Wenn wir nicht wissen, woher wir kommen, wissen wir auch nicht, wohin wir gehen, schrieb einst Simone de Beauvoir. Als vor kurzem die letzte Steinkohlenzeche schloss, erinnerte mich dies unwillkürlich an den Niedergang der Werften, in deren Nähe ich aufwuchs. Lange Zeit habe ich mir über meine Herkunft wenig Gedanken gemacht. Man wurde in ein bestimmtes Milieu hineingeboren und lebte darin, wie alle anderen auch. Das ist fast natürlich. Ich wuchs in einer Arbeitersiedlung vor den Nordseewerken und der Staatswerft in Emden auf; direkt an einer Kreuzung, die zu den beiden Werften führt. Die Häuser der Siedlung allesamt schmutzig-grau von Ruß und Staub.
Es handelte sich um Werkswohnungen. Wir wohnten mit neun Personen auf engstem Raum. Es war die unmittelbare Nachkriegszeit. Gegen spätere Mythen (Wirtschaftswunder), sollte man diese Zeit eher nüchtern bilanzieren. In meinem Gedichtband Selbstgespräche heißt es im Poem Nachkriegszeit oder Biographie der Dinge:
Nach dem großen Krieg / als die Städte in Trümmern lagen / hatten viele es eilig / Geschehenes vergessen zu machen / Man wollte nichts mehr sein / als nur noch Mensch / in jenen Tagen / als alles zu Ende schien / Von der Schmach gezeichnet / schien es nur Besiegte zu geben / Stumme Zeugen mit verwundeten Seelen / und leeren Gesichtern / Verlierer allesamt / nicht Täter und nicht Opfer / Lauter Sprachlose.
Doch bald schon / schickten einige der Geschlagenen / ihre Kundschafter aus / das neue Terrain zu vermessen / und wieder andere begannen das allen Sichtbare zu verklären / Wir wuchsen auf in einer Zeit / flinker Hände und ohne Erinnerung / Die emsigen Verkünder neuer Tugenden / leisteten viel in jenen Tagen / Ein Kompromisspapier musste her/ das vieles offen / oder unverbindlich ließ / Wichtiges wurde vertagt / und der unschuldige Refrain / übertönte das Kippengemurmel / Im Echo der Einigkeitsgesänge ging schnell unter / dass nicht für alle der gleiche Eintrittspreis galt.
Die noch eben ihre Fabriken / gegen Demontagen verteidigt hatten / fanden sich bald darauf als Fußvolk wieder / Unter dem Kommando ihrer alten Herrn / Für sie gab es keine Wunder / Wieder öffneten sich / auf das Sirenengeheul hin /die Fabriktore / saugten die Gebeugten auf / in ihr Stoppuhrrevier / und spuckten sie wieder aus / nach vollbrachtem Werk.
Zur Allejahrewiederfeier / dem Aufmarsch der Schwielenfäuste / gesellten sich eifrige Buchhalter der Sonnenbilanz / und stimmten sie ein in den Chor des Fortschrittsgesangs / in den sich keine Misstöne mischten an diesem Tag / Zwar glaubten viele noch immer nicht an Wunder / aber müde von der Plackerei war ihnen nach Ausruhen / unter dem Laubdach des Alltagsbaums / An eines glaubten sie allerdings unerschütterlich / all die, die nach ihnen kommen sollten es einmal besser haben als sie.
In der Siedlung lebten alle so wie wir. Man war unter sich. Hinter den Häusern gab es Äcker. Einige hatten Ställe mit Kaninchen oder Tauben. Neben den Umzäunungen gab es Wiesen, Schilf und später eine Sandfläche, die wir als Bolzplatz nutzten. Hinter unserem Haus ein Schuppen. Ein blinder Plankenzaun mit Holztor. Davor ein Gang, den der Nachbar als Hühnergasse benutzte: morgens und abends trieb er seine Hühner hindurch. Man lief durch die Ackerfurchen zum Sandplatz. Hier bauten wir Sandhöhlen oder spielten Fußball. Einen Ball hatten wir lange Zeit nicht. Gespielt wurde mit Stoffballen oder Blechdosen. Man hatte überhaupt so gut wie nichts. Umso mehr war die Phantasie gefragt. Wir mussten uns was einfallen lassen.
