Der Stechlinsee

Wiedergelesen: Theodor Fontane: Der Stechlin

Ein Klassiker, der weitgehend auf dem Lande, in der Mark Brandenburg spielt und doch mehr ist als eine Liebeserklärung an eine Landschaft, die Fontane immer wieder durchwandert hatte. Er selbst bezeichnet sein Werk als Zeitroman oder politischen Roman. Es ist ein Buch der Gegensätze und Widersprüche in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs: Hier das Ländliche mit seinen Gütern und Schlössern, den Dörflern und dem Landadel, den Junkern – dort die Preußische Metropole Berlin; hier das Alte mit König, Kaiser, Vaterland und Militär, dort das Neue mit den Liberalen und der aufstrebenden Sozialdemokratie, den Umstürzlern, den Unzufriedenen, den Massen; hier der Untertanengeist mit Pflicht und Gehorsam als dominante Verhaltensdispositionen, dort der Drang nach Freiheit, Gleichheit und Demokratie, freien Wahlen und freier Meinungsäußerung. Es ist die Zeit nach den Kriegen mit Österreich, Dänemark und Frankreich, auf die je nach Stand, Rang und Stellung mit Stolz und Selbstbewusstsein oder mit Schrecken zurückgeblickt wird, und es ist die Gründerzeit, in der die Städte und der Handel wachsen, und der Gegensatz von Stadt und Land zunimmt.

Die Kunst Fontanes besteht nun darin, dass er Gegensätze dieser Art unterläuft, indem er sie in seine Figuren und Sujets hineinholt, allen voran in den See Stechlin. Er trägt nicht nur den gleichen Namen wie der alte Major a. D. Dubslav von Stechlin (ein altes Adelsgeschlecht), und er liegt nicht nur direkt neben dessen Anwesen namens Schloss Stechlin. Obendrein symbolisiert dieser See die Weltverbundenheit, denn er hat die wundersame Eigenschaft aufzubrausen, sobald irgendwo in der Welt etwas rumort und aufbricht; sei es eine soziale Revolte oder sei es ein Vulkan, stets empfängt er die Signale und rumort mit; und wenn es ganz schlimm kommt, dann steigt in seiner Mitte wie aus einem Trichter der rote Hahn auf und kräht lauthals, so dass die Dörfler herbeieilen und staunen, bis das Federvieh sich wieder in das Gewässer senkt und verschwindet. Der See ist also kein gewöhnlicher, sondern er steht für das im Umbruch befindliche Weltgeschehen. Und ihn verbindet eine verborgene Affinität zu seinem Namensgeber: der alte Dubslav spaziert täglich zu seinem See, setzt sich auf eine Bank und sinniert über alles, was ihn bewegt, sorgt und freut; man kommt mit einer Art Geheimsprache ins Gespräch: der alte Mann und der See.

Aus dem großen Personaltableau, das die verschiedenen Stände und soziale Milieus im Roman abbildet, seien hier einige wenige Figuren herausgegriffen, die entweder Gegensätze verkörpern oder für Affinität stehen. Dafür sei kurz  das Handlungsgeschehen skizziert. Der alte Stechlin lebt seit dem Tod seiner Gemahlin allein mit seinem Diener und dem Küchenpersonal in dem arg heruntergekommenen Landsitz Schloss Stechlin. Sein Sohn Woldemar hat eine Offizierskarriere in Berlin gemacht und kommt hin und wieder zu Besuch. Er steht in enger Beziehung zum alten Graf Barby und seinen beiden Töchtern Gräfin Melusine und Comtesse Armgard, letzere wird zum Ende des Romans den jungen Stechlin heiraten. Sein Vater hat noch eine Schwester, Woldemars Tante Adelheit, eine wegen ihrer lebensfeindlichen, stockkonservativen Gesinnung gefürchtete Domina, die das Kloster und Damenstift Wutz leitet. Und schließlich der Pfarrer Lorenzen, ein aufgeschlossener, lebenskluger und ledig lebend Mann, der ein enger Vertrauter des alten Stechlin ist, nicht zuletzt, weil er einen Sinn fürs Soziale und Fortschrittliche hat.

