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Gegen das Vergessen: Wolfgang Schreyer: Nebel – ein Wende-Roman

Wolfgang Schreyer (1927-2017) war einer der meistgelesenen Schriftsteller der DDR. Er schrieb über 40 Bücher; darunter zahlreiche gesellschaftskritische Kriminal-, Abenteuer- und Science-Fiction-Romane, die eine Gesamtauflage von fast 6 Millionen erreichten. Hinzu kamen Film- und Fernsehdrehbücher. 1956 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis. Er lebte in Ahrenshoop an der Ostsee. Hier besuchten wir ihn 2013, um seine Sicht der Dinge kennenzulernen.

Nach der Wende geriet er nahezu in Vergessenheit. Das erstaunt umso mehr, als Schreyer mit seinem Roman Nebel (1991) einen Wende-Roman vorgelegt hat, der auch dreißig Jahre danach  noch lesenswert ist. In seinem Roman schildert er, wie die Sicherheitsorgane der DDR teilweise mit allen Mitteln versuchten, die aufkommenden Proteste im Keim zu ersticken. In drastischen Szenen wird das damalige Geschehen dargestellt, und zwar auf der Grundlage von Augenzeugenberichten. Diese Sicht von unten relativiert das Bild von der friedlichen Revolution doch erheblich und ist ein wichtiger Beitrag zur geschichtlichen Aufarbeitung der Ereignisse von 1989.

Schreyer sagte über sein Schreiben: Es mag gut sein, als Schriftsteller richtige Antworten auf Fragen der Zeit zu geben, und schön, sich in dieser Hoffnung zu wiegen. Doch es sollten keine fertigen Antworten sein. Sonst fehlte alles, was zu ihnen führt, das Suchen, die Rückschläge, der ganze Erfahrungsprozess, der wirklich zählt – für den Autor wie für den Leser. Die seelischen, materiellen und politischen Tatsachen des Lebens sind es, die beide verbinden, in gemeinsamem Nachdenken, das am Anfang und am Ende allen bewussten Handelns steht.

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In der Hauptfigur seines Romans, dem 42jährigen Hauptmanns Christian Wendt, schildert Schreyer den Prototypen eines pflichtbewussten Kriminalbeamten, der an die zivilisatorische Bedeutung von  Ordnung und Disziplin glaubt, ohne die seiner Meinung nach eine Gemeinschaft nicht funktionieren würde. Äußerlich mochte Wendt ein Dutzendtyp sein. Er hatte ein mageres Gesicht mit derbem Mund, gekerbtem Kinn, kurzgeschnittenem schwarzem Haar und eigentümlich hellen Augen, um deren Winkel sich Fältchen drängten. Er war als einfallsreicher Ermittler und unermüdlicher Arbeiter mehrfach ausgezeichnet worden. Seine Ehefrau fühlte sich auf die Dauer von Wendt vernachlässigt und hatte ihn vor einem halben Jahr verlassen. Seitdem neigt er dazu, sich mit der Bemerkung, er sei an sinkende Schiffe gewöhnt, in aussichtslose Fälle zu verbeißen.

Um dem Stimmungstief zu entkommen, in das er seit der Trennung von seiner Frau geraten war, lässt sich Wendt in den Nordbezirk versetzen. Hier wird er mit dem Fall einer Einbruchs-Serie betraut, die seit einigen Wochen die Gegend verunsichert. Er kommt mit dem Fall nicht voran. Zu seiner persönlichen Krise scheint sich eine berufliche hinzuzugesellen; oder bedingen sich beide gar? Nach einem dieser Tage, die Wendt mit Routinearbeiten verbringt, überkommt ihn das Gefühl von Leere und Erfolglosigkeit. Der Fall, der ihn herführte, schien so verzwickt wie all das übrige, in das er verwickelt war – von seiner privaten Situation bis zur Weltlage. Wie oft am Abend fühlte er sich nutzlos, verbraucht, ausgelaugt; nur morgens beim Aufstehen war es manchmal noch schlimmer. Man kam halt schwer darüber hinweg, wenn einem nach soviel Jahren die Familie zerbrach, es war dann eigentlich kein Leben mehr. Aber Wendt kämpft gegen seine Stimmung an: Ein verlorener Tag … Dieser Gedanke rief seinen Widerspruch hervor, blies den Funken Ehrgeiz an, der nach zwanzig Berufsjahren unverändert in ihm glomm. Er will den Fall unbedingt lösen.

