In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten überall in Deutschland und Österreich Synagogen, wurden jüdische Geschäfte demoliert, Scheiben eingeschlagen, Wohnungen, in denen Deutsche jüdischen Glaubens wohnten, in Brand gesetzt, Juden wurden verprügelt, gejagt, angespuckt, ermordet, festgenommen, in Konzentrationslager gesteckt. Den Befehl dazu hatte Josef Goebbels gegeben, Hitlers Propagandachef. Die SA hatte nur auf den Wink des Nazi-Führers gewartet, um loszuschlagen. Auslöser, so gaben die Nazis später vor, sei der Tod des Legationssekretärs Ernst von Rath gewesen, der am 7.November 1938 in der französischen Metropole Paris von dem 17jährigen jüdischen Emigranten Hershel Grynspan erschossen worden war. Im Deutschen Reich gingen Hunderte jüdischer Gotteshäuser in Flammen auf; 7500 Geschäfte wurden verwüstet. Auch die Synagoge in Rheda wurde ein Opfer der Flammen. Viele Geschäfte jüdischer Inhaber wurden auch dort von den braunen Vandalen heimgesucht, die Schaufensterscheiben eingeschlagen, geplündert. „Die Tage der Synagogengemeinde Rheda waren gezählt,“ schreibt Wolfgang Lewe, Hobby-Historiker, engagierter politischer Bürger des Ortes, langjähriges Mitglied im Rat der Stadt Rheda-Wiedenbrück. „
Reichskristallnacht“ nannten die Nazis das Inferno zynisch, weil die Scheiben so schön klirrten.Dabei war es ein Pogrom, dem schon in dieser Nacht rund 100 Juden zum Opfer fielen, Tausende Juden wurden in der Folge in die KZs von Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen eingeliefert.
So war das in Reichs-Deutschland. Spätestens mit der Machtübernahme der Nazis hatten Hitler und Co. mit ihrer Hetze gegen Juden ihre tödliche Progapanda gegen jüdisches Leben begonnen, die deren Ausrottung zum Ziel hatte, (Siehe die Wannseekonferenz mit Eichmann.) Man kann es nachlesen in Hitlers „Mein Kampf“. Die Hasskampagnen gegen die Juden begannen vom ersten Tag der Nazi-Diktatur an. Es wurde gegen alles Jüdische getrommelt. Die Juden wurden verleumdet, vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, ihrer Rechte beraubt. Die Juden waren an allem schuld, so die Nazi. Also mussten sie diffamiert werden, wurden sie bedrängt, ihres Vermögens beraubt. Und als die Synagogen brannten, wehrte sich kaum jemand gegen diesen Nazi-Terror, gab es kaum Widerstand.
So war das auch in Rheda. Jüdische Existenzen und Lebenswerke wurden vernichtet. Diejenigen, die nicht mehr fliehen konnten, wurden eingesammelt und in den folgenden Jahren in den Konzentrationslagern umgebracht, vergast, zu Tode geprügelt; oder sie verhungerten, verdursteten oder starben, weil sie sich zu Tode gearbeitet hatten.
„Erinnerungskultur in Rheda von den Anfängen bis heute“ heißt der Titel eines Beitrags von Wolfgang Lewe in einer Dokumentation mit dem Titel: „Sachor- erinnere dich!“. In diesem Heft sind die Reden bei den Gedenkveranstaltungen zur Reichspogromnacht auf dem jüdischen Friedhof in Rheda-Wiedenbrück gedruckt, darunter die von Hans-Jochen Vogel und die von Paul Spiegel. In diesem Teil von Ostwestfalen wird die Erinnerungskultur gepflegt: die Stadt ist aktiv dabei, der Historische Arbeitskreis des Heimatvereins Rheda, die Schüler-AG des Albert-Einstein-Gymnasiums.