Die Gräfin Melusine (sie hat zwei Jahrzehnte mit ihren Eltern und der Schwester in England gelebt, wo der Vater als Botschaftsgesandter tätig war) ist klug und schön, stolz und freisinnig; sie hatte einen italienischen Grafen geheiratet und sich nach nur einem Jahr Ehe wieder von ihm scheiden lassen; sie verkörpert im Roman den Typus der modernen, aufgeschlossenen Frau von Adel. Sie ist es auch, die die Bedeutung des Sees sofort verstanden hat; anlässlich ihres ersten Besuchs in der Region spricht sie davon gegenüber dem Pfarrer Lorenzen, der See sei das Beste, das die Menschen hier hätten und verbindet damit seine Symbolkraft für das Werden und Vergehen, das Alte und das Neue:

‚Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.‘

Lorenzen bezeugt freudig seine Übereinstimmung mit den Auffassungen der Gräfin: ‚Ihre Ideale (sind) auch die meinigen. Ich lebe darin und empfinde es als Gnade, da, wo das Alte versagt, ganz in einem Neuen aufzugehen. Um ein solches ‚Neues‘ handelt es sich. Ob ein solches ‚Neues‘ sein soll (weil es sein muß) oder ob es nicht sein soll, um diese Frage dreht sich alles.‘

Sie sprechen über den See und gelangen ohne Umschweife ins Philosophische und Politische; ohne das Politische direkt zu thematisieren, besteht eine geteilte Grundüberzeugung, ein gegenseitiges Verstehen und Verständnis.

Ganz anders dagegen das Verhältnis der Gräfin Melusine zur Domina Adelheid.
Sie waren eben Antipoden: Stiftsdame und Weltdame, Wutz und Windsor, vor allem enge und weite Seele.
‚Welch ein Mann, Ihr Pastor Lorenzen‘, sagte Melusine. ‚Und zum Glück auch noch unverheiratet.‘
‚Ich möchte das nicht so betonen und noch weniger es beloben. Es widerspricht dem Beispiele, das unser Gottesmann gegeben, und es widerspricht auch wohl der Natur.‘
‚Ja, der Durchschnittsnatur. Es gibt aber, Gott sei Dank, Ausnahmen. Und das sind die eigentlich Berufenen. Eine Frau nehmen ist alltäglich …
‚Und keine Frau nehmen ist ein Wagnis. Und die Nachrede der Leute hat man noch obendrein.‘
‚Diese Nachrede hat man immer. Es ist das erste, wogegen man gleichgültig werden muß. Nicht in Stolz, aber in Liebe.‘

So gehen der Disput und das Pfeileschießen zwischen den Damen immer weiter. Bis der Erzähler eingreift und sagt: Es klang alles ziemlich gereizt. Denn so leichtlebig und heiter Melusine war,  einen Ton konnte sie nicht ertragen, den sittlicher Überheblichkeit. Und so war eine Gefahr da, sich die Schraubereien fortsetzen zu sehen.

Eine der schönsten Paarungen im Roman bilden die beiden alten Herren, der Major a.D. Dubslav von Stechlin und der alte Graf Barby. Weit im Vorfeld einer direkten Begegnung stellen zwei Protagonisten (die Freunde von Woldemar Czako und Rex) schon mal einen Vergleich an. Sie meinen, es gebe nicht nur eine äußerliche, sondern auch eine innerliche Ähnlichkeit:

‚Natürlich ne andere Nummer, aber doch derselbe Zwirn. … Und wenn Sie vielleicht an Politik gedacht haben, auch da ist wenig Unterschied. Der alte Graf ist lange nicht so liberal und der alte Dubslav lange nicht so junkerlich, wie’s aussieht. Dieser Barby, dessen Familie, glaub ich, vordem zu den Reichsunmittelbaren gehörte, dem steckt noch so was von ‚Gottesgnadenschaft‘ in den Knochen, und das gibt dann die bekannte Sorte von Vornehmheit, die sich den Liberalismus glaubt gönnen zu können. Und der alte Dubslav, nun, der hat dafür das im Leibe, was die richtigen Junker alle haben: ein Stück Sozialdemokratie. Wenn sie gereizt werden, bekennen sie sich selber dazu.