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Eines Tages erhält Wendt den Auftrag, den Romanautor Nebel zu empfangen. Ein solcher Charakter konnte Wendt nicht gefallen. Zumal der Mann auf der Suche nach literarischen Stoffen etwas über die Funktionsweise des Polizeiapparates erfahren möchte. In den Worten von Wendts Vorgesetztem Fink: Der Mann sucht Nervenkitzel, damit verdient er sein Geld, wir aber zeigen ihm die Qualität unserer Arbeit.

Der Mann wirkte ganz locker und spontan. Unfeierlich sprach er drauflos, ohne erkennbare Taktik. Von ihm ging wenig Würde oder Ehrgeiz aus. Nebel tat, als kenne er kein Tabu, als gelte für ihn allein das Lustprinzip, beruflich wie privat. Alles machte ihm Spaß, er war kein aggressiver Mensch, und seine Eitelkeit war schwach entwickelt oder gut versteckt. Es störte ihn offenbar kaum, daß Wendt von seinem Werk außer einem Mafia-Roman fast gar nichts kannte. Er schien mehr darauf stolz zu sein, daß er noch so fit war, so vital. Er gestikulierte lebhaft, als habe ihn beim Schreiben des Romans die Mentalität der Sizilianer angesteckt. Sprach von Problemen beim Recherchieren, bei der Materialbeschaffung – andere Schwierigkeiten gab es für ihn nicht.

Obwohl Wendt wenig Neigung verspürt, sich auf die Wünsche Nebels allzu sehr einzulassen, entwickelt sich zwischen den Beiden ein interessanter Dialog: Nebel geht es keineswegs um krude Dinge wie Affekthandlungen, Tötung im Streit, aus Eifersucht, unter Alkoholeinfluss o.ä. Nicht diese isolierten Delikte interessieren ihn. Als Wendt bemerkt, jede Straftat sei ein individueller Vorgang, entgegnet Nebel: Nicht Ihrer Meinung. Sehen Sie, ich bin jemand, der politisch denkt, Mord und Totschlag an sich reizen mich nicht. Solange ein Bezug aufs große Ganze fehlt, die gesellschaftliche Dimension. Daraufhin erwidert Wendt, mit organisiertem Verbrechen könne er nicht dienen. Vielleicht im nächsten Jahrtausend.

Das hatte er so dahin gesagt, und so, wie er es gelernt hatte, war das immer noch die offizielle Lesart. Damit lässt sich Nebel natürlich nicht so einfach abspeisen: Er konfrontiert Wendt mit Tatsachen, die er aus Recherchen über Vorkommen in anderen sozialistischen Ländern kennt: die Drogenkriminalität und das Bandenwesen in der Sowjetunion; die Rauschgift-Transfers in Bulgarien; der Waffenexport der Tschechoslowakei. Sie gucken skeptisch, Herr Wendt? Nein, ich rede nicht von moralischen Kategorien. Nur von der Tatsache, daß im Waffengeschäft, egal ob privat oder staatlich, die Lebenserwartung der Beteiligten deutlich unter dem statistischen Durchschnitt liegt. Wer mit Sprengstoff hantiert, der fliegt leicht selber in die Luft.

Als Wendt ihm antwortet: Sie träumen von einem Utopia, einer waffenfreien Welt, spielt Nebel den Ball elegant zurück: Es gibt da bestimmte Vorstellungen, wenn auch erst in Ansätzen. Wissen Sie, mir schwebt ein Sozialismus vor, der völlig gewaltfrei ist, nach außen wie nach innen, und in dem der Wunsch, Güter zu erwerben, nicht mehr die treibende Kraft darstellt. Wir sollten unseren Wert weniger darin suchen, was wir besitzen und uns geschaffen haben, wie es so schön heißt. Wer und wie wir sind und was wir können, das gibt doch Selbstbestätigung genug! Und es wäre gut, uns auf die Lebensgrundlagen zu besinnen, also die nötige Energie lieber dem Wind und der Sonne zu entnehmen, anstatt fortzufahren, die Umwelt zu zerstören, durch das Abbaggern von Braunkohle, ihr Verfeuern und das Verbrennen von Benzin.

