„Mehr Demokratie wagen“ forderte einst Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung als neu gewählter Bundeskanzler. Das ist einige Zeit her. Die Forderung hat an Aktualität indes nichts verloren. In Zeiten der Hegemonie des Neoliberalismus und der Verwerfungen der Globalisierung scheint ein Denken in Alternativen nicht mehr möglich zu sein. Angesichts der Erstarrung der politischen Verhältnisse und der um sich greifenden Orientierungslosigkeit, ist es vielleicht angebracht, sich an frühere Überlegungen zu einer Reform des ökonomischen und demokratischen Gesellschaftssystems zu erinnern. Einigen mag dies antiquiert vorkommen. Aber es geht hier nicht um Nostalgie, sondern darum, zu zeigen, dass der gesellschaftstheoretische Diskurs schon einmal weiter war.
Politik und Ökonomie
Beiträge zur Demokratietheorie sowie zur Reformulierung eines modernen Politikbegriffs weisen in der Regel eine beachtliche Leerstelle auf: In den meisten Beiträgen wird die Sphäre des Ökonomischen bzw. der Produktionsbereich aus den Diskussionen um eine Reform des demokratischen und sozialen Rechtsstaats weitgehend ausgeklammert. Noch bis zu den sechziger Jahren galt das demokratische Projekt der Moderne deshalb als unvollendet, weil es vor der „Demokratisierung der Wirtschaft“ halt machte und die damit verbundene Möglichkeit der Systemtransformation nicht verwirklichte. Im Vordergrund standen lange Zeit Fragen nach der Legitimität politischer Entscheidungsstrukturen und der Leistungsfähigkeit politischer Institutionen. Die Errungenschaften der Moderne wie allgemeines Wahlrecht, politisches Repräsentativsystem, Gewaltenteilung, Priorität von Individualrechten und privatrechtliche Entpolitisierung der Wirtschaft, wurden als reformbedürftig kritisiert; und zwar in dem Maße, als sich erwies, dass die Steuerungsfähigkeit des politischen Systems angesichts der Komplexität der ökonomischen und ökologischen Herausforderungen immer häufiger versagte. Hinzu kommen immer häufiger auch politische Symptome, die sich in Wahlenthaltungen, Misstrauen in die Moral und Kompetenz politischer Eliten, aber auch in unkonventionellen politischen Aktionen und Bürgerbewegungen niederschlagen. All dies sollte Anlass genug sein, über die „demokratischen Frage“ erneut nachzudenken.
Deutlich wird der theoretische Perspektivwechsel weg von der lange Zeit dominierenden „Legitimitätsproblematik“ zu den strukturellen Problemen demokratischer Öffentlichkeit an der Position von Jürgen Habermas.
Habermas diagnostiziert in einem Vorwort zur Neuausgabe von „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, dass es in wachsendem Maße zu „kolonialisierenden Übergriffen der neoliberal geprägten Systemimperative auf lebensweltliche Bereiche“ wie Bildung, Wohnen, Gesundheit usw. kommt und es gilt, diese demokratisch einzudämmen. Dabei setzt er vor allem auf die politischen Effekte der „Produktivkraft Kommunikation“ als einem solidaritätsstiftenden Faktor einer demokratisch strukturierten politischen Öffentlichkeit. Insbesondere von den Meinungs- und Willensbildungsprozessen der institutionellen Kernbereiche der Zivilgesellschaft mit ihren freiwilligen Assoziationen wie Bürgerinitiativen, Kirchen, Gewerkschaften, kulturellen Vereinigungen oder Alternativprojekten, erhofft er sich politische Einwirkungsmöglichkeiten im Sinne kommunikativ erzeugter Macht – bei Aufrechterhaltung der Verantwortung und Zuständigkeit demokratisch verfasster Institutionen. Er setzt auf umgangssprachlich verfasste öffentliche Diskurse in den gesellschaftlichen und politischen Basisinstitutionen, um einen Resonanzboden für Handlungsimpulse bei den klassischen Steuerungsinstanzen Staat und Recht auszulösen.