Man erinnert sich: Einziehung der Rundfunkapparate
Am 26. September 1939 schickte der Bürgermeister von Rheda an den Herrn Landrat von Wiedenbrück folgendes Antwort-Schreiben:. „Betr.: Einziehung der Rundfunkapparate von Juden. In Rheda sind keine Juden mehr vorhanden. Es wird deshalb Fehlanzeige erstattet.“ Fehlanzeige hieß es auch am 16. Oktober 1939, als der Amtsbürgermeister um eine „Aufstellung über die im hiesigen Bezirk wohnenden Juden, soweit sie Einkommen bzw. Vermögen“ haben: „Fehlanzeige, da im hiesigen Bezirk keine Juden mehr wohnhaft sind.“ So der nüchterne Bürokraten-Text. Wenige Tage später antwortet der Bürgermeister auf ein entsprechendes Schreiben wegen der Ruinen der Synagogen der jüdischen Kultusvereinigungen: „Hier ist die Beseitigung der Ruine der Synagoge inzwischen erfolgt.“ Man könnte hinzufügen, dass das die Bürger von Rheda jüdischen Glaubens selber oder auf jeden Fall auf eigene Kosten wegräumen mussten, was die Nazis in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 angerichtet, angezündet oder einfach zerstört hatten. Auch dazu gab es eine Verfügung des Regierungspräsidenten an die Landräte und Oberbürgermeister. „Die Kosten der Beseitigung der Ruinen haben danach grundsätzlich die Synagogengemeinden selbst zu tragen.“
Rheda-Wiedenbrück, eine Kleinstadt in Ostwestfalen, blickt auf eine lange Geschichte mit Bürgern jüdischen Glaubens zurück. Seit Jahrhunderten gab es hier schon angesehene jüdische Kaufleute, Viehhändler, Leute mit Pelzgeschäften, aber auch Anstreichermeister und Näherinnen. Sie waren in das Gemeindeleben integriert, die waffenfähigen Männer dienten im Ersten Weltkrieg. Max Goldschmidt und Max Weinberg erhielten „für ihre Tapferkeit vor dem Feind“ das Eiserne Kreuz. Fast 500 westfälische Juden erlitten den Soldatentod an den Fronten des Krieges, darunter ein Joseph Mendels aus Rheda. Ebenso fiel Robert Weinberg beim Frankreich-Feldzug am 1.4.1918. Nachzulesen in dem Buch „Die Geschichte der Rhedaer Judengemeinde.“ Die Herausgeber, Jürgen Kindler und Wolfgang Lewe, haben das Buch verfasst aus Anlass des 50. Jahrestages dieser Pogromnacht, die von Nazis angestiftet und ausgeführt wurde, teilweise unter Beteiligung und dem Beifall von Teilen der Bevölkerung. Polizei und Feuerwehr sahen dabei ebenso zu wie mancher Einwohner. Andere blickten verschämt weg, griffen nicht ein, vielleicht aus Angst vor den SA-Leuten. Zivilcourage? Fehlanzeige! um in diesem Fall im Jargon der Nazis zu bleiben. Einige beteiligten sich an den Plünderungen; es war ja was zu holen. Dieser Diebstahl wurde nicht verfolgt, sondern sogar gut geheißen von den Offiziellen. Juden waren schließlich Freiwild, rechtlos. Ihr Eigentum konnte, wie es so schön hieß, „arisiert“ werden. Diese deutschen Mitbürger jüdischen Glaubens – man kann dies nicht oft genug so formulieren – mussten oft genug ihre Wohnungen, Häuser, ihr Mobiliar zu einem Spottpreis verkaufen.
