich mit einer Gruppe VHS-Teilnehmer und einigen Freunden die Orchesterhauptprobe von Figaros Hochzeit beiwohnen durfte. Unmittelbar davor hatte ich die Gruppe durch einen Vortrag in das Thema eingeführt.
An und für sich nichts Besonderes für jemanden, der – wie ich- im Kulturbereich und in der Sprachvermittlung arbeitet.
Ausschlaggebend dabei war für mich die Deutung, die Aron Stiehl, der Regisseur der Bonner Inszenierung (Premiere am Sonntag, 28. Januar), dem Stück gegeben hat: er spricht dabei von einer Gesellschaft, die sich an der Schwelle einer Umbruchs-Zeit befindet, die an die alten Werte und Regeln nicht mehr glaubt und diese in Frage stellt, aber keine neue Werte gefunden hat, die die alten ersetzen und Anhaltspunkte für das eigene Verhalten und die Stellung im Leben liefen können.
Aus dieser Feststellung zieht er den Schluß, dass die von Mozart und Da Ponte an den Pranger gestellte Gesellschaft Ähnlichkeit mit unserer heutigen hat.
Und genau in diesem Punkt kann ich ihm, den ich für kompetent und sympathisch halte, nicht mehr folgen: wir alle auf dem alten Kontinent haben doch eine gemeinsame Geschichte, die lange Zeit, leider, grausame Züge hatte, die uns aber gemeinsame Werte und Ansichten liefert.
Diese werden heute vom Geist der Europäischen Union und ihren Institutionen verkörpert und sind an erster Stelle Frieden, Solidarität und Gerechtigkeit. Worte, die nur an die große Glocke gehängt werden?
Seit 70 Jahren kein Krieg in Europa
Nein, dank dieser Werte gibt es keine Kriege seit siebzig Jahren in Europa. Basierend auf den Prinzipien von Solidarität und Gerechtigkeit hat die EU sich damals in den Jugoslawien-Konflikt „eingemischt“ und einen nicht kleinen Beitrag zum Friedensprozess geleistet.
Und das wäre nicht möglich gewesen, zumindest nicht in dem damaligen Ausmaß, wenn Deutschland sich in dieser Sache nicht so entschieden hätte, wie es entschieden hat: Verantwortung zu übernehmen, auch militärisch, um Frieden zu stiften und die lange Zurückhaltung aus Scham und den Schuldgefühlen wegen der braunen Vergangenheit aufzugeben.
Diese Werte werden kontinuierlich durch die zahlreichen Kultur-und Austauschprogramme der EU in 33 Ländern Europas weiter verbreitet, wie das schon dreissigjährige Erasmus-Programm.
Und gäbe es kein Erasmusprogramm wäre ich heute eine andere, viel blassere Person.
Kein Deutsch als Zweitsprache
Wahrscheinlich hätte ich kein Deutsch als Zweitsprache, keinen deutschen Ehemann, keine zweisprachigen und evangelisch getauften Kinder, keine finnische Schwägerin, keinen koreanischen angeheirateten Neffen und würde nicht in diesem Blog schreiben.
Wahrscheinlich wäre ich nicht eine unter vielen vom BAMF-zugelassenen Lehrern für Deutsch als Fremd-und Zweitsprache und damit erste Anlaufspunkt und Brücke zwischen der deutschen Kultur und den vielen Ausländern und Migranten, die immer noch – trotz der unverantwortlichen Sperre der Mittelmeerroute – den deutschen Boden erreichen.
Dem größeren Kreis meiner Familie würde nicht Klaus Vogel angehören, der Schiffskapitän, der seinen Job bei Hapag-Lloyd an den Nagel gehängt und SoS Mediteranee mit gegründet hat.
Und die Geschichte geht natürlich weiter mit den Kindern der deutsch-koreanischen oder deutsch-finnischen Paare aus unserer Familie.
Heute würde ich nicht in vielen, sehr unterschiedlichen Kreisen der Bundesstadt Bonn verkehren und das Flair und das Bewusstsein dieser Stadt miterleben, die fabelhaft den Verlust des Ranges einer Hauptstadt hat meistern können und heute mehr denn ja boomt.
Menschen aus vielen Kulturkreisen
Während des Studiums habe ich in meinem Münchener Semester zum ersten Mal im Leben die Möglichkeit gehabt, mit Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen in Kontakt zu kommen, zum Teil intensiv, weil wir zusammenwohnten.
Darunter auch mit Alex Ahrendtsen, heute Abgeordnete im dänischen Parlament für die Volkspartei, damals junger, großzügiger und toleranter Literatur-und Teologiestudent, der mich beim Lagerfeuer und zu viel Bier immer als Anarchistin bezeichnet hat.
Heute, nachdem wir beide den fünfzigsten Geburtstag und viele Erfahrungen hinter uns haben, trennen uns politische Welten. Nichts desto trotz kommen wir selten, aber immer wieder, in Kontakt und tauschen wir uns ganz ruhig über unsere verschiedene Ansichten und unsere Idee Europas aus.
Begegnungen und Erfahrungen
Diese Begegnungen und Erfahrungen haben mich unheimlich bereichert, haben aus mir eine in der Gesellschaft privilegierte und geschätzte Person gemacht, die gelernt hat zuzuhören, bevor sie andere Ansichten kritisiert. Sie haben mich mit dem Werkzeug der Bildung ausgerüstet und ermöglicht, dass aus mir eine selbstbewusstere Person mit einer klarer Identität wurde.
Und das alles habe ich der Europäischen Union und ihrem geistigen Kern zu verdanken.
Meinen heutigen Beitrag widme ich den jungen Erasmusstipendiaten, die ihr Leben infolge eines Busunfalls während ihres Auslandssemesters 2016 in Spanien verloren und sicherlich an die gleiche Idee Europas wie ich glaubten.
Bildquelle: Wikipedia, (Marc Imhoff of NASA GSFC and Christopher Elvidge of NOAA NGDC. Image by Craig Mayhew and Robert Simmon, NASA GSFC. – NASA Visible Earth cropped from Image:Earthlights dmsp.jpg by Luestling 14:17, 22. Mai 2005), gemeinfrei