Die innere Dramatik des Romans lebt nicht allein von der Handlung, die Schreyer konsequent und gekonnt entwickelt: vielmehr ist es die transzendierende, gesellschaftskritische Sicht, die der Autor dem Ganzen unterlegt. Erst dadurch erfährt der spezifische Fall eine allgemeine Bedeutung, die über den Einzelfall hinausweist. Es ist unschwer zu erkennen, dass der Autor in diesen Passagen sein eigenes politisches Credo entfaltet.Es ist klar, dass dies nicht das Realitätsprinzip ist, dem Wendt anhängt. Dieses speist sich aus dem Glauben an eine straffe Organisation und eine funktionierende Polizeibürokratie. Prototyp dieser Ordnung ist Fink, der Vorgesetzte Wendts. Der Oberstleutnant plusterte sich wieder einmal auf. Er nannte Motivation, was sonst Überzeugung hieß. Verkündete Bekanntes und folgte seiner Gewohnheit, dies durch Klopfzeichen zu unterstreichen, als seien es Worte von hohem Erkenntniswert. Er hatte kurze, kräftige Finger, an den Kuppen stempelartig verdickt. Ihr Pochen gab seinen Mitteilungen stets etwas Endgültiges, die Weihen psychologischer Führungskunst. Mit einiger Menschenkenntnis hätte ihm aber klar sein müssen, daß solches Getue seinem Vortrag die Wirkung nahm. Neben dem Mangel an Denkvermögen und Originalität. Nicht nur Finks Schreibtisch, auch sein Kopf war aufgeräumt – die Prinzipien hübsch darin verteilt, ansonsten eher leer.

Wendt befindet sich mehr und mehr in einer schwierigen Situation: einerseits distanziert er sich von einem Teil seiner Kollegen, die ihren Dienst schematisch und ohne innere Anteilnahme versehen; andrerseits verspürt er einen erhöhten Legitimationsdruck, z.B. seiner neuen Freundin Jenny gegenüber, die er kurz zuvor eher zufällig kennengelernt hat. Sie gehört einer anderen Generation an. Zu Wendt sagt sie einmal: Du liebst die Ordnung, ich die Freiheit. Ihre oft spöttische, lässige Art, seine Arbeit infrage zu stellen, fordert seinen Widerspruch heraus. Mag auch das ein oder andere im Sicherheitsapparat schief laufen; an dessen Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung der Ordnung mag er dennoch nicht zweifeln – soll nicht alles in Anarchie ausarten.

Als Jenny eines Tages zu einer Kirchenveranstaltung in Rostock fahren möchte und Wendt um seinen Wagen bittet, lehnt dieser ihr Ansinnen ab. Die Kirche hat sich mittlerweile zum Sammelpunkt der oppositionellen Bewegung entwickelt. Unter ihrem Dach treffen sich die Anhänger der verschiedensten Gruppen: Schriftsteller; Künstler; Intellektuelle; politisch Andersdenkende. An der Veranstaltung in Rostock nimmt auch Nebel teil; Grund genug für Wendt, besonders misstrauisch zu sein. Wendt bittet Jenny, sich bei dem Treffen zurückzuhalten; nicht zu provozieren; ansonsten könnte ihre geplante Kubareise in Gefahr geraten. Er weist sie auf die Rechtslage hin, und zwischen ihnen entspinnt sich folgender Disput: 

Na schön, du hast mich überzeugt, sagt sie schließlich. Ich werde nur beten und singen. Und sämtliche Stoppschilder beachten, die du vorsorglich errichtet hast.

Ich hab‘ dir nur die Rechtslage erläutert.

Okay. Es haut einen immer wieder um, zu sehen, was ein Polizist bewirken kann, wenn sonst niemand die Paragraphen kennt.

Vergiß sie ruhig; das ist zu abstrakt für dich. Denk lieber an unsere Kubareise. Die wär nämlich zuerst im Eimer. Beim Militär heißt das abgestufte Vergeltung.

Hut ab vor deinem Staat! Was für ein Drohpotential er doch hat.

Es ist auch deiner, immer noch! Und er ist gar nicht so robust und brutal, wie du glaubst. Freiheit und Verantwortung sind im labilen Gleichgewicht, überall auf der Welt. Drückst du die eine Seite der Waage runter, hebelst du die andere aus, und wir haben Anarchie.