Damit mag ein Teil der Probleme gelöst werden. Allerdings überschätzt er m.E. die Rationalität und Effektivität des Wirtschaftssystems; sein Rückgriff auf das reichlich angestaubte Theorem des „organisierten Kapitalismus“ und die Vorstellung, dessen Dysfunktionalitäten ließen sich durch kompensatorische politische Interventionen weitgehend neutralisieren oder qua öffentlicher Diskurse demokratisch zurückdrängen, ist ziemlich optimistisch. Angesichts der Machtfülle global operierender Unternehmen und Banken bleiben derartige Interventionen relativ wirkungslos. Am Beispiel der ökologischen Gefährdungen bis hin zur katastrophalen Veränderung des Weltklimas, ließe sich zeigen, dass das Kompensationsmodell, das Habermas vorschlägt, allein kaum ausreicht, der systemisch erzeugten Vernichtung natürlicher und sozialer Ressourcen Einhalt zu gebieten.
Entgrenzung des Politischen
Ulrich Beck hat sein Politikkonzept erstmals im Bewußtsein der Dramatik ökologischer Risiken verfasst; vor allem nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl; ja man kann sagen: ihm ist seither die Ökologiefrage zum Präzedenzfall für die Defizite des herrschenden Politikmodells schlechthin geworden.
Beck schlägt vor, den Bereich des Politischen zu „entgrenzen“ und die Semantiken von Politik und Ökonomie miteinander zu verschränken. Er sucht nach grenzüberschreitenden Vermittlungs- und Verhandlungsinstitutionen zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen, nach Foren der Vernetzung, nach neuen Formen von Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen, die geeignet sind, das Denken in politischen Zuständigkeiten zu informalisieren, den Sachverstand zu entmonopolisieren und die Sensibilität einer demokratischen Öffentlichkeit für die Gefahren der Moderne zu erhöhen.
Angesichts der Bedeutung des technisch-ökonomischen Systems für den Wandel gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse, sucht Beck nach geeigneten demokratischen Prozeduren, um die „kritikimmune Durchsetzungsmacht“ des Ökonomischen einer politischen Legitimation zu unterziehen. In der Konsequenz hat dies zur Folge, dass Formen des Diskurses, der Abstimmung und Aushandelung, die vormals primär dem politischen System zugerechnet wurden, nunmehr auch Einzug in die ökonomische Sphäre halten. Dieser Prozess würde letztendlich zu einer „Entgrenzung des Politischen“ und zur Politisierung des technisch-ökonomischen Systems führen. Damit würden Entscheidungen, die weitreichende Konsequenzen für die Gesellschaft zeitigen, legitimationspflichtig und demokratischen Diskursen zugänglich. Angesichts der Risiken und Selbstgefährdungen moderner Produktionsprozesse reicht es nach Beck nicht aus, diesen Bereich nach Maßgabe ökonomischer Rentabilitätsinteressen zu organisieren und die unerwünschten Nebenfolgen einer in vielerlei Hinsicht (reflexiv, materiell, moralisch) überforderten Gesellschaft aufzubürden (Beispiele: Bankenkrise; neuerdings der Dieselskandal). Auf diese Weise untergräbt das sozio-ökonomische System nach Beck seine eigenen Existenzgrundlagen, da es seine eigenen Konstitutionsprinzipien (Rationalität, Effektivität, Demokratie) nicht konsequent auf sich selbst anwendet. Daher bedarf es eines neuen, adäquaten Politikmodells, das er „reflexive Modernisierung“ nennt.
Mit diesem vieldeutigen Begriff meint Beck vor allem die bewußte Selbstanwendung und Selbstkonfrontation der von der Moderne hervorgebrachten Prinzipien auf sie selbst. Danach bringt die Moderne Tendenzen zur Selbstveränderung nicht automatisch hervor; sie bedürfen vielmehr der politischen Verdichtung, und zwar in der Weise, dass die widersprüchlichen, latenten, verhinderten, aber immerhin ansatzweise vorhandenen Potentiale der Moderne freigesetzt und zur Entfaltung gelangen können.
