Den Osten verstehen- einfach ist das nicht. Ein Beispiel: Fassungslos habe ich vor Wochen im Urlaubsort am Chiemsee die politische Entwicklung in Thüringen verfolgt, kopfschüttelnd via Rundfunk gehört, am Abend im Fernsehen gesehen und am Tag danach in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen, wie ein Politiker der Mini-Partei FDP, Thomas Kemmerich, mit den Stimmen von CDU, der FDP und der rechtsextremistischen AfD unter ihrem Vorsitzenden Björn Höcke zum Ministerpräsidenten des Landes gewählt wurde. Am Tag drauf wurde die Wahl politisch für unwirksam erklärt. Wie auch hätte Kemmerich, dessen FDP gerade so die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen hatte, eine Regierung bilden wollen? Mit AfD-Ministern, einem Höcke als Innenminister vielleicht oder-der Mann ist Lehrer- als Kultusminister in einem Land, zu dem Weimar gehört? Unvorstellbar.
Wer die Debatte über die Linkspartei verfolgt hat, bekam auch Schnappatmung. Deren Spitzenkandidat ist Bodo Ramelow, ein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat, keiner aus der alten SED, ein Gewerkschaftler, der aus Niedersachsen stammt, ein bekennender Christ, wie er selber betont hat. Der aber bei der Landtagswahl nicht die nötige Stimmenzahl bekam. Also musste der alte Ministerpräsident um Zustimmung bei der CDU nachsuchen, was aber nicht gelang, weil es einen CDU-Parteitagsbeschluss gibt, der eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei wie mit der AfD untersagt.Man sprach von Äquidistanz nach links wie rechts.
Dazu ein paar Daten. Die Linke war die PDS, davor die SED, die durch eine Zwangsfusion aus KPD und SPD 1946 zustande kam. Der massive Druck der sowjetischen Besatzungsmacht in Ostberlin hatte dies mit Waffengewalt bewirkt, SPD-Politikern die sich widersetzten, wurden in Lagern und Zuchthäusern inhaftiert oder sonstigem Druck ausgesetzt. Das ist Geschichte, die SED, die Sozialistische Einheitspartei, gibt es nicht mehr, die Mauer ist weg, die DDR ebenfalls. Honecker ist längst tot und mit ihm die anderen SED-Mächtigen wie zum Beispiel Mielke. In der heutigen Linkspartei sollen nach Schätzungen noch zwischen 10 und 20 Prozent ehemalige SED-Genossen sein. Ehrenvorsitzender ist übrigens Hans Modrow, der war Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung in Dresden und während der Wende und friedlichen Revolution vom 13. November 1989 bis zum 12. April 1990 der letzte Vorsitzende des Ministerrats und also Chef der Regierung Modrow. Später wurde er noch Abgeordneter im Bundestag und im Europa-Parlament. Modrow war Ehrenvorsitzender der PDS und ist Vorsitzender des Ältestenrats der Linkspartei. Modrow ist ein erklärter Sozialist geblieben, der auch den Schießbefehl an der Mauer verteidigt hat.
Modrow listete das Eigentum der DDR auf
Ich erinnere mich noch an die gemeinsame Pressekonferenz mit Bundeskanzler Helmut Kohl und dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow am 13. Februar 1990 im Saal der Bundespressekonferenz in Bonn. Modrow brachte 17 Minister zu den Konsultationen mit. Während der PK mit Kohl versuchte Modrow den Journalisten und dem Kanzler einen Überblick über die wirtschaftliche Lage der DDR zu geben. Dabei las er aus einer langen Liste den Bestand an Eigentum der DDR vor, sehr ermüdend, Kohl rang sichtbar um Fassung. Modrow wollte ganz offensichtlich Eindruck schinden, wollte vor der internationalen Presse in Bonn die DDR als gut situierten Nachbarn darstellen, vielleicht um die Verhandlungsposition seiner Delegation zu verbessern. Was uns damals nicht so klar war: die DDR war so gut wie zahlungsunfähig. Der Saal der PK war überfüllt, die Vorträge von Modrow und Kohl wurden in die Büroräume der Korrespondenten übertragen.
