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Ein Urteil 79 Jahre danach?

Alfons Pieper Von Alfons Pieper
1. August 2024
Konzentrationslager Stutthof

Die bundesdeutsche Justiz hat sich nach dem Krieg bei der versuchten Aufarbeitung von millionenfachem Unrecht, begangen durch Richter während der NS-Zeit, nun wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. Jetzt, 79 Jahre nach dem Untergang des schlimmsten aller deutschen Reiche, will der Bundesgerichtshof Recht sprechen. Es geht um die Tätigkeit einer 99jährigen ehemaligen Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof. Die Frau sitzt im Rollstuhl, sie wird am Ende höchstens eine symbolische Strafe erhalten, man wird die Greisin schwerlich einsperren können. Zudem: Die großen Nazis sind längst tot, sie haben sich das Leben genommen, das sie zuvor Millionen anderen verleidet hatten. Viele der  Nazi-Täter kamen davon, lebten unter uns, machten Karrieren. Die Justiz, teils selbst belastet, interessierte sich nicht für sie. Im KZ Stutthof in der Nähe von Danzig wurden 60000 Menschen, zumeist, Juden umgebracht.

Irmgard F. war 2022 vom Landgericht Itzehoe zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden. Wegen Beihilfe zum Mord in 10505 Fällen und zu fünf Mordversuchen. Die einstige Sekretärin legte Revision ein, nun muss der BGH in Leipzig eine Entscheidung fällen. Irmgard F. , lese ich, sei die einzige Stenotypistin des Kommandeurs im KZ, Paul Werner Hoppe, gewesen. Die Haftbedingungen dort seien ab Juni 1943 so lebensfeindlich gewesen, dass Gefangene gestorben seien: sie erfroren, verhungerten, kamen an Fleckfieber um, an den Schikanen der Wärter und später durch Zyklon B oder nach dem Transport ins KZ Auschwitz. Irmgard F. habe das alles gewusst, weil sie für den gesamten Schriftverkehr verantwortlich war, einer „für die Ermöglichung der Tatausführung wesentlichen Tätigkeit“. Von ihrem Büro aus habe sie einen Großteil des KZ überblickt, den täglich präsenten Geruch von verbranntem Menschenfleisch habe sie in jedem Fall wahrnehmen müssen. Kurz: Den Massenmord habe sie billigend und in „gefühlloser Gesinnung“ hingenommen. (zit. aus der SZ, 1. August 2024)

Es geht noch weiter mit dem Fall von Irmgard F. Bundesanwalt Udo Weiß(wiederum zitiert nach SZ) weist der Angeklagten offenbar eine wichtige Rolle im KZ zu. Allein durch ihre Dienstbereitschaft habe sie dem Kommandanten des KZ „psychische Beihilfe“ geleistet, sie habe gewusst, dass dieser „durch die lebensfeindlichen Bedingungen den Tod eines Großteils der Häftlinge wesentlich herbeiführte“. Deshalb seien die Morde im KZ Stutthof so zu behandeln wie Morde in einem Vernichtungslager: als eine Einheit. Deshalb habe sich Irmgard F. der Beihilfe an allen Morden schuldig gemacht, die während ihrer Dienstzeit begangen wurden. Irmgard F. in einer Art Schlüsselrolle am Schreibtisch, an der Umsetzung geplanter Tathandlungen beteiligt.

Ich habe vor Jahren das Buch von Pro. Ingo Müller „Furchtbare Juristen“ gelesen. Das Grundsatz-Werk hat die Unterzeile: „Die unbewältigte Vergangenheit der Deutschen Justiz“. Darin klagt Müller die Juristen der Nazi-Zeit an, die einfach weitermachen durften nach 1945, als wäre nichts gewesen. Ausgerechnet die zumeist Männer sollten weiter Recht sprechen, was sie zuvor über viele Jahre nicht getan hatten. Sie hatten verurteilt, Basis war die NS-Linie, nicht das Recht, sie sprachen Unrecht, wie es der Führer befohlen hatte. Jahrelang konnte sich kaum jemand im Deutschen Reich auf Recht verlassen, auch wenn er im Recht gewesen wäre. Es wurde ihm einfach von den Männern in den schwarzen Roben abgesprochen.

Furchtbare Juristen hieß sie Prof. Ingo Müller, ein Begriff, den er von Rolf Hochhuth übernommen hatte. Hochhuth, der 2020 verstorbene Dramatiker, der mit seinem Werk „Der Stellvertreter“ internationalen Erfolg erzielt und der sich wiederholt mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt hatte, hatte den baden-württembergischen Ministerpräsidenten und ehemaligen Wehrmachtsrichter Dr. Hans Karl Filbinger(CDU) wegen einiger Urteile aus der Kriegs- und Nachkriegszeit einen furchtbaren Juristen genannt. Filbinger stellte Strafantrag, Hochhuth wurde freigesprochen, der CDU-Politiker Filbinger musste von seinem Amt als Regierungschef in Stuttgart zurücktreten. In dieser öffentlichen und gerichtlichen Auseinandersetzung fiel Filbingers „erstaunt ungläubige Äußerung, dass heute doch nicht Unrecht sein könne, was damals Recht war“. So hat es Prof. Müller auf der Seite 7 des angeführten Werks geschrieben. Und weiter ist von ihm zu lesen: „Dieser Ausdruck der Unbelehrbarkeit, das Beharren auf der Rechtmäßigkeit der unmenschlichen Justiz des Dritten Reichs, zeigte erst die ganze Furchtbarkeit jenes Juristen und vieler Berufskollegen seiner Generation, denn der Marinerichter a. D. war kein Einzelfall.“