Auch die Kirche protestierte nicht
Auch die Kirche protestierte nicht gegen das menschenunwürdige Regime der Nazis. Pfarrer Marco Beuermann hat das in seiner Rede am 8. November 2009 so bekannt: „Auch die hiesigen Pfarrer erhoben nicht die Stimme.“ In der Chronik der Gemeinde Rheda fänden sich „Hinweise auf Bedrängung der christlichen Gemeinde und der evangelischen Pfarrer durch die Nazis. „Das Judenprogrom aber wird mit keiner Silbe erwähnt.“ Es habe ja“ jüdische Kultstätten“ getroffen, so der Pfarrer, „jüdisches Geld und Eigentum, jüdische Menschen.“ Er räumte ein, dass das mit dem christlichen Antijudaismus zu tun gehabt habe, mit dem alten „Vorwurf den Juden gegenüber, am Tod des Gottessohnes Schuld zu sein.“
Doch es habe auch mutige Menschen gegeben, schilderte der Pfarrer und erwähnte das Schicksal der Familie Spiegel, die von Bauern im Münsterland versteckt und somit vor der tödlichen Deportation gerettet wurde. Sachor- erinnere dich. Das tut diese Dokumentation der Gedenkveranstaltungen. Sie nennt die Namen der Opfer der Reichspogromnacht und deren Anschriften, damit nicht vergessen wird, wer hier gelebt hat. Die Liste beginnt mit den Gebrüdern Levy in der Kleinen Straße 10 und endet mit Hugo Brill an der Möhler Straße. Ein eindrucksvolles Dokument, das insgesamt 15 Namen und Adressen aufzählt. Ja, menschenverachtend, unsagbar grausam und brutal waren die Taten“, so das Urteil des Bürgermeisters Theo Mettenberg in seiner Rede am 7. November 2010.
Die Erinnerung an jüdisches Leben wird in Rheda-Wiedenbrück hochgehalten, obwohl es hier keinen Deutschen jüdischen Glaubens mehr gibt. Ich schreibe hier bewusst von Deutschen jüdischen Glaubens, denn sie waren Deutsche wie ihre Nachbarn, die Katholiken waren oder Protestanten oder Muslime. Ignaz Bubis, der frühere Präsident des Zentralrats der Juden, hat sich immer so bezeichnet:“ Ich bin Deutscher jüdischen Glaubens.“ Sie wird hochgehalten, damit nicht vergessen wird, was einst geschah.
Seit rund 20 Jahren versammeln sich jedes Jahr um den 9. und 10. November einige Hundert Bürger von Rheda-Wiedenbrück auf dem jüdischen Friedhof und gedenken der schlimmen Vergangenheit.
Die Erinnerung wachzuhalten, das haben sie sich als Aufgabe gestellt in Ostwestfalen. Bei dieser Arbeit werden sie von den Schülerinnen und Schülern des Albert-Einstein-Gymnasiums unterstützt. Jüdisches Leben gab es hier schon im frühen Mittelalter, die Juden waren nicht immer beliebt. Und als die Pest ausbrach, die viele Bürgern das Leben kostete, stand das Vorurteil anderer schnell fest: die Juden waren es. Man kann das nachlesen in diesem Büchlein, eine wertvolle Sammlung über jüdisches Leben in Westfalen!
Geschichte der Familie Spiegel
Jüdisches Leben in Deutschland, in Rheda seit dem 11. Jahrhundert erwähnt. Anfang des 20.Jahrhunderts gab es 58 männliche und 58 weibliche Deutsche jüdischen Glaubens in Rheda. Ende 1930 sollen es noch 120 gewesen sein. Wenige emigrierten ins Ausland, vor allem nach Amerika und Palästina. Oktober/November 1939 konnten die Verwaltungen von Rheda und Wiedenberück „Mit Zufriedenheit“ feststellen, dass „beide Städte judenfrei waren.“ So habe ich es gelesen in der dokumentierten Rede von Paul Spiegel, der1997 in Rheda gesprochen hat, als der jüdische Friedhof von Jugendlichen geschändet worden war- wahrscheinlich eine Art dummer Jungen-Streich. Er redete auf einem Friedhof, wo auf vielen Grabsteinen der Name Weinberg zu lesen war. Wörtlich sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: „Meine Mutter entstammt der Weinberg-Familie. Nicht nur meine Urgroßeltern, sondern auch zwei Brüder meiner Mutter und zahlreiche meiner Verwandten haben auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden. Ihnen allen war die grausame Zeit des Nazi-Regimes erspart geblieben.“ Sieben Generationen seiner Familie liegen hier auf dem Friedhof.