Recht forsch, wie zwei Vertreter der jüngeren Generation hier die Alten beurteilen, aber wahrscheinlich auch treffend gesehen. Denn es ist Fontanes Intention, seine Hauptfiguren möglichst schillernd und uneindeutig zu charakterisieren; weder rein feudal-monarchistisch noch fortschrittlich, weder liberal noch aristokratisch orientiert, sondern je nach Situation mal mehr dies oder das. Zumal sich die Biografien der beiden Alten deutlich unterscheiden: der eine hat seine Karriere beim Preußischen Militär gemacht und es bis zum hohen Offizier gebracht, der andere im diplomatischen Dienst mit langem Auslandsaufenthalt.  Jener ist tief verwurzelt im Landadel, dieser weltoffener Großstadtbürger.

Mit Spannung erwartet man beim Lesen, wie sich die beiden Herren begegnen und verstehen. Es geschieht anlässlich der Heirat ihrer Kinder Woldemar und Armgard, zu der Duslav nach Berlin angereist kommt. Und wie erwartet versenken sie sich in ein langes Gespräch, in dem es um Politik und Krieg, Freiheit und gesellschaftliche Entwicklungen u.a.m. geht. Man versteht sich und ist aneinander interessiert. Dubslav erzählt von seinem Einsatz im Krieg gegen Frankreich, spricht von einer wunderbaren Zeit im Winter siebzig, meint damit die bis dahin nicht gekannte Fühlung mit der großen Welt; doch dann kommt auch Enttäuschung, ja Verbitterung  und Ernüchterung zur Sprache. Er spricht für den Adel als Stand oder Kaste, der von den Segnungen des Großen Friedrich, des Alten Fritz‘, wenig oder nichts abbekommen habe.

Wir hatten die Ehre, für König und Vaterland hungern und dursten und sterben zu dürfen, sind aber nie gefragt worden, ob uns das auch passe. Nur dann und wann erfuhren wir, daß wir ‚Edelleute‘ seien und als solche mehr ‚Ehre‘ hätten. Aber damit war es auch getan. … Wir waren Rohmaterial und wurden von ihm mit meist sehr kritischen Augen betrachtet. Alles in allem, lieber Graf, find ich unser Jahr dreizehn eigentlich um ein Erhebliches größer, weil alles, was geschah, weniger den Befehlscharakter trug und mehr Freiheit und Selbstentschließung hatte. Ich bin nicht für die patentierte Freiheit der Parteiliberalen, aber ich bin doch für ein bestimmtes Maß von Freiheit überhaupt. Und wenn mich nicht alles täuscht, so wird auch in unsern Reihen allmählich der Glaube lebendig, daß wir uns dabei – besonders auch rein praktisch-egoistisch – am besten stehn.

Mit seiner kritischen Einschätzung der Heeresführung Friedrichs II., der es an Wertschätzung und Partizipation der Offiziere mangeln ließ, liegt Dubslav ganz auf der Linie des Grafen (erstaunlich der Ausdruck Rohmaterial, der an den des Kanonenfutters für die unzähligen Opfer des bevorstehenden Ersten Weltkriegs gemahnt). Erst recht gefallen diesem die libertären Wünsche und Vorstellungen, die hohe Wertschätzung von Freiheit seines Gesprächspartners. Stechlin rekurriert auf die Völkerschlacht bei Leipzig im Jahr 1813, um auf den Unterschied in den hierarchischen Strukturen des Militärs aufmerksam zu machen; hier jedenfalls habe es mehr Freiheit und Selbstentschließung gegeben als unter Friedrich im deutsch-französischen Krieg.

