Zwei Ereignisse des Jahres 2020 geben Anlass, über die deutsch-russischen Beziehungen resümierend, aber auch nach vorne gerichtet, nachzudenken: Am 8./9. Mai jährte sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal – ein wiederkehrender historischer Gedenktag, der uns verbindet und vor Augen führt, welche immense historische Verantwortung wir heute als nachfolgende Generationen haben, den Frieden zu bewahren und auf internationaler Ebene zusammenzuarbeiten. Letztgenanntes führt uns zum zweiten Ereignis: Seit Januar nun stellt uns global die Covid-19-Pandemie vor kaum vorausgesehene medizinische, wirtschaftliche und soziale Herausforderungen, die kein Land allein national bewältigen kann, sondern deren Lösung in einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit liegt.
Diese beiden Ereignisse lassen sich als zwei Pole verstehen, zwischen denen die deutsch-russischen Beziehungen sich entwickeln.
Es war gut und wichtig, dass in diesem Jahr der 75. Jahrestag des Kriegsendes besondere Aufmerksamkeit gefunden hat. Am 8./9. Mai gedenken wir der unzähligen Millionen Menschen, die ihr Leben im Zweiten Weltkrieg verloren. Mehr als 27 Millionen von ihnen waren sowjetische Bürgerinnen und Bürger. Schuld daran trugen Deutsche, und wir Nachgeborene können an jedem 8./9. Mai nur in stiller Demut der Toten gedenken und uns zur historischen Verantwortung unseres Landes bekennen.
Auch ist der Gedenktag eine Gelegenheit daran zu erinnern, dass sehr viele der alliierten Soldaten, die das nationalsozialistische deutsche Regime an jenem 8./9. Mai 1945 besiegten, aus Moskau, Minsk, Kiew, Almaty – aus der gesamten Sowjetunion also – kamen. Sie hatten entscheidenden Anteil am Sieg der Alliierten aus West und Ost. Bereits am 25. April hatten sich Soldaten aus der Sowjetunion und den USA entlang der Elbe die Hände gereicht – die eindrücklichen Bilder aus dem sächsischen Torgau stehen bis heute für die Kraft der Kooperation über tiefe Differenzen hinweg. Der 8./9. Mai 1945 brachte schließlich für all jene, die unter der Gewaltherrschaft des nationalsozialistischen Deutschlands gelitten und sie überlebt hatten, die Befreiung.
Dass Russen, Belarussen, Ukrainer schließlich zur Versöhnung mit den Deutschen bereit waren, ist ein großes Geschenk. Unsere Zivilgesellschaften sind heute eng verbunden und stehen in stetigem Austausch miteinander. Dass wir Deutsche heute mit offenen Armen empfangen werden, ist vor dem Hintergrund unserer Geschichte keine Selbstverständlichkeit. Wenn der eigene Großvater noch als junger Soldat an die Ostfront geschickt wurde und verwundet zurück kam und der Enkel heute in Freundschaft an dieselben Orte reist, dann zeigt dies, welche Kraft Versöhnung haben kann und wie wichtig es war, dass sich unsere Völker die Hände gereicht haben.
In engem Austausch stehen heute auch unsere Regierungen. Außenminister Heiko Maas und sein russischer Kollege Sergej Lawrow kommen regelmäßig zu Gesprächen zusammen, zuletzt im Februar am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz. In Zeiten der Corona-Pandemie sind daraus regelmäßige Telefonate und Videokonferenzen geworden. Nach sechsjähriger Unterbrechung wurden seit November 2018 die Tagungen der Deutsch-Russischen Hohen Arbeitsgruppe für Sicherheitspolitik wieder aufgenommen. Und es existieren zahlreiche politische Gesprächskontakte, etwa auch auf der Ebene der Länderparlamente und Regionen.
Allerdings ist der politische Dialog zwischen Deutschland und Russland bekanntlich heute leider nicht einfach. Die europäische Friedensordnung, die als sichtbares Ergebnis der Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs die Prinzipien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit sowie des Europarats zur Grundlage hat, wird von Russland verletzt. Mit der Annexion der Krim und der Intervention im Osten der Ukraine hat Russland Völkerrecht gebrochen. Die frühere Normalität zwischen Russland und Deutschland sowie der EU kann es deshalb nicht so einfach wieder geben.
