30 Jahre ist es nun her, seit die verhasste Mauer, das Monstrum, das Berlin teilte und verunzierte, geöffnet wurde. Eine Diktatur war in die Jahre gekommen und sah ziemlich alt aus und offensichtlich machtlos, als Bürgerrechtler, Kirchenleute, Menschen aus Leipzig, Dresden, Halle und Berlin und aus welchem Winkel der damaligen DDR auch immer mit Kerzen friedlich auf die Straße gingen und den Machthabern ihre Grenzen aufzeigten. Denen, die die Macht über 40 Jahre in ihren Händen gehabt hatten, gestützt durch sowjetische Panzer und Soldaten, mit denen mehrfach Revolten in der DDR, in Ungarn und in der CSSR zusammengeschossen und zusammengeknüppelt wurden. Und jetzt zeigte sich, wie machtlos die SED-Kommunisten waren, ohne Panzer, ohne Soldaten, ohne Gewehre. Niemand hat es für möglich gehalten, hat geahnt, dass es zu diesem Zeitpunkt-wir nennen den 9. November 1989-passieren würde. Insofern hatten die in Bonn auch keinen Plan. Rudolf Seiters, 1989 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes und als solcher gewiss einer der Vertrauten des Kanzlers Helmut Kohl, räumt denn auch heute ein: „Wir hatten keinen Masterplan“. So steht es in einem Buch, das verfasst ist von Augenzeugen des damaligen Geschehens. „Wir sind dabei gewesen“, heißt der Untertitel zum Buch: „30 Jahre Deutsche Einheit.“
Wenn man die Namen der Autoren liest, ist es wie ein Who is Who der damaligen Zeit. Angela Merkel schreibt das Grußwort, Wolfgang Schäuble äußert sich zur Vorgeschichte von Mauerfall und Deutscher Einheit, Rainer Eppelmann, der zur Opposition in der DDR zählte, wählte für seine Gedanken den Titel: „Manchmal genügt ein einziges Jahr, um die Welt zu verändern“. Wie wahr! Was für ein Jahr! Gregor Gysi, dieser eher bunte Vogel(Pardon!) aus der einstigen DDR, ein Anwalt, der mit den SED-Mächtigen oft zu tun hatte und später in der PDS und in der heutigen Linken immer noch eine Rolle spielt, dieser Gysi schreibt über den „urdemokratischen Impuls“. Ich lass das mal so stehen, wünschte mir von Gysi aber auch Aufklärung darüber, wo denn nach der Auflösung der SED deren Milliarden-Vermögen geblieben ist.
Kohls Privatreise in die DDR
Ich will nicht alle Namen nennen, es sind zu viele. Lothar de Maiziere, ein Mann der evangelischen Kirche in der DDR, Mitglied der Volkskammer im Jahre 1990, erster Ministerpräsident der DDR, der durch freie Wahlen ins Amt kam, dann Mitglied des Bundestages, für kurze Zeit Minister im Kabinett von Kohl, seit 1956 CDU-Mitglied, Rechtsanwalt, Musiker, beschreibt seinen „Weg zur deutschen Einheit“. Friedhelm Ost, Kohls langjähriger Regierungssprecher, später Mitglied des Bundestages, der den Wahlkampf für die erste freie Wahl 1990 für Kohl mitorganisieren musste, ist zu nennen. Es war viel Arbeit, ehe die „Allianz für Deutschland“ zusammengezimmert war. Ost schildert auch, wie er mit Kohl der DDR einen Privatbesuch 1987 abstattete. Diese Zusage hatte Kohl Erich Honecker abgerungen, als dieser zuvor der Bundesrepublik einen ersten offiziellen Besuch abstattete. Für den SED-Chef war dieser Auftritt im Bonner Kanzleramt der Höhepunkt seiner Karriere, er sah sich auf dem Gipfel durch diese Form der Anerkennung, musste aber zulassen, dass die Rede von Helmut Kohl, gehalten während eines Abendessens zu Ehren der deutschen Gäste aus dem Osten, auch vom DDR-Rundfunk und Fernsehen übertragen wurde.