Wie schlimm, hatte sie darauf gesagt, einigermaßen freundschaftlich, wie ihr schien, auf der Kippe zwischen Angriffslust und Leisetreterei. Staatskunst als Nummer auf dem Hochseil. Die Balance zwischen Ordnung und Chaos, nur von Artisten zu meistern, den Weisen im Oberbüro. Stimmt bloß nicht bei uns. Hier bewegt sich doch nichts mehr! Ihr habt die rechte Waagschale so mit Sicherheit befrachtet, daß sie ganz unten ist und von der linken alles runterrutscht, was man draufpacken will. Freiheit findet bloß noch im Saal statt, unter dem Dach der Kirche, das ziemlich löchrig ist.

Ein Höhepunkt des Romans ist die Schilderung der Ereignisse um die Feiern zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR. Da ist einmal die offizielle Version der Feiern, die man aus dem Fernsehen kennt: Militärparade, Stechschritt, Spielmannszug, Pauken und Trompeten. Auf der Tribüne huldvoll winkend der Landesfürst, von Höflingen umringt, neben einem skeptischen Gorbatschow. Die stupende Vertrautheit des Rituals – alle Jahre wieder, ein Leben lang. Und wer dagegen anging, der störte den dressierten Heerwurm, das stampfende Ungeheuer, der brachte es gegen sich auf. Man konnte sich ebenso vor einen D-Zug schmeißen.

Im Kontext dieser sich jährlich wiederholenden Farce diesmal die Proteste dagegen – aus der öffentlichen Darstellung verbannt und folglich den vielen, die nicht selbst dabei waren, nicht bekannt. Obwohl Jenny versprochen hatte, sich nicht an den Protesten zu beteiligen, macht sie sich doch mit einigen Gesinnungsgenossen auf den Weg zur Kirche – und wird dabei prompt verhaftet. Was sie dann in der Haft an Erniedrigung und Gewalt erlebt, spottet jeder Beschreibung. Diese Seite der friedlichen Revolution kannte man so bisher nicht. Schreyer schildert die Ereignisse mit einer derartigen Eindringlichkeit, dass man glaubt, sie unmittelbar mitzuerleben:

Die Leute – ca. 40 –  befinden sich auf dem Weg in eine Kirche. Man geht auf dem Bürgersteig, ein stiller Zug, niemand hat eine Spruchtafel, keiner ruft etwas, nicht mal Kerzen sind zu sehen. Der Zufall hat sie zusammengeführt, wie nach einem Filmschluß im Kino. Doch an der nächsten Ecke versperrt man ihnen den Weg zur Kirche. Bewaffnete, Uniform der Kampfgruppen. Und zurück geht es auch nicht mehr! Zwei Einsatzwagen der Polizei sind ihnen gefolgt, die Besatzung des ersten springt aufs Pflaster, riegelt hinter ihnen ab. Ein Kessel. Wortlos drängt die Postenkette sie auf die linke Straßenseite und kreist sie an den Häusern ein. Die Kampfgruppenleute schlagen keinen. Aber durch ihre Reihe dringen Zivilisten, stürzen sich zu dritt auf einzelne am Rand, greifen sich wen raus. Die Demonstranten werden umzingelt und mit Wasserwerfern (Modell 50er Jahre, Arbeiterwaschmaschine genannt) traktiert. Elefantenhaft schwenkt er sein Rohr, nimmt die Gruppe aufs Korn, sinnlos, niemand wehrt sich. Da, der Strahl, fauchend trifft er Jenny, eisig, preßt sie kurz an die Wand und läßt sie los. Sie kriegt keine Luft, keucht, prustet, ist von Kopf bis Fuß naß. Aus den Fernstern über ihr Proteste. Der Strahl fegt hoch, peitscht die Fassade, bis man die Fenster schließt.

