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Tugenden tun Not – Anmerkungen zu Peer Steinbrücks Buch vom „Elend der Sozialdemokratie“

Jürgen Brautmeier Von Jürgen Brautmeier
3. März 2018
Peer Steinbrück

Der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident, Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat ein Buch über das „Elend der Sozialdemokratie“ geschrieben. Die Aufmerksamkeit der Medien ist gesichert, die PR-Maschinerie für Mann und Werk funktioniert, weil ein Elder Statesman dem Leser und vor allem seiner eigenen Partei, mit der er spätestens seit seiner gescheiterten Kanzlerkandidatur auch öffentlich gehadert hat, den Spiegel vorhält. Derartige Betrachtungen und Abrechnungen kommen immer gut, versprechen sie doch Munition für Freund und Feind in der politischen Auseinandersetzung um die Deutungshoheit der vergangenen Ereignisse und die zukünftige Ausrichtung der Partei, hier der SPD. Interessant ist aber, worauf sich die mediale Aufmerksamkeit bei Steinbrücks Buch als erstes richtet.

Pünktlich zum Erscheinen Anfang März veröffentlicht die Zeit nämlich vorab einen Textauszug, in dem es, so die Überschrift, um „Zivilität und Umgangsformen“ geht. Auch der Spiegel bringt fast zeitgleich ein Interview mit dem Politiker, das um dieses Thema und um „linksliberale Tabus“ kreist, regionale Zeitungen berichten entsprechend. Dass die Zeit das Thema aufgreift, lässt einen unwillkürlich an ihren ehemaligen Mitherausgeber, Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt denken und sein damaliges Lob der bürgerlichen Tugenden, zu denen er Verantwortungsbewusstsein, Pünktlichkeit, Ordnung, Fleiß usw. zählte, die von Kritikern gerne als Sekundärtugenden oder als preußische Tugenden charakterisiert und von Oskar Lafotaine in einem Stern-Interview 1982 giftig abqualifiziert wurden – damit könne man „auch ein KZ betreiben.“

Jenseits der Marketingstrategie und der Frage, mit welchen Aufmachern das Buch am besten zu vermarkten ist, verdienen Steinbrücks Gedanken zu diesem Thema aber – nicht nur wegen der politischen Vergangenheit des Autors – Aufmerksamkeit. Er schreibt, und das lohnt sich zu zitieren, über „Merkmale, die unser Zusammenleben ausmachen, eine ungeschriebene Verfassung unseres Landes, die sich maßgeblich in der Übernahme von Verantwortung und Umgangsformen zeigt. Dazu gehören Rücksichtnahme auf den Mitbürger, Respekt, Toleranz, Selbstverantwortung für das eigene Handeln (und Unterlassen), die Achtung staatlicher Institutionen und die Beachtung von Regeln, Gemeinwohlorientierung und Vorbildfunktion.“ Das sind sie, die preußischen Tugenden, Helmut Schmidt lässt grüßen. Steinbrück beklagt insgesamt den „Verlust an zivilisatorischen Standards“ und hat das „Gefühl, dass Umgangsformen auf den Hund gekommen sind und Anstandsregeln in Zeiten des extremen Egoismus nicht mehr viel gelten.“

Anders als bei der Diskussion in den 1980er Jahren wird jetzt höchstwahrscheinlich lauter Protest zu derartigen Sätzen ausbleiben. Man muss kein Prophet sein um vorauszusagen, dass Steinbrücks Beschreibungen und Einsichten heute bestimmt nicht mehr so vehement zurückgewiesen werden wie die von Helmut Schmidt anno 1982, auch nicht aus dem eigenen Lager. Dazu sind die Belege zu offensichtlich und jedermann vor Augen, von der Vermüllung in der Landschaft über das Mobbing in der Schule oder manchen Schrott im Fernsehen bis zu den unsäglichen Kommentaren und Entblößungen – um nicht zu sagen Entblödungen – in den sozialen Medien. Fast jeder wird Steinbrücks Beispiele mit seinen eigenen Alltagserfahrungen bestätigen und ergänzen können, deshalb wird es nennenswerten Widerspruch kaum geben.

Die Frage ist nur, was daraus folgt. Und wie die politische Debatte weiterläuft. Tugenden und Regeln beruhen auf Einstellungen, Werten, Erziehung, die sowohl präventiv als auch repressiv gesteuert werden können. Einerseits kann der Staat, wenn es zu Fehlentwicklungen gekommen ist, die Regeln verschärfen, ihre Einhaltung strenger kontrollieren und die Sanktionen bei Fehlverhalten spürbarer werden lassen. Andererseits kann er – wie auch Eltern und Pädagogen – durch Erziehung und Bildung mehr für die Vorbeugung tun. Letzteres ist immer gut, aber ersteres stärkt natürlich den Staat und schwächt die individuelle Freiheit. Genau darüber muss gestritten bzw. die richtige Balance zwischen beiden Ansätzen gefunden werden.

Das ist nicht neu und das damit verbundene Dilemma wird auch durch Steinbrücks Positionierung nicht geringer. Aber es ist zu hoffen, dass seine Ansichten auch diejenigen zum Nachdenken bringen, die in der Vergangenheit Werte und Tugenden weniger wichtig genommen haben als Freiheit und Selbstentfaltung. Es bedarf einer Neujustierung, keine Frage. Wenn ein Mann wie Peer Steinbrück- in der Tradition Helmut Schmidts – zu derartigen Einsichten kommt, die ihm manche als Besserwisserei und andere als Altersweisheiten vorhalten werden, dann könnte das dennoch ein neuer Auslöser für eine Debatte sein, die vieles aufgreift von der Unzufriedenheit und dem Unbehagen, das in der Gesellschaft zu spüren ist. Dieses Unbehagen treibt den Populisten Anhänger zu, die sich in den traditionellen Parteien und hier besonders in den beiden Volksparteien CDU und SPD mit ihren Anliegen und Interessen nicht mehr wiederfinden. Bei zu vielen Menschen in unserem Land schwindet nicht nur der Respekt vor den Mitmenschen, sondern auch das Vertrauen in die Politik und den Staat, wenn Werte und Tugenden nicht hochgehalten und geachtet, wenn ihre Respektierung und ihr Schutz vernachlässigt werden.

Steinbrücks Ruf nach Zivilität und Umgangsformen sollten wir hören; er hat ihn nicht nur an die SPD gerichtet, sondern an uns alle.

Bildquelle: flickr, SPD Schleswig-Holstein, CC BY 2.0

 

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Tags: GesellschaftPeer SteibrückRespektSelbstverantwortungSPDToleranzTugendenWerteZivilität
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