Diese Privatreise Kohls hatte es in sich, Ost hat darüber ein Büchlein verfasst vor Jahren und darin geschildert, wie die Fahrzeuge mit Kohl und ihm von der Stasi „begleitet“ wurden, wie sie der Kontrolle mehrfach entkamen, wie der Besuch eines Fußballspiels in Dresden war. Insgesamt 156 Stasi-Leute waren auf Kohl und die Begleiter angesetzt, wie aus DDR-Akten nach der Wiedervereinigung hervorging. Die Reise führte die kleine Gruppe nach Gotha, Erfurt, Weimar und Dresden. Mehrfach versuchten sie, Waren in der DDR, z. B. Handwerkszeug zu kaufen und mit DDR-Mark zu bezahlen. Nur, keiner wollte es haben, alle fragten heimlich nach Devisen, nach dem Motto: Können Sie das nicht mit D-Mark bezahlen? Ja, so war das, der Schwarzmarktkurs D-Mark zu DDR-Mark betrug teilweise 1:5 oder 1:6 und mehr. Am Ende der Reise blieb Ost auf seinen DDR-Mark-Scheinen sitzen, die er vor Reise-Antritt gegen D-Mark erworben hatte.
Interessant der Beitrag von Richard Schröder, auch er ein Mann der evangelischen Kirche, ein Sozialdemokrat, der erlebte, dass er als Schüler mit guten Noten- „ich bekam für sehr gute schulische Leistungen eine Buchprämie“- aber nicht zum Besuch der Oberschule zugelassen wurde. Begründung: Ihm fehle „die Bereitschaft, aktiv am Sozialismus mitzuwirken“. Schröder war nicht Mitglied der Pioniere. Es half ihm wenig, dass er als Junger Sanitäter und Junger Rettungsschwimmer qualifiziert war und „wenn befohlen Schrott und Altpapier“ gesammelt hatte. Der Schulleiter, so schreibt Schröder in dem Buch, der 1958 seine Ablehnung zur Oberschule veranlasst hatte, sei verstört und voller Unverständnis gewesen, als sein Lehrerkollegium ihn 1989 abgewählt hatte. Nach dem Fall der Mauer.
Da fällt mir nur noch der Erich Mielke ein, als der am 13. November 1989 vor der Volkskammer mehr jammernd und fast bittend und bettelnd flehte in abgehackten Sätzen: „Ich liebe-Ich liebe doch alle- alle Menschen. Na, ich liebe doch. Ich setze mich doch dafür ein.“ Ausgerechnet der Chef der Stasi, der die halbe DDR hatte überwachen und viele Menschen drangsalieren, zusammenschlagen und einsperren lassen. Der Minister für Staatssicherheit der DDR wurde 1993 wegen Mordes zu sechs Jahren verurteilt und 1995 auf Bewährung entlassen.
Mit Distanz zu Egon Bahr
Sehr lesenswert und fast an der einen oder anderen Stelle pikant die Äußerungen von Brigitte Seebacher, Brandt, darf ich hinzufügen. Sie war ja damals mit Willy Brandt verheiratet. Der Leser erfährt, wie distanziert sie zu Egon Bahr steht, von dem ich immer annahm, er sei einer der wirklichen Vertrauten und ja Freunde von Willy Brandt gewesen. Wörtlich heißt es zum Ablauf des 10. November 1989: „Eine britische Militärmaschine bringt ihn nach Berlin. Begleitet wird er von seinem Mitarbeiter Klaus-Henning Rosen und zwei Sicherheitsbeamten. Egon Bahr ist nicht mit von der Partie. Er hat keinen Kontakt aufgenommen und ist von Willy Brandt auch nicht vermisst worden. Die Meinungen, den Bestand der DDR betreffend, gehen inzwischen weit auseinander und bleiben Gegenstand der Geschichtsschreibung. Das Volk ist für Bahr keine Kategorie. Er denkt in Systemen und sucht Kontrolle“. Bahr sei ein Gegner der deutschen Einheit gewesen, urteilt Frau Seebacher, die anschließend von den Anti-Einheitsreden von Schröder und Lafontaine schreibt, der als kommender Kanzlerkandidat gegolten habe. Für Willy Brandt sei die Einheit im Grundsatz nicht verhandelbar gewesen. Alles andere habe Brandt als eine Art Verrat angesehen an dem einen und freien Deutschland. Und das hieß für ihn auch, dass Berlin die einzige Hauptstadt bliebe. Er habe nicht verstanden, dass man diese Frage überhaupt erörtert habe. „Es geht um eine nationale Weichenstellung:“ So sagte er es vor dem Bundestag.