Sie hört den röhrenden Befehl; Absitzen und aufladen! Bereitschaftspolizei springt vom zweiten Lastwagen und treibt sie wie Schafe hinauf. Schon prasseln Hiebe. Die Verhafteten werden zusammengefercht abtransportiert und in eine leere Lastwagenhalle verfrachtet. Gänsemarsch durch den Hof … das Gesicht zur Wand, Abstand halten, niemand rührt sich! In ihrem Rücken wird ein Mann mißhandelt, der beteuert, unschuldig zu sein. Gräßlich, die dumpfen Hiebe … Hinter ihnen hecheln Hunde … Eine Frau bemerkt, das seien ja Verhältnisse wie seinerzeit in Chile. Man hat ihr Tuscheln gehört, sie wird abgeführt, jemand schreit: Du Nutte, sollen wir dich durchwichsen? Wenn nicht gleich Ruhe ist, lasse ich die Hunde los! Satzfetzen, rüdes Zeug, dazu das Gekläff der Köter. (Verstehen Sie kein Deutsch? – Das habt ihr vorher gewußt.- Kommste, kommste, runter jetzt, in die Knie, los, mach Häschen hüpf! – Kopf hoch, Nase zur Wand! – Aufs Klo? Piß dir in die Hosen. Das Gefühl, rechtlos zu sein, nichts wert, der Willkür ausgeliefert … Es ist, als nehme der Gehorsam ihnen die Würde, mehr noch als die Entblößung. Man zwingt sie, einander schwach zu sehen, folgsam, demütig … Sinnlos, sich zu wehren. Man tastet Jenny ab, greift auch ihr in den Mund, den Slip aber darf sie anbehalten. Dies bleibt ihr erspart … Beim Ankleiden denkt sie: Eine Szene wie in Filmen aus dem KZ. Und nun, einander als hilflos vorgeführt, als Objekt der Staatsräson … Nationalfeiertag der Republik. Ein Datum, das sie nie vergessen wird; bis ans Ende ihrer Tage.

Seitenlang schildert Schreyer die Prozeduren der Entwürdigung, körperlichen und seelischen Misshandlung und sexistischen Gewalt. Für Jenny ein derart einschneidendes Erlebnis, das traumatische Folgen für sie hat. Sie braucht Wochen, um sich davon zu erholen, überhaupt wieder fähig zu sein, sich in Gesellschaft zu begeben, nachdem man sie irgendwann entlassen hat. Vor allem aber: wie soll sie je wieder Vertrauen zu ihrem Freund fassen – einem der Repräsentanten einer Staatsmacht, die solches nicht nur geschehen lässt, sondern auch noch rechtfertigt?

Inmitten all der Wirrnisse erreicht Wendt eines Tages die Nachricht, dass der Schriftsteller Richard Nebel tot aufgefunden wurde. Offiziell wird ein Unglücksfall als Ursache genannt. Wendt glaubt nicht daran. Er nimmt die Ermittlungen wieder auf und stößt zunehmend auf Ungereimtheiten. Es fällt ihm schwer, den Fall aufzuklären. Es ist, als würden die sich überstürzenden Ereignisse in der Gesellschaft, aber auch in seinem Privatleben, den ganzen Fall überschatten und das Interesse an dessen Aufklärung verschütten.

Wendt versucht, die Geschehnisse der letzten Zeit einzuordnen. Durch die Umstände von Jennys Verhaftung und durch eigene Anschauung weiß er von den Vorkommnissen während der Demonstrationen – vor allem aber auch, wie der Staatsapparat darauf reagiert hat: Ohne Verständnis der wirklichen Ursachen des Aufstands; ohne jede Sensibilität für die innere Dynamik der Vorgänge. Stattdessen inhaltsleere Phrasen von der Härte der sozialistischen Gerechtigkeit oder: Wo ein Genosse ist,  kämpft die Partei!

Wendt ergreift auf einer Parteiversammlung das Wort, um der offiziellen Lesart seine Sicht der Dinge entgegen zu setzen. Damit verursacht er einen Eklat. Als er gefragt wird, auf welcher Seite er steht, antwortet er kurz und trocken: Auf der von Recht und Gesetz. Noch immer glaubt er daran, obwohl er längst wissen muss, dass im Namen von Recht und Gesetz Gewalt gegen die eigene Bevölkerung ausgeübt wird; dass sie längst zum Mittel reiner Machterhaltung degeneriert sind. Er versucht zu begreifen, was in seinen Kollegen vorgeht: Wo war der Schlüssel zum Verständnis ihrer Mentalität? Er lag in der eigenen Psyche, denn ihm, Wendt, erging‘s ja nicht viel anders. Ach, die Routine, die Abnutzung im Dienst, der innere Verschleiß! Man war vor allem geduldig, pfiffig und lebensklug – oder versuchte, es zu sein. Den Alltag füllte ein erschöpfender Papierkrieg aus, das beamtenhafte Absichern dessen, was man tat. Die Verwaltung dieses Dienstleistungsbetriebs, der für Ordnung und Sicherheit sorgte, und all die Sitzungen brauchten viel Zeit. Der endlose Austausch von Schriftstücken und vorgestanzten Worten. Es schien Wendt, als säßen sie dösend, verdattert vor den Dingen, die man ihnen da auftischte. Jeder in Gedanken schon daheim, im Garten, auf dem Sportplatz, bei seinem Hobby. So, als seien sie sich nur dunkel der vertanen Zeit, des vergeudeten Lebens und ihrer Sterblichkeit bewußt.

