Ich habe unterschrieben, weil ich finde, dass es höchste Zeit für einen Weckruf ist. Man muss es so deutlich sagen: Wir befinden uns in einer verhängnisvollen Drift in einen Krieg, der am Ende nicht auf die Ukraine und Russland zu begrenzen ist. Das spüren viele – auch unter denen, die seit Tagen so ungestüm gegen die Erstunterzeichner agitieren. Eine Welle, wie sie das Manifest der SPD-Friedenskreise ausgelöst hat, entsteht nur, wenn ein wunder Punkt getroffen wurde. Schon das zeigt, wie richtig seine Veröffentlichung war. Ein breiter hörbarer Widerspruch gegen die zunehmende Dominanz der Rüstungs-Apologeten war lange nicht zu vernehmen. Jetzt haben binnen weniger Tage über 10.000 Bürgerinnen und Bürger ihre Unterschrift unter das Manifest gesetzt. Übrigens nicht aus einer Partei an eine Parteiführung, sondern von Menschen unterschiedlicher politischer Überzeugungen an die Regierenden.
Ich unterstelle keiner Politikerin und keinem Politiker in unserem Land, Krieg zu wollen. Ich beobachte aber ein Sich-fügen in eine Logik, nach der eine Beilegung des Krieges in der Ukraine die Ausweitung über den derzeitigen Brandherd hinaus geradezu erfordert. Der Umgang mit dem Manifest der SPD-Friedenskreise bestätigt mich in dieser Beobachtung. Das Manifest gibt weder vor, ein Patentrezept zu kennen, noch verschweigt es die Realität, dass der Krieg in der Ukraine eine völkerrechtswidrige Aggression Putins ist und die völkerrechtlichen Ansprüche der Ukraine Geltung haben. Die Verfasser weisen darauf hin, dass „eine verteidigungsfähige Bundeswehr und eine Stärkung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit notwendig sind“. Es geht, so steht es im Titel des Manifests, um „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“.
Wer sich nicht die Mühe macht, den Text zu lesen, sondern sich auf die Berichterstattung darüber stützt, muss zu einem ganz anderen Urteil kommen. Aus der Verknüpfung von Verteidigungsfähigkeit und dem unablässigen, sanktionsbewehrten Drängen an die Adresse Putins, den Krieg zu beenden und „nach dem Schweigen der Waffen“ wieder ins Gespräch zu kommen, wird eine einseitige Anbiederung an einen Aggressor. Nicht einmal vor diskreditierenden, ja sogar beleidigenden Bemerkungen wird Halt gemacht. Kann es sein, dass dieser Beißreflex Ausdruck des unausgesprochenen, bitteren Eingeständnisses ist, keinen Ausweg aus der Sackgasse zu erkennen, in die man gerade beherzt hineinfährt?
Boris Pistorius spricht von Realitätsverweigerung der Manifest-Verfasser. Schichten wir die Realität doch einfach einmal ganz rational ab:
Die derzeitige Lage an der ukrainisch-russischen Front und im ukrainischen Hinterland ist nichts anderes als ein seit drei Jahren anhaltendes Ausbluten, im Fachjargon beschwichtigend „Abnutzungskrieg“ genannt. Ist es Realitätsverweigerung zu befürchten, dass das zigtausendfache Sterben auf beiden Seiten, die fortschreitende Zerstörung ukrainischer Städte, dazu Flucht, Vertreibung und Tod unzähliger Zivilisten noch viele Monate, womöglich Jahre weitergehen – im Zweifel mehr und mehr zum Nachteil der Ukraine? Ist es Realitätsverweigerung, wenn man dazu nur eine Alternative erkennt, die auf Deeskalation setzt: das von Rolf Mützenich ins Spiel gebrachte „Einfrieren“ des Krieges, also ein Waffenstillstand unter vorläufiger Hinnahme des Status Quo? Dagegen gab es eine Welle der Empörung. Zweifellos wäre ein solches Einfrieren eine Zumutung in den Augen vieler, vor allem junger Menschen, ganz besonders aber der gebeutelten ukrainischen