Mit seiner dreibändigen Geschichte des Städtebaus hat der Mailänder Architekt und Professor für Städtebau ein Standardwerk geschaffen, das eine Gesamtschau auf Ursprünge, Entwicklung und Visionen urbaner Ansiedlungen vom Mittelalter bis heute liefert. Bei dieser Forschungsarbeit sind dem früheren Direktor des Frankfurter Architektur-Museums offenkundig zahlreiche Erkundungen gleichsam unter den Tisch gefallen, weil sie den Rahmen selbst der voluminösen Bücher gesprengt hätten. Nun hebt der Autor diese kostbaren Fundstücke nach und nach auf, zunächst die vermeintlichen „Belanglosigkeiten“ im Stadtbild, die in Wahrheit sehr wohl den Blick auf eine Straße, einen Platz oder ein Gebäude prägen können, also doch „bedeutsam“ sind für den Charakter ganzer Stadtviertel oder Kieze.
Lampugnani hat 22 Objekte ausgewählt und deren Entstehung und Geschichte erzählt. Das ist, zugegeben, eine subjektive Auswahl, denn es hätten auch noch mehr Phänomene des Städtebaus, der Architektur oder der Möblierung des öffentlichen Raums in den Blick genommen werden können, die nicht nur dem professionellen Flaneur bei seinen Streifzügen ins Auge springen. So verdienten zum Beispiel Gunter Demnigs Stolpersteine, die auf deutschen Bürgersteigen an die von den Nazis verfolgten und umgebrachten Juden erinnern, durchaus eine lobende Erwähnung. Oder die wachsende Zahl von Büchersammelstellen, die in ehemaligen Telefonzellen und an anderen geeigneten Orten der Stadt passionierte Leser zum Tauschen, Abgeben und Ausleihen von Literatur jeder Art animieren.
Aber auch so bietet der Autor mit seinen Mikroarchitekturen, Objekten und Elementen eine umfassende Beschreibung jener Innenausstattung unserer Städte, die sich im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder gewandelt hat. Manches hat sich erhalten – die Laterne, die Ampel, der Abfallkorb, manches ist nahezu komplett verschwunden wie der öffentliche Fernsprechapparat, manches hat sein Aussehen stark verändert – das Toilettenhäuschen, die Haltestelle oder der Bodenbelag. Lampugnani weiß über den Ursprung, die Funktion und die Ästhetik all dieser „Belanglosigkeiten“ viel zu erzählen, und dabei kommt auch Anekdotisches nicht zu kurz. Schließlich wendet sich das Buch nicht an ein akademisches Fachpublikum, sondern an eine interessierte Leserschaft, die mit offenem Blick für das Alltägliche wie das Besondere spazieren geht.
Es sind ja beileibe nicht bloß die sattsam bekannten Wahrzeichen der Städte – in Paris der Eiffelturm, in London die Tower Bridge, in Berlin das Brandenburger Tor -, die das Erscheinungsbild der Metropolen bestimmen. Vielmehr weist der Experte auf zahlreiche Differenzen und Charakterzüge hin, die den Betrachter von Straßenfotos sofort erkennen lassen, welche Stadt hier abgelichtet wurde – an den unterschiedlichen Kanaldeckeln, an der Breite von Trottoirs, an der Gestaltung von U-Bahn-Zugängen, an der reizvollen Architektur von Kiosken. Lampugnani sensibilisiert für das urbane Detail, er verhindert, dass man im irritierend vielfältigen Stadtpanorama die Schönheit des kleinen Gegenstands übersieht, das historische Straßenschild, die künstlerisch aufgewertete Hausnummer, die gepflegte Einfriedung eines Vorgartens. Ja, es gibt in jeder Stadt auch Geschmacksverirrungen, architektonische Sünden, hässliche Ecken und verlotterte Einrichtungen, die vom Autor natürlich nicht verschwiegen werden. So kontrastieren in den modernen Städten durchaus gelungene Versuche, die City zum smarten Outdoor-Wohnzimmer für alle Bürger zu machen (wie in einigen skandinavischen Ländern), mit heißumkämpfter Straßenmöblierung, wie sie jüngst im Kreuzberger Bergmannkiez zu besichtigen war. Das Buch schärft die Sinne für eine ebenso kritische wie konstruktive Sicht auf die Stadt von heute, und das kann nicht schaden, wo doch jedem Einwohner oder Besucher mindestens größerer Agglomerationen schon aus Eigeninteresse dringend zu empfehlen ist, sich nicht blind durch den öffentlichen Raum zu bewegen.