Wenn es eben ging, spielten wir draußen. Im Hintergrund die Geräusche der Werft, dumpfes Hämmern klang von den Docks herüber. Man hörte das Quietschen der Kräne, die als riesige Ungeheuer vor dem Horizont aufragten. Klanghörner meldeten die ein- und auslaufenden Schiffe.
Die Werft war verbotenes Terrain für Kinder. Es war die Welt der Männer. Der Opa hatte schon hier gearbeitet. Als Schmied. Dann der Vater und die beiden älteren Brüder. Als Schlosser. Als ich in der Schule nach dem Beruf des Vaters gefragt wurde, habe ich einmal Schiffbauer geantwortet. Das klang mir dann doch geheimnisvoller als Schlosser.
Auf der Staatswerft wurden Reparaturarbeiten verrichtet. Schiffe, aber auch Bojen, die der Markierung der Seewege dienten, wurden hier entrostet und frisch gestrichen. Auf dem sog. Tonnenhof. Riesige Tonnen lagen hier. Schwarz-rot oder schwarz-grün gestrichen. Die Farben für Backbord und Steuerbord.
Eine Straße führte durch unsere Siedlung zu den Nordseewerken. Auf dieser Werft wurden Mitte der fünfziger Jahre richtig große Schiffe gebaut. Über fünftausend Arbeiter waren zu dieser Zeit hier beschäftigt. Morgens und abends
wälzte sich der Strom der Arbeiter dahin wie magisch angezogen und abgestoßen vom Heulen der Werftsirenen. Wer zu einer der Werften wollte, musste an dem Haus vorbei, in dem wir wohnten. Genauer gesagt: Er musste meinen Opa passieren. Ich sehe ihn noch sitzen. Hinter der halb geschlossenen Gardine. Auf seinem Thron. Einem bequemen Lehnstuhl. Mittags und am späten Nachmittag: Die Mütze auf dem Kopf. Ick mutt mien Parade offnehmen, pflegte er zu sagen. Die Werftarbeiter hatten ihre Mittagspause oder Feierabend. Sie strömten eilig und in Scharen am Haus vorbei. Fast alle schauten hoch zu meinem Opa und grüßten. Einige legten die Hand an die Schirmmütze. Salutierten gewissermaßen. Opa grüßte zurück. Huldvoll, majestätisch. Grüßte einer etwa nicht, bekam dieser sein Fett weg. Nun kiek hum, de Aap. Bemerkte der sein Missgeschick dann doch noch, kam das erlösende: Aha, dat wull ick ook meenen.
Mein Opa hat mich politisch sehr geprägt. Er war im Ersten Weltkrieg bei Verdun schwer verwundet worden und hat nur durch Zufall überlebt. Er hasste seither das Militär. Gemeinsam hörten wir Mitte der 50er Jahre die Debatten über die Wiederaufrüstung auf seinem Volksempfänger, auf dem ein kleiner blauer Strich den ehemaligen Feindsender markierte. Er nahm mich mit zu den Aufmärschen am 1. Mai, an denen damals Tausende teilnahmen. Vorneweg die Feuerwehrkapelle, und zum Abschluss wurde das Brüder zur Sonne, zur Freiheit gesungen, was mir jedes Mal unter die Haut ging.