Der jüdische Friedhof, von Bürgern der Stadt gepflegt und gehegt, die Grabsteine sind gesäubert, damit man die Namen lesen kann. In der Schlosstraße/Ecke Steinweg erinnert ein Gedenkstein an die zerstörte Synagoge, Stolpersteine erinnern an jüdische Familien, die in KZs starben, eine Stele erinnert an alle jüdischen NS-Opfer, nach jüdischem Brauch werden dort immer Steine abgelegt. Die Inschrift lautet: „Wir erinnern uns an 62 jüdische Mitmenschen aus Rheda, Wiedenbrück und Herzebrock, verschleppt und ermordet von den Nationalsozialisten 1933-1945.“ Wider das Vergessen nennen die Schüler des Einstein-Gymnasiums ihr Projekt. Die Schüler haben auf dem jüdischen Friedhof Kiesel niedergelegt, die aus den Gärten der Beteiligten stammen, sie tragen die Handschrift der Schüler, um die Individualität der Opfer zu betonen. So kann dauerhafte Erinnerung aussehen. Oder wie es ein jüdisches Sprichwort, zitiert in dem erwähnten Sachor-Heft, besagt: „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung.“ Und diese Erinnerung ist auch heute, 81 Jahre nach dem Pogrom, notwendig. Wolfgang Lewe zur Begründung: „Solange noch heute Politiker mit dem Leugnen der Shoa versuchen Stimmung zu machen und Stimmen zu gewinnen, solange ist es für uns, die Nachgeborenen des Dritten Reiches, Pflicht und Aufbabe, an diese niederträchtigen Ereignisse zu erinnern und sie wach zu halten“.
Als er das sagte, gab es die rechtspopulistische AfD noch nicht, die Partei, die inzwischen in allen Parlamenten der Bundesrepublik sitzt, die Partei, die Fremdenfeinde und Rassisten und Neonazis in ihren Reihen hat wie den thüringischen Landeschef Björn Höcke, den man einen Faschisten nennen darf und der trotzdem mit der AfD ein Rekordergebnis bei den jüngsten Landtagswahlen in Thüringen erzielte. Und mit dem einige in der CDU des Landes ganz offensichtlich sprechen wollen, mit welchem Ziel auch immer. Mit jenem Höcke, der das Holocaust-Mahnmal in Berlin eine „Schande“ nannte und dennoch von seinem Parteichef Gauland gedeckt wurde, der von Umvolkung spricht und davon, dass Deutschand „nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit hat, sondern auch eine 1000jährige Zukunft.“
Im Rat der Stadt Rheda-Wiedenbrück ist die AfD nicht vertreten. Die Geschehnisse in Halle an der Saale mit dem Anschlag auf die dortige Synagoge haben auch die Bürger in Ostwestfalen mehr als geschockt. Gerade mit Blick auf die jüdische Geschichte von Rheda, mit Blick auf die Pogromnacht am 9. November 1938 sind die Worte von Paul Spiegel mehr als eine Mahnung an alle heute: „Gedenkstunden sollen nicht Wunden aufreißen, vielmehr sollen sie uns alle gemeinsam verpflichten zu einem unerschütterlichen: Nie wieder!“
Quellen: Sachor- erinnere dich! Gedenkveranstaltungen auf dem Jüdischen Friedhof in Rheda-Wiedenbrück. Hrsg. von der Stadt Rheda-Wiedenbrück. November 2017. J. Kindler/W.A. Lewe/H.Bolweg: Die Geschichte der Rhedaer Judengemeinde. Rhedaer Schriften II. 1988.
Fotos Elizabeth Lewe