Politik kann nach Beck nicht allein auf die dafür vorgesehenen Arenen (Parlamente) und die dazu ermächtigten Akteure (Parteien, Gewerkschaften) begrenzt werden. Im Gegenteil. Deren Unbeweglichkeit bewirkt gerade die Aktivierung und Selbstorganisierung des Politischen durch die Gesellschaft. Dass diese Aktivierung bisher vor allem nach Katastrophen oder befürchteten Gefährdungen fundamentaler Lebensbereiche eintritt, mag unzureichend sein. In solchen Fällen jedoch bricht das Politische jenseits der formalen Zuständigkeiten und Hierarchien auf und aus, und dies wird nach Beck gerade von denjenigen verkannt, die Politik mit Staat, mit dem politischen System, mit formalen Zuständigkeiten und ausgeschriebenen politischen Karrieren gleichsetzen.
Gerade die der politischen Legitimation entzogene „Privatsphäre“ der Produktion wird auf diese Weise „politisiert“, während in den symbolträchtigen politischen Institutionen Gegensätze und Probleme oft nur noch „simuliert“ werden. Wichtige Politikthemen der letzten Jahrzehnte wie Kernenergie, Frieden, Geschlechterverhältnisse und Ökologie wurden häufig zunächst von Bürgerbewegungen besetzt, bevor sie auf der Tagesordnung der „offiziellen“ Politik erschienen – und das oft genug gegen den Widerstand der etablierten politischen Organisationen. Daher kann es auch nicht bei einem bloßen „ Kategorienwandel des Politischen bei konstanten Institutionen, intakten und nicht ausgewechselten Machteliten“ bleiben. Der von Beck vorgeschlagene Politikbegriff hat Folgen für die Institutionen, Inhalte und Organisationsformen des Politischen gleichermaßen. Zwar nicht in dem Sinne, dass sie allesamt und womöglich noch gleichzeitig zu ersetzen wären; wohl aber insofern, als die durch die Moderne selbst erzeugten Erosionstendenzen alle Dimensionen des Politischen auf den Prüfstand stellen. Über den traditionellen Politikbegriff weist dies insofern hinaus, als nicht allein kollektiven bzw. organisierten Akteuren, sondern auch einzelnen Individuen und Gruppen Politikfähigkeit attestiert wird.
Somit kommen all diejenigen Akteure außerhalb des politischen und korporatistischen Systems (z.B. Berufsgruppen oder die technische und ökonomische Intelligenz in Betrieben, Forschungseinrichtungen, Bürgerinitiativen usw.) ins Spiel, auf deren Kompetenzen es bei der Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse immer häufiger ankommt.
Konstitutive Prozesse des Politischen
Auch Negt/Kluge fordern, den Begriff des Politischen über die Formen staatlicher Tätigkeit hinaus zu erweitern. Als Korrektiv zu einem derart verengten Politikverständnis schlagen sie vor, das Politische auch in den Zwischenräumen von Institutionen anzusiedeln, „die nicht staatlich und auch nicht bloß privat sein können“. In diesen Zwischenräumen könnte ein „organisatorisches Gegenprinzip“ zur Staatsmacht entstehen, das auf Gegenmacht, Gewaltenteilung und Partizipation beruht. Hier könnten sich Politikformen entwickeln, die an die „Größenordnung des Alltags“ angepaßt sind und in denen sich politische Parameter wie produktive Vielfalt, Berührungsfläche mit unmittelbarer Erfahrung (Nähe), Toleranz, Differenzierungsvermögen, Diskussionsforen analog „runden Tischen“, „Demokratie und Mitbestimmung im materiellen Sinne“ und Innovationsfähigkeit entfalten.
Negt/Kluge richten ihr Augenmerk insbesondere auf die konstitutiven Prozesse des Politischen. Sie weisen auf die Notwendigkeit hin, Räume für politische Lernprozesse an den Entstehungsorten des Politischen zu schaffen und den jeweiligen Anlässen entsprechende, flexible Politikformen zu entwickeln. In ihrer an Marx anknüpfenden Analyse moderner Produktionsprozesse wird deutlich, worum es ihnen geht. Marx hatte kritisiert, dass die Entwicklung des kapitalistischen Produktionsprozesses dazu führt, dass den unmittelbaren Produzenten der gesellschaftliche Charakter ihrer Produktion im Verlauf eines sukzessiven Entfremdungsprozesses kaum noch bewußt wird. Der gesellschaftliche Zusammenhang ihrer individuellen Arbeiten kann nur noch als Resultat eines vom Kapital gestifteten Vergesellschaftungsmodus begriffen werden, der auf bestimmten Formen der Arbeitsorganisation, Herrschaft und Kontrolle der arbeitsteilig ausgeführten Tätigkeiten beruht. Das Kapital „erscheint als organisierendes Zentrum der Produktion“, wohingegen alle Äußerungsformen des subjektiven Arbeitsvermögens (Erfahrungswissen, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit), zu einer Funktion der Kapitalreproduktion zu werden drohen.
