Warten, das konnte Jupp Darchinger, warten auf den Moment, wo der Fotograf draufhalten und abdrücken muss, um sein Foto zu haben: das Foto, das mehr sagt als 1000 Worte. So einer war Jupp Darchinger, der das Fotografieren nicht gelernt hatte, sondern sich alles selber beibringen musste. Er war ein Könner der Bonner Republik, und ein Kenner dazu. Stundenlang wartete er 1981 auf dem Bahnhof Güstrow auf diesen Moment, wir, die übrigen Journalisten waren schon eingestiegen in den Sonderzug nach Hamburg und Bonn. Dann kamen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Erich Honecker, Schmidt stieg in den Zug, ging zum Fenster, um dem DDR-Staatschef zum Abschied zu winken. Honecker reichte ihm die Hand durchs Fenster und schenkte ihm ein Hustenbonbon. Einzige Ausbeute des hochgehandelten Treffens an einem Wochenende, als in Polen von General Jaruzelski das Kriegsrecht verhängt wurde. Niemand sonst hatte dieses Foto, nur der Jupp.
„Ein Auge für Bonn“, würdigte die Hamburger „Zeit“ den großen Bild-Chronisten der Bundesrepublik-West. Und dieser Jupp Darchinger war „Das Auge der Republik“, wie eine Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum in Bonn treffend den Fotografen aus Anlass von dessen 100. Geburtstag im August dieses Jahres charakterisiert. Die Ausstellung ist in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und dessen Archiv der sozialen Demokratie entstanden. Die Stiftung bewahrt den Nachlass des Fotografen, der seit den 50er Jahren Mitglied der SPD war. Darchinger ist im August 2013 im Alter von 88 Jahren gestorben.
Wer den Mann beobachtete bei seiner Arbeit, erlebte ihn zumeist ruhig und gelassen am Rande des Geschehens. Sein Motto war: man muss etwas abseits stehen, dann sieht man mehr. Er wartete wie wir Journalisten vor dem Bonner Kanzleramt auf die Minister, die bald in ihren Dienst-Limousinen durchs bewachte Tor fahren würden. Meistens fielen ein paar Worte von diesem oder jenem, Reaktionen auf das abgelaufene Gespräch mit Helmut Kohl, dem Kanzler. Jupp Darchinger wartete auf Otto Graf Lambsdorff, der auch zur Seite fuhr, als er den Fotografen sah und dieser ihm zurief: „Graf, darf ich mal“, und schon hatte er sein Foto. Für den Spiegel, für den er über viele Jahre arbeitete oder wen auch immer. Seine Fotos waren begehrt.
Die Welt der Arbeit wie die Träume der Deutschen
Jupp Darchinger war ein netter Kollege, nett nicht im üblichen Sinne gemeint, sondern im Sinne von kollegial. Er war ja auch, obwohl er wirklich eine große Nummer war, einer von uns, wie wir, er auf der Suche nach dem Foto, wir auf der Suche nach der Nachricht oder dem Aufhänger für das Feature. So war das damals in Bonn, der kleinen Hauptstadt am Rhein, als alles noch überschaubar war, klein, nicht so bombastisch und laut wie später in Berlin. Bonn war Bonn, wir waren die Korrespondenten, in Berlin wurden wir Hauptstadt-Korrespondenten. Ich erinnere mich noch, als die Regierung Schröder/Fischer nach Berlin umzog 1999, war plötzlich die Rede von der Berliner Republik, wurde der Eindruck erweckt, als sollte es in der alten Reichshauptstadt so richtig losgehen mit der Politik. Manchmal musste man über solche Worte nur lachen. Das Fundament der Bundesrepublik war in Bonn gelegt worden, es war massiv gebaut, widerstandsfähig und klein gehalten, entsprechend dem Anspruch der Politik nach der Nazi-Zeit und dem verlorenen Krieg. Man wollte noch nicht im großen Konzert der Welt mitspielen, man war dabei, hatte aber auch ein schlechtes Gewissen, die Trümmer des 2. Weltkrieges waren längst nicht beseitigt, der moralische Verfall durch Hitlers Mordmaschine nicht aufgearbeitet, eher verdrängt. All dies erkennt man in Darchingers Bildern, er war dabei, in Bonn, wie bei vielen Staatsbesuchen u.a. in China, er fotografierte im Ruhrgebiet wie in Hamburg, die Welt der Arbeit, die Sehnsüchte der Deutschen, die von Mallorca träumten.