Ein Großereignis war jedes Mal ein Stapellauf auf der Werft. Nach der obligatorischen Schiffstaufe wurden die Halterungen des Schiffes gekappt, und das Schiff rutschte langsam, ächzend und quietschend ins Wasser. Gelang das Manöver, brandete Beifall auf; Blasmusik ertönte, und es wurde ausgelassen gefeiert. Ein misslungener Stapellauf galt dagegen als schlechtes Omen. So geschehen beim Stapellauf der „Melanie Schulte“ im Jahre 1952. Das Schiff lief nicht von der Helling und blieb stundenlang auf der Ablaufbahn stecken. Auf der ersten Reise gab es kleinere Probleme. Und auf seiner zweiten Reise, auf der das Schiff Erz geladen hatte, ist es aus bis heute ungeklärten Ursachen gesunken. Man wusste nicht einmal wo genau. Es war einfach verschwunden. Fünfunddreißig Seeleute kamen dabei um. Wochenlang wurde in der Stadt von nichts anderem gesprochen. Derartige Ereignisse setzen sich im kollektiven Gedächtnis fest. Als später meine beiden älteren Brüder auf Schwesterschiffen dieser Reederei zur See fuhren, schwang die Erinnerung an den Untergang der „Melanie Schulte“ stets mit.
Auf dem Werftgelände der Staatswerft hatten einige der Arbeiter ihre Äcker, auch mein Vater. Nach Feierabend durften wir in Begleitung der Erwachsenen auf das Werksgelände. Dann kam man nahe heran an die Docks. Aus der Kinderperspektive kam uns alles riesig vor. Die Kräne. Die Schiffe selbst. Natürlich kletterte man darauf herum. Im Sommer sprangen wir ins Hafenbecken. Gelegentlich nahm Vater mich in die Werkshallen mit. Alles roch nach Öl und kaltem Rauch. Ich träumte davon, später einmal dort zu arbeiten.
Oft holte ich ihn von der Arbeit ab. Ich war froh, wenn ich ihn ankommen sah in seinem Arbeitsanzug, dazu die Schirmmütze, unter dem Arm ein Päckchen mit Abfallholz, das wir als Brennholz nutzten. Es war ein schöner Moment. Immer auch mit ein wenig Angst verbunden. Die Arbeit auf der Werft, vor allem auf den Docks, war nicht ungefährlich. Es kam des Öfteren zu Arbeitsunfällen. Vor allem in der Vorweihnachtszeit, wenn die Arbeiter viele Überstunden machten. Im Winter gab es Glatteis, aber auch Brände beim Schweißen. Der Vater eines Spielkameraden erlitt einen tödlichen Unfall. Und mein Vater verlor ein Auge durch herumfliegende Stahlsplitter.
Solange wir unter uns waren in der Siedlung, vermisste man nichts. Es ging uns allen gleich. Erst in der Schule änderte sich das. Man verglich sich mit den Kindern, die aus höheren Schichten kamen. Auch konnte es vorkommen, dass man gehänselt wurde, weil man die Kleidungsstücke der älteren Geschwister auftrug oder das ganze Jahr in Gummistiefeln herumlief. Aber sobald wir wieder zu Hause waren, lebten wir in unserer eigenen Welt.
In den 50er Jahren war es nahezu undenkbar, dass ein Arbeiterkind auf eine höhere Schule kam. Die Oberschule, wie sie damals hieß, blieb weitgehend den Kindern von Ärzten, Rechtsanwälten oder Beamten vorbehalten. In meinem Fall riet meine damalige Klassenlehrerin trotz ziemlich guter Leistungen vom Besuch der Oberschule ab; der Junge würde ja doch nie studieren können. Damit war die Entscheidung gefallen. Was sollten meine Eltern dem entgegen setzen; sie fanden sich damit ab, und der Zehnjährige, der dies als ungerecht empfand, wurde gar nicht erst gefragt. Die frühe Selektion qua Bildung funktionierte. Die Kinder aus der Arbeiterschicht blieben unter sich. In der Folgezeit verlor ich jegliches Interesse an der Schule, und es bedurfte drakonischer Strafen (Fußballverbot!), um mich wieder auf den Pfad der Tugend zurück zu bringen.
Es hat mich später einige Umwege und viel Energie gekostet, nach einer Lehre und Berufstätigkeit bei der Stadt Emden, das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachzuholen. Dabei profitierte ich von den Bildungsreformen der sechziger Jahre. Und vom Zuspruch eines Dozenten der Deutsch-Niederländischen Heimvolkshochschule Aurich: Johann Bruns. Er wurde später Landes- und Fraktionsvorsitzender der SPD in Niedersachsen. Nach dem Abitur erhielt ich ein Stipendium der gewerkschaftlichen Stiftung Mitbestimmung ohne das ich nicht hätte studieren können.