Die Liste der politischen Differenzen zwischen Deutschland und Russland ist in jüngerer Vergangenheit bedauerlicherweise auch nicht kürzer geworden. Genannt werden müssen der Cyber-Angriff auf den Deutschen Bundestag oder die Tötung eines georgischen Staatsbürgers im Kleinen Tiergarten in Berlin, sowie Desinformationskampagnen inner- und außerhalb Europäischen Union, die oftmals allzu deutliche Spuren zum russischen Staat deutlich machen. Der jahrelange russische Verstoß gegen den INF-Abrüstungsvertrag lässt zudem eine weitere Erosion der einst historisch ausverhandelten Rüstungskontrollarchitektur befürchten.
Und die Welt ist nicht einfacher geworden. Die USA bleiben der wichtigste Partner Deutschlands außerhalb Europas. Allerdings war es nicht die feine Art von Präsident Trump, die Aufkündigung des INF-Abrüstungsvertrags am Rande einer Wahlkampfveranstaltung in Nevada anzukündigen. Sorge bereiten mir außerdem die drohenden extraterritorialen US-Sanktionen im Zusammenhang mit Nord Stream 2 – zu Recht hat Außenminister Maas deutlich gemacht, dass europäische Energiepolitik in Europa gemacht wird, nicht in Washington. Zwischen den USA und China verschärft sich eine Großmachtrivalität – für uns Deutsche und Europäer wird es nun darauf ankommen, dass die Europäische Union hier eine gemeinsame Position erarbeitet und vertritt. Dafür engagiert sich Außenminister Maas auch in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.
Ein positives Signal ist, dass die USA und Russland seit Ende Juni in Wien über eine Verlängerung des New-Start-Vertrags über atomare Abrüstung verhandeln. Was den Open-Skies-Vertrag betrifft, setzt sich Deutschland gemeinsam mit seinen europäischen Partnern auch nach der Ausstiegsankündigung der USA für den Erhalt dieses wichtigen Teils der Rüstungskontrollarchitektur ein – hier ist Russland aufgerufen, zur vollen Umsetzung des Vertrags zurückzukehren. Mehr Konstruktivität von Russland erwarten wir außerdem im Konflikt in Syrien.
Zurück zum Deutsch-Russischen: Entscheidend für eine Verbesserung der politischen Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten ist zuallererst eine friedliche Lösung für den Konflikt im Osten der Ukraine. Der Weg dorthin führt über die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. Es war positiv, dass im Dezember 2019 erstmals seit drei Jahren wieder ein Gipfel im Normandie-Format in Paris tagte und sich auf konkrete Schritte einigte. Nun allerdings kommt es darauf an, dass das Vereinbarte auch umgesetzt wird – hier sind beide Seiten aufgerufen, zu einer konstruktiven Rolle zu finden.
Derzeit bestehen die Sanktionen, die die EU als Reaktion auf das russische Verhalten im Konsens erlassen hat, weiter. Sie sind klar definiert und eindeutig mit den Minsker Vereinbarungen verknüpft. Unternehmen haben ihr wirtschaftliches Handeln inzwischen an sie angepasst. Für die Geschäfte der in Russland tätigen deutschen Unternehmen wäre es allerdings förderlich, wenn sich das Investitionsklima zwischen Pskow und Magadan verbesserte – wofür nicht zuletzt mehr Rechtssicherheit und ein engagierter Kampf gegen Korruption entscheidend sind.
Vor, in und nach der Corona-Pandemie gilt, dass im deutsch-russischen Verhältnis die Zivilgesellschaft mit gutem Beispiel vorangeht. So hat die Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft des Petersburger Dialogs, die ich von deutscher Seite koordiniere, inmitten der Pandemie und bei geschlossenen Grenzen allein in „Zoom-Diplomatie“ eine wichtige Stellungnahme erarbeitet. Sie fordert etwa, dass die Pandemie keinesfalls zu einer dauerhaften Einschränkung von demokratischen Rechten missbraucht werden darf, ebenso wie Transparenz und Informations- und Pressefreiheit.