Am Fernseher erlebt er mit, dass all die Repressalien des Sicherheitsapparats nichts daran geändert haben, dass die Protestbewegung ständig anschwillt. In den großen Städten sind es Zehntausende, die an den Kundgebungen teilnehmen. Und er erlebt, dass die verantwortlichen Politiker keine Antworten auf die Forderungen der Opposition haben. Entweder ergehen sie sich in Phrasen oder tauchen ganz ab.

Schreyer gelingt es, die innere Dynamik des Veränderungsprozesses in all ihren Schattierungen eindringlich zu schildern. Puzzle um Puzzle werden die Mechanismen des Herrschaftsapparates dechiffriert: die Realitätsblindheit der politischen Klasse, die in einer Scheinwelt zu leben scheint; der Stumpfsinn einer Bürokratie, die zum Selbstzweck geworden ist; die lebensfremden ideologischen Phrasen; das gigantische Ausmaß des Sicherheits- und Überwachungsapparates; das Versagen der Planwirtschaft und schließlich – Korruption und Vetternwirtschaft.  Nur so versteht sich, dass das gesamte System schließlich wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt – aller Repressionsversuche zum Trotz.

Mußte es dazu kommen? Sicherlich. Mit der Politik ist es schwieriger als mit der Moral. Es fehlt das verläßliche Rezept. Parteiführer, die ein skrupelloser Geheimdienst stützt, treten nie von sich aus ab; sie sind auch kaum zu stürzen. Nicht mal die Dringlichkeit des Rücktritts leuchtet ein, Propaganda verhüllt ihr Scheitern, die Mißwirtschaft und den Irrweg, auf den sie geraten sind. Gleichheit und Ordnung haben sie über die Freiheit gestellt, die menschliche Natur verkannt und deren Schwächen – obwohl es ihre eigenen sind – mit Gewalt korrigiert. Das heißt bei ihnen Sozialismus. Der Fortschritt ein Marsch, soziale Gerechtigkeit als starr exerziertes Programm. Das, so scheint es Wendt, ist der Punkt. Die Bruchstelle lag im Kontrast, in dem harten Anspruch der Führung auf Ordnung, Pflichterfüllung und im Verlangen des Volkes nach Leichtigkeit, nach bunter Spontaneität. Es will sich frei fühlen, es läßt sich nicht zwingen zu seinem Glück. Da liegt der Grund für das Fiasko im großen wie im kleinen, für den Schiffbruch.

Auch für Wendt bricht eine Welt zusammen: Jenny verweigert sich. Und ihm geht auf, ihretwegen liegt er schlaflos. Krenz ist ihm schnurz, die Wende kann ihm gestohlen sein, Jenny will er wiederhaben! Was hat sie nur getrennt? Das ganze Elend dieser Zeit! Plötzlich sind sie ein Teil davon, ohne daß er das Wie und das Warum ganz begreift. Zu fremd sind sich die Welten, denen sie angehören; die Diskrepanz zwischen Ordnung und Freiheit lässt sich subjektiv nicht überwinden; im Gegenteil: durch die politischen Ereignisse ist sie nur größer und schließlich unüberbrückbar geworden. Mit beeindruckender Prägnanz entwickelt Schreyer die Charaktere der Beiden: Wendt und Jenny als personifizierte Pole einer auseinander driftenden DDR-Gesellschaft. Auf der einen Seite der ungebändigte Freiheitswille in Gestalt der Jenny; auf der anderen Seite Wendt als Repräsentant einer Ordnungsmacht, deren Maximen zunehmend hohl klingen und deren innere Substanz sukzessive ausgehöhlt wird, weil der Widerspruch zwischen den proklamierten idealen Zielen und der kruden Wirklichkeit nicht mehr gekittet werden kann.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Stefan Keller, Pixabay License

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Joke Frerichs, Dr. rer. pol.; Studium der Politikwissenschaft; Soziologie; Philosophie; Germanistik, lebt als freier Autor in Köln. Er schreibt Romane, Gedichte, Essays und Rezensionen.


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