Vor diesem Hintergrund weisen Negt/Kluge auf die Schwierigkeit hin, in diesem von der „Kapitallogik“ dominierten Feld authentische Politikformen der Beschäftigten zu entwickeln. Zu diesem Zweck wäre eine „politische Ökonomie der Arbeitskraft“ allererst noch zu entwerfen, die ansetzt an den in der kapitalistischen Produktion verschütteten Potentialen der Beschäftigten, ihren Bedürfnissen und Interessen und den vom Kapital selbst erzeugten widersprüchlichen Anforderungen an die Arbeitskraft: zum Zweck der Aufrechterhaltung und Effektivierung des Arbeitsprozesses einerseits zu kooperieren; andrerseits den in der Gesellschaftlichkeit der Produktion angelegten emanzipatorischen Gehalt aber nicht auszuschöpfen.
Nach Negt/Kluge muss ein nicht bloß formaler, auf institutionelle Sachverhalte begrenzter Politikbegriff offen sein für die komplexen Konstitutions- und Machtbildungsprozesse des Politischen. Das lässt sich vor allem auch an der Politikhaltigkeit von Partizipationsprozessen zeigen. Versuche des Managements, Aspekte wie Partizipation und Kooperationsvermögen als Vehikel zu benutzen, um die Motivation und Akzeptanz der Beschäftigten zu erhöhen und deren Kenntnisse einseitig zur Effektivitätssteigerung einzusetzen, lassen sich in politisches Bewußtsein ummünzen, wenn die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen den Herrschaftsaspekt dieser Vorgehensweise erkennen und ihrerseits das durch Beteiligung erworbene höhere Maß an Handlungsautonomie in politische Aushandlungs- und Tauschprozesse einzubringen verstehen.
Das setzt allerdings voraus, dass Partizipationsimpulse für die Subjekte erfahrbare, positive Erfahrungen wie Anerkennung und Selbstverwirklichung mit sich bringen und durch institutionelle Arrangements abgestützt werden. Für die gewerkschaftliche Interessenvertretung kann dies zusätzlich den Effekt mit sich bringen, die Nachteile ausschließlich delegativer Politikformen zu kompensieren. Diese bestehen insbesondere in der Abgehobenheit und relativen Ferne zu den Entstehungsorten des Politischen und der fehlenden Sensibilität für differenzierte Interessenlagen von Beschäftigtengruppen. Eine Öffnung der gewerkschaftlichen Politikformen für mehr Beteiligung kommt zudem den politischen und kulturellen Bedürfnissen junger und hochqualifizierter Arbeitnehmergruppen nach mehr Mitwirkung und individueller Autonomie entgegen.
Als Ergänzung zu den von den Gewerkschaften praktizierten repräsentativen Form der Interessenvertretung würden die in einem wesentlichen gesellschaftlichen Kernbereich wie Betrieben und Unternehmen vorhandenen Demokratiedefizite reduziert, auch ohne dass es zu den von Habermas befürchteten Verlusten an Systemrationalität kommen müsste. Das würde allerdings nur dann der Fall sein, wenn sich in den Betrieben selbst die Einsicht durchsetzt, dass Partizipationsansätze und Effektivitätsgewinne sich nicht gegenseitig ausschließen.
Es läge im eigenen Interesse der politischen Parteien und Gewerkschaften, ob es ihnen gelingt, die vorhandenen Partizipationsimpulse aufzugreifen, zu einer politischen Programmatik zu verdichten und durch den Umbau der eigenen Organisationsstrukturen zu fördern, damit sich Politikformen entwickeln können, die der „Größenordnung des Alltags“ und den gesellschaftlichen Problemlagen entsprechen. Das wäre vielleicht ein Ansatz, um der um sich greifenden Politikabstinenz in der Gesellschaft entgegen zu wirken.
Bildquelle: flickr, Anna Lena Schiller, CC BY 2.0