Bevölkerung nach so vielen Verlusten. Dass Putin auch nur mit dem geringsten Erfolg aus diesem Krieg herauskommen könnte, ist in der Tat eine unerträgliche Vorstellung. Deshalb ist deren Entrüstung zu verstehen. Es ist aber gerade Aufgabe verantwortungsbewusster Politik, nicht einfach den Emotionen zu folgen, sondern nach Lösungen zu suchen, wie das Sterben gestoppt werden kann. Wer die Fortsetzung des „Abnutzungskrieges“ für unverantwortlich hält und das Einfrieren für unzumutbar, der muss sagen, was ansonsten die Konsequenz ist. Die Fokussierung auf eine weitere Aufrüstung einer schon hoch gerüsteten NATO allein ist es nicht. Das bestehende Drohpotenzial der NATO hat Putin bisher von keiner Attacke abgehalten. Auch die weitere Aufrüstung wird Putin nicht zu der Einsicht bewegen, sich vergaloppiert zu haben und die Besatzung der Ostukraine aufzugeben. Konsequenterweise müsste dann ein Teil der Rüstungsmehrausgaben durch die Ausweitung des Krieges auf Russland zur Anwendung kommen, und das würde die Kriegsgefahr über die beiden Staaten hinaus extrem erhöhen. Ist diese Befürchtung unrealistisch?
Deutschland hat sich in einem „exekutiven Akt“, also ohne Debatte im Bundestag, darauf eingelassen, als einziger Standort für neue US-Mittelstreckenraketen zu dienen – im Rhein-Main-Raum, einem der am dichtesten besiedelten Gebiete Zentraleuropas. Die geplante Stationierung gilt als Antwort auf die Stationierung russischer Raketen in der Region Kaliningrad. Ist es eine falsche Wahrnehmung, dass eine dünn besiedelte russische Exklave, umgeben von EU-Gebiet, und die Rhein-Main-Region mit Millionen Einwohnern nur gemeinsam haben, dass beide Standorte jeweils weit von den Kerngebieten Russlands und der USA entfernt sind? Das Risiko ballt sich mitten in Deutschland.
Streiten – aber mit Respekt voreinander
Es gehört zur Wahrheit dazu, dass Olaf Scholz und andere Regierungschefs schon einige Versuche unternommen haben, Russland an den Verhandlungstisch zu holen. Ebenso wahr ist, dass Putin nie ernsthaft auf Verhandlungswünsche eingegangen ist und sich in der Vergangenheit als alles andere als vertragstreu erwiesen hat. Ich bleibe aber dabei: Wer die Realität nicht verweigern will, dass die einzige Alternative zu Abnutzung und Einfrieren eine unabsehbare kriegerische Eskalation wäre, der sollte nicht wahlweise wutentbrannt oder mit Häme reagieren, wenn besorgte Bürgerinnen und Bürger mit vielerlei Erfahrungshintergründen einen Diskussionsbeitrag leisten und eine Debatte einfordern. Betroffen sind wir alle! Die Jüngeren mehr noch als wir Alten.
Wie einfach wäre es gewesen, wenn in Berlin eine/r gesagt hätte: Wir haben zwar immer auch den Dialog gesucht, den Putin leider jedes Mal hintertrieben hat. Aber der Fokus der letzten Zeit lag auf Sondervermögen, auf immer größer werdende Prozentanteile der Wirtschaftsleistung für Rüstungsgüter, auf die vollständige Aufhebung des Schuldendeckels für Rüstung, auf Begriffe wie „Kriegstüchtigkeit“ und auf die Abkehr von einer langfristigen Sicherheitspartnerschaft mit Russland zu einer gegen Russland. Dieser Fokus und die oft zwischen den Zeilen erwähnte Abwertung von Willy Brandts Entspannungspolitik als aus der Zeit gefallen, hat den Eindruck entstehen lassen, dass es nur noch um Abschreckung und hunderte Milliarden schwere Rüstungsinvestitionen geht, die an anderer Stelle dringend benötigt würden. Den weiteren Einsatz für Verhandlungen haben wir demgegenüber vernachlässigt. Das macht vielen Sorgen. Das werden wir korrigieren.
Stattdessen erleben wir eine organisierte Wagenburg mit dem Ergebnis, ganze Teile der Basis, die Willy Brandt für die SPD als eine mehrheitsfähige Volkspartei mobilisiert hat, als senile Friedensträumer*innen abzuwerten. Das sind die Zutaten für eine verhängnisvolle Politik und zugleich für eine weiter schrumpfende SPD.
Es gibt Lehren aus der Geschichte, die auch unter veränderten Bedingungen ihre Gültigkeit behalten. Ich würde sehr dazu raten, wieder die vielen vorhandenen Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen, aber auch richtig heftig zu streiten – mit Respekt vor der anderen Meinung. Dafür gibt es in einer so existenziellen Frage auch weiterhin genügend Stoff. Ich unterstelle denen, die eine Rüstungsspirale für unabwendbar halten, ohne Ansehen der Parteizugehörigkeit keine Lust am Dritten Weltkrieg – auch wenn mir ihre Haltung große Sorgen macht. Aber unterstellt den Kritikern daran bitte auch keine Lust, sich Putin unterwerfen zu wollen! Die Verantwortung wird am Ende nicht bei einer Seite allein liegen.
MANIFEST – BORJANS
Der Stellungnahme von Herrn Borjans ist nur zuzustimmen.
Die Bundesrepublik schlittert immer mehr durch die Verantwortlichen in ein Chaos.
Klingbeil und Gefolge sind viel zu jung, um diese Tragweiten zu beurteilen.
Da sind die JUSUS noch verantwortungsvoller, weil sie progressiv sind und richtige Analysen aufweisen.
Es ist nur zu hoffen, dass der SPD-Parteitag gegen den Rüstungswahnsinn mehrstimmig Erfolg hat.
Wir haben jegliche Führungen Ukraine, Europa, … eben aus Geschichtsgründen abzulehnen. Als Hauptverursacher
von 60 Millionen Kriegstoten sollten endlich die Alarmglocken läuten und Zurückhaltung gelten!
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich halte Putin und sein Regime für korrupte Verbrecher.
Allerdings gilt das Gleiche für unsere westlichen Herrschaften.
Die ganze Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine – dass diese zum großen Teil Jahrhunderte zu Russland gehört hat und erst seit 1990 ein unabhängiger Staat ist, dass der Krieg bereits seit 2014 im Donbass tobt, nachdem ein von den NATO-Staaten wohlwollend begleiteter, auch von faschistischen Gruppierungen getragener Putsch die damalige Regierung beseitigt und die daraufhin installierte Regierung die russischsprachigen Bevölkerungsteile zu diskriminieren begann usw. – soll hier nicht noch einmal ausgeführt werden; all dies ist lange bekannt, wenn es auch immer wieder gerne vergessen bzw. unterschlagen wird. Dass „der Westen“ mit zweierlei Maß misst und für Putin und Konsorten jetzt Tribunale fordert, nicht aber für George W. Bush, der zwei Angriffskriege in Afghanistan und Irak geführt sowie die Konzentrations- und Folterlager in Guantanamo und anderswo installiert hat, wofür mit aller Härte nicht er und seine Komplizen, welche „Beweise für Massenvernichtungswaffen“ gefälscht haben, verfolgt und bestraft werden, sondern Whistleblower wie Julian Assange, Chelsea Manning und Edward Snowden, die es gewagt haben, US-amerikanische Kriegsverbrechen publik zu machen; dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker hierzulande gern beschworen wird, wenn es darum geht, konkurrierende Staaten wie die Sowjetunion oder Jugoslawien zu destabilisieren und zu vernichten, wohingegen aber die Katalonen, die es wagen, von Spanien (einem Verbündeten!) Unabhängigkeit erlangen zu wollen, als Hochverräter behandelt werden – all das ist nicht Neues. Und so sieht es leider aus: In diesem Krieg konkurrieren nicht „der böse Russe“ und „der freie Westen“, sondern zwei (gar nicht so) verschiedene militärisch-industrielle Komplexe.
