Boris Johnson triumphiert. Allerdings kann sein Erfolg in den britischen Parlamentswahlen einen bitteren Preis haben. Nicht weniger als der Bestand des Vereinigten Königreichs steht auf dem Spiel.
Der Premierminister kann fortan durchregieren. Im neuen Unterhaus haben seine konservativen Torys die absolute Mehrheit errungen. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union wird aller Voraussicht nach zum 31. Januar vollzogen werden. Danach beginnen die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen London und Brüssel. Sie bieten noch eine Fülle von Fallstricken, die das bisherige Brexit-Tauziehen im Nachhinein als Kinderspiel erscheinen lassen.
Der nun in ordentlichen Wahlen im Amt bestätigte britische Premier wird versuchen, für sein Land den größtmöglichen Profit herauszuschlagen: alle Vorteile des Binnenmarktes, aber keine Verpflichtung auf Umweltstandards, Arbeitnehmerrechte und Steuerregeln. Die EU muss darauf bedacht sein, nicht durch allzu komfortable Abkommen neue Fliehkräfte zu wecken und eine Welle von Nachahmern zu produzieren. Die Erleichterung, mit der die Europäer während ihres Gipfels auf die britischen Wahlergebnisse reagierte, ist zumindest kurzsichtig. Die Gefahr eines Scheiterns schwelt weiter.
Nationalisten und Populisten, die um ihrer persönlichen Macht willen die EU zum Feindbild erheben und ihre jeweiligen Bevölkerungen gegen das historische Einigungswerk aufbringen, gibt es in den verbleibenden 27 Mitgliedsländern zuhauf. Sie werden sich durch Johnsons Wahlerfolg in ihrem europafeindlichen Kurs ermutigt fühlen. Ihre Angriffe auf die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundwerte drohen noch dreister und schamloser zu werden, und die neue Kommission mit Ursula von der Leyen an der Spitze muss erst noch zeigen, dass sie diesen Herausforderungen gewachsen ist.
Historisch betrachtet ist es umso unverständlicher, dass die demokratiefeindliche Entwicklung ausgerechnet in Großbritannien bei so vielen Wählern verfängt; die Hinweise auf die Schwächen des Mehrheitswahlrechts sind richtig, aber müßig. Die Brexit-Bewegung hat das politische System an seine Grenzen gebracht. In der tiefen Zerrissenheit des Landes haben die Konservativen gewonnen, obwohl ihr Spitzenmann Johnson ein ausgemachter Schurke ist, obwohl er es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, obwohl er unhaltbare Versprechungen macht und nur den wenigen Profiteuren dient, die sich am Brexit bereichern werden.
Für die einfachen Leute, die schon jetzt unter massivem Sozialabbau und vertiefter Spaltung leiden, kann der EU-Austritt nur zusätzliche Nachteile bedeuten. Privilegierte Handelsbeziehungen, wie sie US-Präsident Donald Trump in Aussicht gestellt hat, sind ein ebenso vergifteter Köder wie die Beschwörung vergangener Commonwealth-Pracht. Die Geldgeschenke, mit denen Johnson Nordirland und Schottland ruhigstellen will, reichen als Kompensation für die zu erwartenden Nachteile bei weitem nicht aus.
Schottland hatte sich schon beim Referendum klar gegen den Brexit gestellt, und der Wahlerfolg der Schottischen Nationalpartei hat diese Haltung nachdrücklich bekräftigt. Die schottische Regierung hat gar keine andere Wahl, als erneut eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von London zu beantragen. Auch Nordirland hat 2016 mehrheitlich gegen den Brexit votiert und sieht sich von Johnson in seinen Verhandlungen mit Brüssel verraten. Die Bewegung, die eine Vereinigung mit Irland anstrebt, dürfte erstarken.
Der Frieden nach Jahrzehnten des blutigen Bürgerkriegs war nur möglich geworden, weil Großbritannien und Irland der EU angehörten. Ohne das gemeinsame Dach droht ein Wiederaufbrechen des Konflikts. Die destruktive Kraft des Brexit ist in ihrer ganzen Tragweite noch nicht erkennbar. Jeremy Corbyn hat mit der Labour-Opposition die Gefahren nicht entschieden bekämpft, sondern seinerseits mit den anti-europäischen Ressentiments gespielt. Die klare Wahlniederlage leitet das Ende seiner politischen Karriere ein. Folgerichtig mit Blick auf seinen Brexit-Schlingerkurs, wegen seiner sozialpolitischen Programmatik allerdings ein Verlust.
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