Seit meiner Zeit als Jugendvertreter der Stadt Emden habe ich den Kontakt zur Gewerkschaft, der ich seit 1961 angehöre, immer gehalten. Aus der SPD bin ich bei Bildung der ersten Großen Koalition 1966 aus Protest ausgetreten. In meinem o.g. Poem heißt es über diese Zeit:
Ich gesellte mich zu denen /die sich schwer taten / beim Verändern ihres Alltags /sie hatten mehr verdient /als die kalte Schulter des Zweifels /
mit ihnen gemeinsam / muss man weiterhin versuchen /die Knäuel der Subsysteme zu entwirren /damit ein wenig mehr Raum entsteht /zum Leben oder auch nur zum Träumen.
Heute denke ich mit zwiespältigen Gefühlen an mein Herkunftsmilieu zurück. Die Atmosphäre eines Sonntags in der Kleinstadt habe ich in einem Gedicht festzuhalten versucht:
Sonntag
Die Stadt wie ausgestorben / grauer Himmel / leere Straßen / einsame Bänke / Die Häuser schlafen noch / kein Vogel weit und breit / nur Hundehalter / Kirchenglocken läuten / für wen ist nicht ganz klar / die Blätter auf den Wegen / kümmert es nicht / Ein Tag der ewig dauert / Schweigen all überall / kein Geld fürs Kino / Kein Fußball.
Sobald man sich von Süden der Stadt nähert, sieht man schon von weitem den achtzig Meter hohen Bockkran der Nordseewerke, den wir von unserem Jungenzimmer aus sehen konnten. Unwillkürlich setzt ein gewisses Kribbeln im Bauch ein. Ich denke an meine Zeit als aktiver Fußballer, eine der wenigen Möglichkeiten, sich Respekt und Anerkennung zu verschaffen. Und mir wird auf einmal bewusst, dass auf der Werft keine Schiffe mehr gebaut werden. In Spitzenzeiten herrschte dort Hochbetrieb. Es gab zwar auch damals immer einmal Krisenzeiten mit Entlassungen oder Kurzarbeit. Aber immer ging es irgendwie weiter. Damit ist es ein für allemal vorbei. So wirkt der hohe Bockkran heute wie ein Symbol aus fernen Zeiten.
Auch mit dem Emder Hafen ging es bergab. Früher wurden hier die großen Frachter umgeschlagen, die Eisenerze aus Skandinavien für das Ruhrgebiet brachten. Und von dort kam die Steinkohle, die im Hafen verladen wurde. 1986 lief der letzte Erzfrachter in den Hafen ein. Seitdem ist Stillstand.
Durch die Ansiedlung des VW-Werkes wurden die Arbeitsplatzverluste der Werften und des Hafens weitgehend kompensiert. Heute werden jährlich Hunderttausende von Autos von Emden aus in alle Welt verschifft. Viele der ehemaligen Arbeiterviertel wie z.B. Port Arthur/Transvaal, Conrebbersweg, Friesland und auch die Siedlung, in der ich aufwuchs, sind weitgehend erhalten geblieben. Damals wohnten dort die Werft- und Hafenarbeiter; heute sind es die von VW. Die Tatsache, dass die alten Milieus weiter existieren, dürfte dazu geführt haben, dass die SPD in Emden nach wie vor beste Ergebnisse einfährt. Bei der letzten Bundestagswahl erzielte der SPD-Kandidat 53,2 % der Erststimmen; eines der besten Ergebnisse bundesweit; und auch bei den Zweitstimmen reichte es noch zu über 38 %.
Vieles wird in Zukunft davon abhängen, wie sich die Automobilindustrie entwickelt. Allzu optimistisch darf man da nicht sein. Aber das wissen die Leute vor Ort selbst nur allzu gut.