Im Krieg verlieren nicht nur die ukrainischen und russischen Menschen, die dort sterben oder zu Killern werden; fast alle Menschen weltweit leiden darunter, nicht nur durch steigende Preise; und nicht nur das politische Klima wird weiterhin und schlimmer als jemals zuvor vergiftet.. Profitieren tun nur die Rüstungsindustrie durch enorm gestiegene Nachfrage sowie gewisse Energiekonzerne, die jetzt ihre alten Atommeiler und Kohlekraftwerke wieder reaktivieren können. Daher: Schluss jetzt mit dem Krieg! Keine weiteren Waffenlieferungen, sondern sofortiger Waffenstillstand und ergebnisoffene Verhandlungen! Die von Russland besetzten und annektierten Ostgebiete der Ukraine sollten zunächst (wie die Krim seit 2014) bei Russland verbleiben und ein freiwilliger Bevölkerungsaustausch (zwischen „Ukrainern“ dort und „Russen“ anderswo in der Ukraine) organisiert werden; die Infrastruktur (Wohngebäude u.v.m.) ist ohnehin schwer zerstört und muss erst wieder aufgebaut werden, und bald sollten ohnehin (nicht nur dort) die ansässigen Menschen selber entscheiden dürfen, zu welchem Land sie gehören und von wem sie wie regiert werden möchten – sofern sie sich nicht lieber selbst regieren wollen.
Auch ich habe das Manifest für Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung gleich zu Anfang unterschrieben. Die heftige, teils giftige Reaktion in der Öffentlichkeit zeigt mir, wie notwendig dieser Anstoß zur Debatte ist – in der SPD und darüber hinaus. Es ist ein Fehler, zu erwarten, dass unbegrenzte und unbedachte Aufrüstung mehr Sicherheit schafft. Im Gegenteil könnte sie sogar zu einem Präventivkrieg oder einem Atomschlag aus Versehen führen. Eine zukünftige Politik für nachhaltige Sicherheit braucht eine Mitdenken darüber, welche Mittel und Instrumente für Verteidigung und welche Mittel und Instrumente für Friedenssicherung benötigt werden. In der SPD gibt es dazu Sachverstand und eine gute Tradition, die einige vergessen möchten und andere aus gutem Grund mit dem Manifest deutlich aufrufen. Denk- und Sprechverbote schaden. Da ich nicht nur ü-60, sondern sogar ü-80 bin, habe ich noch in böser Erinnerung, wie auch Willy Brandt für seine neue Ostpolitik als Vaterlandsverräter beschimpft wurde.
Genau diese Erinnerung an die Verunglimpfung der Verständigungspolitik von Willy Brandt kam bei mir jetzt auch wieder auf. Nur dass diesmal auch führende SPD Mitglieder zum Mittel der persönlichen Herabwürdigung greifen, lässt mich Böses ahnen. Ich war lange in der Partei und habe in Münster in der Friedensbewegung aktiv gearbeitet.
Wege des Friedens und der Freundschaft muss man gehen, sonst wachsen sie zu. Aus meiner Beobachtung hat die deutsche und europäische Politik in den zurückliegenden Jahren hier katastrophal versagt. Jetzt haben wir eine Eskalation, von der ich nicht weiß, wo sie endet. Ich möchte mich gegen einen Angriff wehren können. Was dazu notwendig ist, kann ich nicht beurteilen. Ich möchte nicht, dass die Lage weiter eskaliert und ich möchte in einem friedlichen Europa leben. Hierzu wird man immer fort und immer während verhandeln müssen und aufeinander zugehen müssen. Das ist doch klar! Und mit dem Manifest wird im Grunde nichts anderes gefordert.
Dass eben dieses Verhandeln und aufeinander zugehen, trotz aller Schwierigkeiten, nicht (mehr) stattgefunden haben soll, macht mich sehr wütend und ich muss mir wirklich überlegen, ob ich nach 50 Jahren noch in der SPD bleiben kann, in die ich wegen Willy mal eingetreten war!!
Das Manifest hat heftige Reaktionen in der SPD ausgelöst, weil man sich wohl „ertappt“ fühlt. Ich hoffe, dass es auf dem anstehenden Bundesparteitag der SPD eine Politikkorrektur einleitet.