Jupp Darchinger begleitete wie kein zweiter Bildjournalist die Akteure der Bonner Republik und versuchte zugleich, die gesellschaftlichen Entwicklungen im Bild festzuhalten. Ein visuelles Gedächtnis einer ganzen Epoche, nennen das die Ausstellungs-Macher. Wer die Bilder Darchingers sieht, dem kommen die Erinnerungen an das Wirtschaftswunder, an die Jahre mit dem ersten Kanzler Konrad Adenauer, als das geteilte Land vielfach noch wie ein Schutthaufen aussah. Es folgte die erste wirklich große Koalition unter dem CDU-Kanzler Kurt-Georg Kiesinger mit seinem Vize Willy Brandt. Das hat mich damals schon verwundert und später noch mehr, denn Brandt war geflohen vor den Nazis, er wurde in der Heimat geschmäht als Emigrant, vor allem von der CSU, dagegen war Kiesinger ein Nazi gewesen. Und jetzt plötzlich saßen die beiden versöhnlich am Kabinettstisch. Wie auch Karl Schiller von der SPD und Franz-Josef Strauß von der CSU, der Jahre zuvor als Verteidigungsminister hatte gehen müssen, weil die Spiegel-Affäre Adenauer dazu gezwungen hatte. Spiegel-Chef Rudolf Augstein war verhaftet worden, was einen Sturm der Entrüstung im Lande auslöste. „Bedingt abwehrbereit“, hieß der Spiegel-Bericht. Neben Augstein wurde Spiegel-Vize-Chefredakteur Conny Ahlers verhaftet, der später Brandts Regierungssprecher wurde. Deutsche Geschichte, die in Bild und Text an einem vorbeizieht, wenn man Jupp Darchingers wunderbarer Bilderwelt folgt. Er hatte sie alle vor der Kamera, die Steffi Graf wie den Boris Becker, die Hildegard Knef, den Rudi Dutschke, Berthold Beitz, Heinrich Böll, Wolf Biermann.
Die Aufnahmen Darchingers von Persönlichkeiten wie Willy Brandt und Helmut Schmidt sind „Ikonen der Zeitgeschichte.“ So die Ausstellungs-Macher. Man schaue sich das Bild von Brandt an, wie er verträumt neben Johannes Rau sitzt. Würde man das auf heute übertragen, könnte man interpretieren, wie der große Sozialdemokrat Mitte der 80er Jahre über seine SPD nachdenkt. Die Lage war damals schwierig, Brandt trat bald als Parteichef zurück, weil er eine Griechin zur Pressechefin der SPD machen wollte. Eine Provinzaffäre, oder? Um zu zeigen, wie gefühlvoll der Fotograf mit den Politikern umging, rücksichtsvoll, schaue sich das Foto an, als Rut Brandt die Fliege um den Hals ihres Mannes richtet, man war auf dem Weg zum Bundespresseball, damals ein gesellschaftliches Großereignis der Republik.
Helmut und Loki Schmidt in Sommerhosen
Ja, ihm gelangen diese Schnappschüsse, die bestimmte Augenblicke im Bild festhielten. So als er Helmut Schmidt in dessen Landhaus am Brahmsee besuchte, Loki war dabei. Beide, der Staatsmann und seine Frau, in kurzen Sommerhosen. Ihm gelangen diese Bilder, weil man sie ihm gestattete, ihm vertraute man, dass er sie nicht reinlegen würde. Später sagte er dazu: „Ich habe nie jemanden bloßgestellt.“
Jupp Darchinger war aber nicht nur der Chronist der Politiker, der Kanzler, der Bundespräsidenten von Heuss, über Lübke, Heinemann, Scheel, Carstens, Weizsäcker, Herzog, Rau, er war auch der Fotograf, der die Entwicklung des Wirtschaftswunderlandes Deutschland im Bild festhielt. Und das war dann der Alltag, wie er sich uns allen bot und wie Jupp Darchinger ihn fotografierte: die Bude an der Ecke, die Kinder, die sich aus Automaten Bonbons zogen, Salzheringe mit Bratkartoffeln, Feierabend neben dem Gummibaum, Deutschlands Wunderauto, der Käfer, der Beweis für den Wohlstand, die Kohle-Kumpel nach der Schicht, die Stahl-Arbeiter im Streit um mehr Lohn. Dazu kamen der Mauerbau, der Kennedy-Auftritt in Berlin, Brandt und der DDR-Spion Guillaume, der des Kanzlers Referent war. Darchinger zeigt den Spion flüsternd am Ohr seines Chefs. Das Auge von Bonn, dazu gehört die Erzählung, dass er den persischen Schah bat: „Majestät, mehr Zähne bitte“. Oder wie er den sowjetischen Leonid Breschnew beim Empfang in Moskau 1973 solange dirigierte, bis dieser nach Ansicht Darchingers korrekt stand, also passend für das Bild.
Er war eine Legende in Bonn, ein einstiger Bauernsohn und gelernter Landwirt, der „immer wie beiläufig durch Lobby, Gänge und Restaurants, die Nikon-Kamera diskret über der Schulter strich“, wie Klaus Wirtgen, langjähriger Spiegel-Korrespondent in Bonn und später beim Stern, den Fotografen einfühlig beschrieb, einen Mann, der als Teenager schwer verletzt in französische Kriegsgefangenschaft kam, der die Berufsbezeichnung als Fotojournalist wählte, weil er sich mangels Ausbildung nicht Fotograf nennen durfte. Eine Institution der Bonner Republik. Und was das Foto von Güstrow am Anfang der Geschichte angeht, sagte er später: Für dieses Bild habe ich mir „vier Stunden lang bei Minus 15 Grad den Arsch abgefroren.“
Titelbild: Josef Heinrich Darchinger, Kabinettssitzung im Park des Palais Schaumburg, 6. Juli 1967 © J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung
Bild im Text: Josef Heinrich Darchinger, Selbstporträt im Spiegel mit AGFA Karat, 1949 © J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung