Der Schriftsteller Wilhelm Genazino starb vor einem Monat im Alter von 75 Jahren. Er erhielt für sein umfangreiches literarisches Werk zahlreiche Preise; u.a. den renommierten Büchner-Preis.
In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen, die 2006 unter dem Titel Die Belebung toter Winkel im Hanser Verlag erschienen sind, reflektiert er die Eigentümlichkeiten und Motive seines Schreibens. Bereits der Titel des Bandes gibt Hinweise auf den besonderen Blick, mit dem der Autor im Abseitigen und scheinbar Nebensächlichem nach dem Poetischen sucht. Für ihn werden so banale Dinge wie abgelegte Kleidungsstücke, Schubladen, alte Fotos, eine Taschenlampe, Koffer, Kartons oder Schachteln zu poetischen Objekten, indem sie mit dem Betrachtenden eine heimliche Allianz eingehen und wundersam an Bedeutung gewinnen.
Ein erstes Beispiel: Beim Finden eines Geldbeutels im Schmutz des Straßenrands. Schon der Fundort hat mich bewegt. Die Dinge überleben an ungenannten, unnennbaren, vielleicht unsagbaren, auf jeden Fall unsäglichen Orten. Sie werden (vielleicht) kurz vor ihrer endgültigen Vernichtung bemerkt und erhellen damit prismatisch den Bruchbudencharakter des modernen Lebens. Ihre Poesie ist weltabweisend und dadurch weltverstärkend: Das Poetische offenbart sich in abwegigen Details. Ich hob den Geldbeutel auf und öffnete ihn. Plötzlich schaute mich hinter einer Klarsichtfolie, aus der längst eine Schattenfolie geworden war, das Foto einer Frau an. Sie war nicht mehr jung, sie war nicht mehr schön, sie war nicht mehr verheißungsvoll. Ich hatte sofort das Gefühl: Die Frau ist tot, und ich bin der letzte, der ihr Bild anschaut. Ich legte den geöffneten Geldbeutel auf meine flache Hand und sah, daß er mir das Zittern kurz vor seiner Vernichtung zeigte. Man kann das Poetische einen gemeinsamen Blitzschlag von Zeitempfindung und Dingempfindung nennen.
Die Entdeckung des Poetischen im Beiläufigen geht genau genommen also nicht auf eine gezielte Suche zurück, sondern es ist ein Herbeiführen, Erfinden, ein besonderes Wahrnehmen der Dinge durch den Betrachter und seine Deutung. Dieser Zusammenklang macht den Dichter zum Hermeneutiker und Epiphaniker. Dichter verhalten sich, so Genazino, wie Kinder beim Entdecken des Magischen in den Dingen. Mit einer gewissen somnambulen Sicherheit suchen Dichter und Kinder das Poetische an seinen Nistplätzen auf und eröffnen Verhältnissen der freundlichen Belauerung. In den Dingen ist Magie, in den Dichtern ist Magieerwartung. Die internen Beleuchtungsverhältnisse des Poetischen wechseln schnell und heftig; mal fällt die Undeutlichkeit in der Präzision auf, dann wieder die Präzision in der Undeutlichkeit. Ein berufsmäßiger Epiphaniker hat ohnehin den Eindruck, in einen milden Beziehungswahn verwickelt zu sein. Aber wer Magie erwartet, muß seine Möglichkeiten überschreiten. Eine Epiphanie ist dann echt, wenn ihr Ergebnis tönt, schwebt, vibriert. Das Poetische verwandelt sich zuerst in eine Epiphanie und dann in eine unerhörte Nähe zu etwas, wozu sonst keine Nähe möglich ist.
In der fünften und letzten Vorlesung entwickelt der Autor schließlich eine Poetik des Augenblicks und der Epiphanie, indem er sich auf die drei wichtigen Augenblicks-Autoren Marcel Proust, James Joyce und Virginia Woolf bezieht.
Ist es bei Proust das Konzept der unwillkürlichen Erinnerung, so bei Joyce das der Epiphanie. Darunter war ursprünglich so etwas wie eine Gotteserscheinung zu verstehen; mit der Zeit profanisierte sich die Bedeutung des Begriffs; heute bezeichnet man damit eine sonderbare, oft magische Erscheinung. Was genau versteht Genazino darunter?
Eine Epiphanie ist für uns das, was uns zwar zufällig, aber zwingend einfällt, wenn wir ein Ding, ein Foto oder ein Kunstwerk länger als nötig betrachten und dabei den Appellcharakter der Gegenstände wahrnehmen. Eine Epiphanie ist für uns das, was uns momentweise einleuchtet und bewegt, was wir einen Tag später aber schon wieder vergessen, weil uns schon morgen eine neue Epiphanie einfällt oder überrascht, die wir als Möglichkeit von Sinn zwar ernstnehmen, aber nicht absolut setzen, weil wir von der Zufallswirklichkeit des Bewußtseins wissen. Unser assimilierender Blick verknüpft uns mit vielen fremden Momenten und baut sich unbewußt mit den Ergebnissen anderer, früherer Blicke neu zusammen. Denn alles, was wir immer wieder und länger als nötig anschauen, beginnt eines Tages in uns zu sprechen. Diesen inneren Text, quasi als Selbstkommentar unseres unentwegt erlebenden Ichs, wollen wir hören, er ist der Lohn unserer Seh-Arbeit.
Während die Ästhetik des Augenblicks und der Epiphanie bei Proust und Joyce noch von der Autonomie und Souveränität des Subjekts ausgegangen war, so radikalisiert sie sich bei Virginia Woolf dahingehend, diese Voraussetzung zu hinterfragen oder in Frage zu stellen. Nicht vom autonomen Ich, sondern von seiner Depersonalisierung oder Zerstückelung ist auszugehen.
Der Antagonismus läuft wie von selbst auf eine dauerhafte Spaltung unseres Selbst hinaus, die nicht mehr von allen Menschen psychisch diszipliniert werden kann. Kein Autor der Moderne hat diese Aufspaltung des Subjekts gültiger und eindrucksvoller beschrieben als Virginia Woolf. In keinem anderen Werk wird das Hin- und Herpendeln des Ichs zwischen Verzückung und Vernichtung, zwischen Seligkeit und Finsternis so schmerzlich präzise vor uns ausgebreitet. Von allen Epiphanikern der Moderne ist Virginia Woolf deswegen die fortgeschrittenste, weil sie die Schwankungsbreite des modernen Ichs zeigt und gleichzeitig dessen Identitätszwang. Insbesondere der Erfahrungsraum der Großstadt ist es, der ihre kritische Auseinandersetzung mit dem modernen Leben herausfordert: die überbordenden Reize; der Lärm; die Hetze; die Hässlichkeit; die Zerfaserung der Wahrnehmung – das alles führt zu einem Chaos an Eindrücken, die der Mensch kaum noch verarbeiten kann.
Der Identitätszwang nötigt (nach Adorno) das Individuum, unter allen Umständen, d.h. gegen alle Diffusion, ein Ich auszubilden und dies lebenslang zu bleiben, als wäre es frei und autonom, darüber zu verfügen; als gäbe es die Gegenkräfte der Aufspaltung und Zerstückelung des Ich nicht, die diesen Zwang zur unerfüllbaren Zumutung machen.
Gegen die Verbreitung von psychischen Erkrankungen und anderen Entfremdungserscheinungen (als Folge der hier beschriebenen Phänomene), bei denen nicht mehr der Mensch auf die Dinge schaut, sondern die Dinge auf den Menschen schauen (z.B. mit der penetranten Aufforderung zum Kaufen) kann eine Poetik, wie sie Wilhelm Genazino entfaltet, vielleicht ein wirksames Gegengift sein. Denn damit lernen wir, etwa ein altes, abgelegtes Kleidungsstück mit anderen Augen zu sehen und wertzuschätzen, weil es wundersam und urplötzlich an Bedeutung gewonnen hat.
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