Die Agenda 2010 soll „abgeräumt“ werden. Die SPD will sie „hinter sich lassen“. Die Grünen wollen ein Grundgeld für jeden und jede, unabhängig von einer Arbeitsleistung, aus der Steuer und Abgaben zurückfließen. Der DGB hebt warnend den Finger. Was läuft da?
Vom Gesetzgeber Anfang des Jahrhunderts beschlossene neue Regelungen und Leistungen sollen nun, gegen Ende des zweiten Jahrzehnts, so geändert werden, dass sie näher am Niveau der heutigen Arbeitsverdienste – Löhne und Gehälter – liegen. Das soll Leistungen betreffen,
- die keiner Vorleistung durch die Empfängerinnen und Empfänger bedürfen (das heißt Bürgergeld oder ähnlich statt Arbeitslosengeld II);
- es soll 2. Leistungen betreffen, die auf Vorleistungen aufbauen (also Leistungen aus der Alterssicherung).
SPD, Grüne und Linke sind auf diesem Kurs, wenngleich in unterschiedlichen Ausprägungen; CDU und CSU und FDP sind dagegen. Die AfD betrachte ich hier nicht.
Komplizierter wird die ganze Geschichte, wenn sie a) unter wahlarithmetischen Aspekten und b) unter dem Stichwort Gerechtigkeit betrachtet wird.
Wahlarithmetisch gesehen: Die Verluste der SPD in der Bundestagswahl 2017 oszillieren in allen Altersgruppen zwischen 18 und 69 Jahren um die minus fünf Prozent. Die stärkste Ausprägung gab es unter den Leistungsträgern beiderlei Geschlechts in den Altersgruppen zwischen 35 und 59 Jahren. Unter den über 59-Jährigen liegen die Verluste knapp unter fünf Prozent. Was die Partei unter den Jüngeren durch einen neuen Kurs hinzu gewinnen könnte, könnte sie anderswo verlieren. Als Verlustbringer werden zwei Aspekte genannt: Offene Fragen, die mit der Aufnahme Hunderttausender flüchtender Menschen binnen kurzer Zeit bestehen. Und ferner eine weit verbreitete Zukunftsangst, die sich auf düstere soziale und wirtschaftliche Annahmen und Vermutungen stützt. Die augenblickliche materielle Lage wird meist als befriedigend gewertet.
Der Gerechtigkeitsaspekt: Wer fordert, dass ein Bürgergeld oder Ähnliches allen als Grundsicherung ein auskömmliches Einkommen zuspricht, auch denen, die nicht arbeiten, der bekommt ein Problem: Er verletzt das Gerechtigkeits- Bewusstsein der meisten, die viele Jahre hart gearbeitet haben, die dann aufs Altenteil gehen und dennoch mit ihren Alterseinkünften ganz genau bis auf Euro und Cent rechnen müssen, um über die Runden zu kommen. Man kann das bedauern, aber es ist so.
Beim Gerechtigkeitsaspekt spielt noch etwas anderes mit: Was auch immer im Bundesgesetzblatt abgedruckt wird, das löst nicht nur Probleme und es schreibt nicht nur Ansprüche fest, sondern es bewirkt auch das Gegenteil. Es werden neue Unsicherheiten ausgelöst, neue Probleme entstehen.
Denn es ist schon so, wie Peter Glotz das einmal am Beispiel erläutert hat: Wer die Bildungs- und Aufstiegschancen ausweitet, so schrieb er, der muss anschließend auch dafür sorgen, dass genügend reale Beschäftigungs- und Aufstiegsmöglichkeiten da sind. Sonst endeten, meinte er, Reformen in Verdruss und Enttäuschung. Das hat die SPD nun oft genug erlebt.
Reformer betreten mit ihren Ideen nämlich kein unbewohntes oder sehr dünn besiedeltes Land, um dort eine Fahne hin zu pflanzen und um zu zeigen: Da bin ich. Sie platzieren ihre Ideen von Gerechtigkeit und Teilhabe und Emanzipation mitten hinein in eine dicht besiedelte Gesellschaft mit eingefahrenen Vorstellungen, Erwartungen, Abwehr, Enttäuschungen. Grenzen werden hier nicht von denen gesetzt, die etwas fordern und durch die Fürsprecher der Fordernden, sondern Grenzen setzt die Leistungsfähigkeit derjenigen, die arbeiten, Steuern und Sozialabgaben bezahlen.
Sind jetzt Grenzen erkennbar? Das ist schwierig. Die Koalition in Berlin hat bereits mit der Rente ab 63, mit der Ausweitung der Mütterrente, mit der Verbesserung der Erwerbsminderungsrente und mit anderem mehr, umgangssprachlich geschrieben, erhebliche “Schecks auf die Zukunft“ ausgestellt. Auch mit der veränderten Niveausicherung in der Rente geschieht das. Der bis Herbst 2017 amtierende Gesundheitsminister hatte ebenfalls milliardenschwere „Schecks auf die Zukunft“ ausgestellt. Nun sollen Bürgergeld oder Ähnliches hinzukommen.
Es geht also, genau betrachtet darum, welche Ergiebigkeit den Arbeitenden und den Unternehmen ab jetzt und in der weiteren Zukunft zugetraut wird. Technisch geschrieben. Bleibt es bei nahezu Vollbeschäftigung und durchgehend guter Konjunktur bei gut ausgelasteten Kapazitäten und auf der Basis bester Bildung und Ausbildung und erfolgreicher Integration, kann das alles klappen. Klappt das eine nicht, klappt dass andere auch nicht.
Es hilft nicht, Reformen „anzudenken; man muss sie schon zu Ende denken.
Bildquelle: pixabay, Artur Luczka, CC0 Creative Commons
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