„Wir schaffen das!“ Den Satz liest man nicht im Grußwort von Merkel, sondern als Titel des Beitrags von Horst Teltschik. Teltschik war einer der wichtigsten Berater von Helmut Kohl. Er beschreibt die herausragende Rolle des Kanzlers, würdigt ihn fast als Macher der Einheit, zitiert Helmut Schmidt, der Kohl mit den Worten gewürdigt habe: „Damit ist Helmut Kohl zum Staatsmann geworden“. Und beklagt dann, dass sich die CDU „bis heute hinter der erbärmlichen Parteispendenaffäre, für die sich Helmut Kohl mehrfach entschuldigt hat, verkriecht.“ Nicht mal eine Straße in Berlin sei nach ihm benannt worden. Inzwischen gibt es eine Helmut-Kohl-Allee in Bonn.
Teltschik vergisst nicht, die wichtige Bedeutung von Michail Gorbatschow zu schildern, der den Weg zur Einheit freigemacht habe. Später habe dieser Gorbatschow fast wehmütig zu ihm, Teltschik, gesagt: „Was hätten wir alles zusammen machen können.“ Er meinte die UdSSR und Deutschland, das europäische Haus, in dem er ein ZImmer für Russland gewünscht hätte.
Milliarden für die Einheit
Einer darf natürlich nicht fehlen, wenn es um die Einheit geht. Der Mann, der Chef der Finanzen war damals: Theo Waigel, Bundesfinanzminister, CSU-Politiker, ein enger Weggefährte Kohls, ein Freund des Pfälzers. Milliarden und Aber-Milliarden Euro seien in die neuen Länder geflossen, wahre Herkulesaufgaben für die deutsche Finanzpolitik, eine Mischung aus Einsparungen, Erhöhung der Sozialabgaben, eine vertretbare Erhöhung der Nettokreditaufnahme, eventuelle Steuererhöhungen, seien in der Lage gewesen, schreibt Waigel, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik in einem Gleichgewicht zu halten. Es gab ja auch hierfür keine Vorlage, es war das erste Mal, dass aus einer Kommandowirtschaft eine soziale Marktwirtschaft geformt wurde. „Allein 40000 Betriebe und Kombinate mussten im Laufe der Jahre privatisiert werden“, so Waigel. Dazu kam der Überleitungsvertrag über den Rückzug der russischen Truppen und den Abtransport der Waffen, als Gesamtkosten sei vereinbart worden in dreieinhalb Jahren 12 Milliarden DM plus drei Milliarden DM-Kredit. Die Russen hätten zum Abschied gesungen: „Deutschland, wir reichen dir die Hand und kehr ’n zurück ins Heimatland.“
Es ist ein Buch zum Schmökern, nicht immer eine leichte Lektüre, kein Roman. Aber es lohnt sich, in dem Buch nachzulesen, wie es denn war damals, als die Mauer fiel und ein neues Kapitel deutscher Geschichte aufgeschlagen wurde. Dass die Menschen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, in Halle, Schwerin und Rostock manches zu kritisieren haben, was im Laufe der 30 Jahre mit ihnen passiert ist, muss man verstehen. Sie haben die Freiheit bekommen, was der bejubeln wird, der sie nicht hat. Dass das nicht reicht, haben wir spätestens mit den letzten Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen erfahren. Die Defizite gilt es aufzuarbeiten. Mit aller Kraft. Irgendwann müssen wir doch den Satz von Willy Brandt in der Vergangenheit betonen: Es wuchs zusammen, was zusammengehörte.