Die AG Zivilgesellschaft arbeitet zudem weiterhin auf das Ziel hin, das Reisen für junge Menschen zwischen Deutschland und Russland visafrei zu machen. Ein Beweis für das Potenzial und die Lebendigkeit des zivilgesellschaftlichen Austauschs ist der Erfolg des Förderprogramms „Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland“ des Auswärtigen Amts: Unter den 223 geförderten Projekten sind 100 mit Beteiligung russischer Partner. Auf Initiative der SPD stehen für das Programm in diesem Jahr nach einer erneuten Erhöhung 20 Millionen Euro zur Verfügung.
Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass es in Deutschland auch Sorgen um die russische Zivilgesellschaft gibt. So sah die Bundesregierung nach unverhältnismäßig harten Polizeieinsätzen gegen friedliche Protestierende mit zahlreichen Festnahmen im Zusammenhang mit der Moskauer Kommunalwahl im vergangenen Sommer Veranlassung, die russischen Behörden zur Einhaltung der Prinzipien von OSZE und Europarat einzuhalten. Und derzeit bereitet Sorge, dass die neue russische Verfassung für das russische Verfassungsgericht ein Prüfungsrecht vorsieht, ob Entscheidungen internationaler Gerichte umzusetzen sind – worunter etwa Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fallen. Dieser spielt aber eine bedeutende Rolle für ein gemeinsames Verständnis von Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und dem Recht auf ein faires Verfahren.
Dass Russland im Juni 2019 auf der Grundlage eines Kompromisses Mitglied des Europarats blieb, ist eine gute Nachricht für die russische Zivilgesellschaft – sie behielt damit ihren Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Zu verdanken ist dieser Kompromiss dem Engagement von SPD-Außenminister Maas, der zu Recht der Auffassung ist, dass Russland in dieses paneuropäische Gremium gehört – mit allen Rechten und Pflichten. Es sei daran erinnert, dass Maas es in dieser Frage mit erheblichen Widerständen u.a. aus den Reihen der deutschen Grünen zu tun hatte.
Zivilgesellschaftliche Beziehungen können den Boden bereiten für intensivere politische Beziehungen. Es ist wichtig, diese gemeinsamen Fundamente zu stärken. Dazu gehören auch Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur. Das Deutschland-Jahr in Russland nach dem Sommer wird eine Plattform sein, dem Miteinander zwischen Deutschen und Russen nach der Corona-Pause wieder Schwung und Elan zu geben. Und auf das derzeit laufende deutsch-russische Jahr der Hochschulkooperation und Wissenschaft, das die mehr als 1000 Kooperationen zwischen deutschen und russischen Hochschulen in den Mittelpunkt stellte, folgt nun ein Jahr der Wirtschaft und nachhaltigen Entwicklung.
Dass globale Herausforderungen nur zu meistern sind, wenn Staaten über Grenzen hinweg und auf Regeln basierend zusammenarbeiten, hat die Covid-19-Pandemie Menschen überall auf der Welt sehr unmittelbar erleben lassen. Vor den Problemen der Welt gibt es keine Abschottung mehr. Was heute in Wuhan in der chinesischen Provinz Hubei passiert, hat Auswirkungen auch im nordrhein-westfälischen Winterberg.
Die Überwindung der Krise ist das zentrale Thema der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020. Deutschland und seine europäischen Partner helfen sich sowohl untereinander wie auch ihren Nachbarn und Staaten weltweit, medizinisch wie wirtschaftlich, im Kampf gegen die Pandemie und ihre Folgen. Im Engagement der Mediziner gegen die Covid-19-Pandemie hat Deutschland Russland angeboten, russische Patienten in deutschen Krankenhäusern aufzunehmen. Außerdem hat das Robert-Koch-Institut den Austausch mit russischen Kolleginnen und Kollegen deutlich intensiviert.
Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wird sich darüber hinaus auch die Frage stellen, ob, wie und auf welchen Feldern die EU ihre Beziehungen zu Russland weiterentwickeln kann. Klar ist, dass Ostpolitik heute nur europäisch sein kann.
Ich selbst freue mich schon sehr auf ein hoffentlich bald wieder mögliches persönliches Wiedersehen mit russischen Kollegen, Partnern und Freunden. Genauso geht es Millionen von Menschen in Deutschland und Russland, die über die Grenzen hinweg Kontakte geknüpft und gemeinsame Projekte entwickelt haben, oft gemeinsam mit Partnern in Frankreich, Polen, der Ukraine oder Georgien. Was für ein wunderschönes Zeichen – nur 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg!
Zum Autor: Dirk Wiese ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und seit April 2018 Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.
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