Weiß Gott nicht. Im Prozess gegen Irmgard F. verlas der Anwalt Onur Özata eine Art Appell, in dem er die Fehler der Vergangenheit offenlegte: „Von 100000 Tätern in der NS-Zeit seien lediglich 200 verurteilt worden. Diese Bagatellisierung war deutsche Staatsräson.“ Man könnte hier Urteile des Bundesgerichtshofs aus 1959 anführen. So hatte der BGH dem früheren SS-General Simon das Richterprivileg zugebilligt, schreibt Prof. Müller, jenem Simon, „der noch in den letzten Stunden des Krieges jeder Rechtlichkeit hohnsprechenden Standgerichtsurteile mit der Bemerkung- Aufhängen muss man diese Kerle, alle!- bestätigt hatte“. Aufarbeitung von NS-Unrecht? Da darf man an die Zwangsarbeit erinnern, die Kriegsgefangene leisten mussten zum Wohle der deutschen Industrie. So kann man auch reich werden. Man darf, wiederum zitiert nach Prof. Müller, an den Fall des Gauleiters Florian erinnern und des Standgerichtsvorsitzenden Brumshagen, „die in letzter Minute vor dem Rheinübertritt alliierter Truppen den Chef der Düsseldorfer Schutzpolizei, Jürgens, hatten erschießen lassen. Sie wurden freigesprochen. Die Begründung ist reiner Hohn.

Oder nehmen wir die Mitglieder der Wannseekonferenz, die es sich bei einem französischen Cognac in einer Villa am Berliner Wannsee 1942 gutgehen ließen und darüber berieten, die elf Millionen Juden in Europa umzubringen.  Mit dabei neben Adolf Eichmann, Roland Freisler, Chef des Volksgerichtshofs, Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts auch ein gewisser Dr. Gerhard Klopfer, Staatssekretär mit hohem SS-Rang in der Nazi-Parteikanzlei, Mitglied der NSDAP seit 1933, Stellvertreter des Hitler-Stellvertreters Martin Bormann. Dieser Gerhard Klopfer konnte nach dem Krieg bei seiner Vernehmung einfach behaupten, er sei bei den Gesprächen am Wannsee davon ausgegangen, dass die Juden nur umgesiedelt würden. Dabei hatte Heydrich klar erläutert, wie die im Herrschaftsbereich der SS liegenden europäischen Länder systematisch von Juden gesäubert werden sollten. Sie sollten auch zur Arbeit herangezogen werden, dabei seien Verluste in Kauf zu nehmen, auch durch Hunger. Klopfer wurde als „minderbelastet“ zu einer kleinen Geldstrafe und dreijähriger Bewährungsfrist verurteilt. Er wurde dann in einer Stadt in Baden-Württemberg ein erfolgreicher Rechtsanwalt, war ein angesehener Bürger, ein freundlicher Mann, der stets gute Manieren an den Tag gelegt und beim Grüßen den Hut gezogen habe. So wurde er gelobt. Empörung löste dann die Todesanzeige in der Zeitung aus, in der es u.a. hieß, “ nach einem erfüllten Leben zum Wohle aller, die in seinem Einflussbereich waren“. Das war offensichtlich zu viel. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, reagierte auf die Todesanzeige mit „fassungslos“. Die Medien kommentierten, wie aus einem Schreibtischtäter ein Wohltäter werden sollte.

Aufarbeitung der NS-Justiz? Eher war es ein jahrelanges Beschweigen der Vergangenheit, das Ziel die Integration der Täter in die neue Demokratie(Hermann Lübbe). „Dass der Friede mit den Tätern auf dem Rücken der Opfer geschlossen wurde, war ein hoher Preis für diese Integration“, so Prof. Müller.

„Besser jetzt als nie“ überschreibt die SZ ihren Kommentar zum Prozess gegen Irmgard F.  Ja, es stimmt, ohne all die Mitwirkenden, die vielen Rädchen hätte das System der Nazi-Vernichtung nicht funktioniert. Und es ist gut, wenn die letzten KZ-Überlebenden ihre einstigen Peiniger wiedererkennen und sie anzeigen. Und wenn sie ihre leidvolle Geschichte erzählen dürfen, endlich, nach so vielen Jahren. Und es ist gut, dass Irmgard F., mit der ich kein Mitleid habe,  diese Geschichte sich anhören muss. Dazu gehört aber auch: Die deutsche Justiz, die deutschen Regierungen haben sich für all das nach 1945 nicht interessiert, der Wiederaufbau stand im Vordergrund, nicht die Strafverfolgung von mutmaßlichen NS-Verbrechern. Letztere wurden unter den Teppich gekehrt.  Jetzt, 79 Jahre nach dem Ende des Krieges und der braunen Diktatur, kann man schwerlich nachholen, was man früher versäumt hatte. Irmgard F. wird als eine Art Schlüsselfigur bezeichnet. Unschuldig war sie sicher nicht, aber sie war keine der großen Täter, sie war keine furchtbare Juristin.  Wie so viele andere, die einfach davon kamen. Zu Unrecht. Weil die Justiz über viele Jahre sich eher für Ladendiebe interessierte.

Und doch schuldig? Rechtsanwalt Förster betonte, wie wichtig das Verfahren sei, für das Erinnern an den Holocaust. „Mord verjährt nicht und die Gerechtigkeit hat kein Verfallsdatum, sowohl für die Täter, die Täterin in diesem Falle, als auch die Opfer. Ich habe eine Zeugin im Ohr, die gesagt hat: Die Gelegenheit, vor Gericht ihr Erleben bekunden zu können, sei für sie, als hätte sie Blumen niedergelegt auf dem nicht vorhandenen Grab ihrer Angehörigen.“

Bildquelle: Pixabay, Bild von Jan Pedersen, Pixabay License

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