Der Graf wiederum steuert zum Gespräch bei, wie er nach langen, langen Jahren aus der Fremde wieder hierher zurückkam und ihm vieles nicht gefallen habe und bis heute nicht gefalle. Überall ein zu langsames Tempo. Wir haben in jedem Sinne zuviel Sand um uns und in uns, und wo viel Sand ist, da will nichts  recht vorwärts, immer bloß hü und hott.

Mit dem Blick von außen und der Möglichkeit des Vergleichs mit England haben sich dem Grafen die Defizite der gesellschaftlichen Entwicklung in Preußen und Deutschland erschlossen. Zur Erklärung der Langsamkeit des Tempos bemüht er den märkischen Sand als Metapher: auf Sand gebaut, im Sand steckenbleiben, Sand im Getriebe – all das behindert den Fortschritt. Und so kommen sich die beiden Alten immer näher und lernen sich kennen und wertschätzen. Es war die erste und zugleich die letzte Gelegenheit dazu, denn bald nach diesem Treffen stirbt Dubslav in seinem Stechlin.

Die Grabrede hält Pfarrer Lorenzen, der Vertraute und Freund. Diese Ansprache verrät noch einmal die Eigenschaften und menschlichen Qualitäten des Verstorbenen – nicht nur, wie Lorenzen ihn gesehen, sondern vor allem auch, wie Fontane ihn „gemacht“ hat.

… Sein Leben lag aufgeschlagen da, nichts verbarg sich, weil sich nichts zu verbergen brauchte. Sah man ihn, so schien er ein Alter, auch in dem, wie er Zeit und Leben ansah; aber für alle, die sein wahres Wesen kannten, war er kein Alter, freilich auch kein Neuer. Er hatte vielmehr das, was über alles Zeitliche hinaus liegt, was immer gilt und immer gelten wird: ein Herz. Er war kein Programmedelmann, kein Edelmann nach der Schablone, wohl aber ein Edelmann nach jenem alles Beste umschließenden Etwas, das Gesinnung heißt. Er war recht eigentlich frei. … Er hatte keine Feinde, weil er selbst keines Menschen Feind war. Er war die Güte selbst, die Verkörperung des alten Weisheitssatzes: Was du nicht willst, das man dir tu‘. …

Hier wird ein wahrhafter Humanist zu Grabe getragen, ein Menschenfreund mit einer Gesinnung, die sich gleichermaßen am Alten (Monarchie, Ständestaat etc.) wie am Neuen (Liberalismus, Sozialdemokratie) orientiert, ohne einer Partei oder Gruppierung anzuhängen, ein Freier, wie er im Buche steht.

Fontanes hat dieses Buch als politischen oder Zeitroman geschrieben, mit dem Anspruch, den Geist der Zeit durch seine Hauptfiguren lebendig und in aller Widersprüchlichkeit zum Ausdruck zu bringen.  Das dürfte ihm gelungen sein. Zusammen mit Heinrich Manns Der Untertan oder Joseph Roths historischen Romanen über das Habsburgische Reich (vor allem Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft) bewahren diese Werke ein Geschichtsbewusstsein, das mehr oder anderes lehren kann als die historische Forschung selbst, zumindest sind sie eine ideale Ergänzung derselben.

Bildquelle: Pixabay, KleeKarl, Pixabay License

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Dr. Petra Frerichs, Studium der Literatur- und Sozialwissenschaften, schreibt über Literatur (und Kunst), am liebsten gegen das Vergessen von guten alten Sachen.


'Wiedergelesen: Theodor Fontane: Der Stechlin' hat einen Kommentar

  1. 25. Mai 2019 @ 20:16 Kai Ruhsert

    Danke für diese Rezension.
    Das wird zu meiner nächsten Urlaubslektüre gehören.

    Antworten


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