Es gab im Pressehaus I in Bonn ein Büro der DDR-Nachrichtenagentur mit Namen „ADN“. Das Zusammenleben mit diesen Kollegen war nicht immer einfach. Einer, der schon ein paar Jahre tot ist, Bachmann hieß er, war ein netter Zeitgenosse, der sogar über Witze über die DDR und Honecker lachen konnte. Er besorgte uns gelegentlich Einladungen zu DDR-Veranstaltungen in der DDR-Vertretung in Bonn. Sein Nachfolger dagegen war ein richtiger Apparatschick, ein überzeuger Kommunist, mit dem man nicht einmal ein Bier trinken konnte. Zu unseren Flurfesten im Pressehaus kam er nie. Dabei ging es dort lustig und ideologiefrei zu. Ich war damals Korrespondent der „Augsburger Allgemeine“, unsere Büros lagen, wie das mein Kollege Fremden stets beschrieb, zwischen Damenklo und ADN. Der Mann hieß, glaube ich, Schäfer. Und der war von seiner Mission so überzeugt, dass er im Sommer 1989 uns allen Ernstes weissmachen wollte, die DDR-Flüchtlinge, die in der BRD-Botschaft in Budapest Unterschlupf gefunden hatten, seien von bundesdeutschen Agenten narkotisiert und dann entführt worden. Ich habe dann fluchtartig den Raum verlassen, weil ich mir dessen Unsinn nicht länger anhören wollte.
Den Osten verstehen. Nein, es gab bei uns kein Überlegenheitsgefühl gegenüber den Kollegen aus den sozialistischen Staaten. Wir waren doch allesamt froh, als die Mauer endlich gefallen und später der Eiserne Vorhang auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet war. Sieger oder Verlierer, das war nicht unser Thema, wobei eingeräumt werden muss, auch heute noch, dass es mehr als unangenehm war, wenn man in Westberlin weilte und in den Osten wollte. Das Passieren des Übergangs Friedrichstrasse glich einem Hürdenlaufen, man wurde mehr als kontrolliert, richtiggehend gefilzt, Zeitungen mussten abgegeben werden. Schikane war das Normale- nicht die Ausnahme.
„Von denen nehmen wir keinen“
Etwas anderes ist, was ich in einem Buch des früheren Österreich-Korrespondenten Ewald König gelesen habe, der damals in Bonn wie auch in Ostberlin, Hauptstadt der DDR, akkreditiert war. Er beschreibt die Verletzungen, die es gegeben habe im Rahmen der deutschen Vereinigung. Diplomaten, die für das SED-Regime gearbeitet hatten, seien in der Regel nicht übernommen worden. König, der heute in Berlin lebt, zitiert den westdeutschen Botschafter Hans Arnold, der kurze Zeit für Markus Meckel, Außenminister der DDR in der Wendezeit, gearbeitet hat. Gefragt, ob Diplomaten, die für das SED-Regime gearbeitet hatten, wirklich geeignet seien, das geeinte Deutschland im Ausland zu vertreten, entgegnete Arnold mit der Feststellung: „Da ist aber doch etwas viel Hochmut und Selbstgefälligkeit im Spiel. Ich erinnere mich daran, dass in den 50er Jahren viele Beamte oft mehr als einen braunen Fleck hatten. ..Alle hatten sich dem Naziregime schon wenige Jahre nach 1933 angepasst. Können wir nun den Deutschen in der DDR, die …40 Jahre unter einem undemokratischen Regime gelebt haben, davon 30 Jahre hinter Mauer und Stacheldraht, das Recht auf Irrtum und die Chance zum Neuanfang verweigern, die wir dies selbst nach 1945 so ausgiebig und locker praktiziert haben?“ Die Frage, die sich König selbst am Anfang dieses Kapitels gestellt hat, beantwortet sich fast von alleine. „Kann es sein, dass die alte Bundesrepublik in ihren Anfängen mit NS-belasteten Diplomaten ganz anders umgegangen ist?“ Es kann nicht nur sein, es war so. Und diese Praxis galt für das Auswärtige Amt wie das Justizministerium. Man lese das nach im Buch des SZ-Autors Winkler: „Das braune Netz“. Ob die Aussage, die Hans-Dietrich Genscher nachgesagt wird, „Von denen nehmen wir keinen“, weiß weder Ewald König und mir ist sie in dieser Diktion auch nicht bekannt. Aber dass diese Politik zu Demütigungen geführt hat, kann man verstehen.
Den Osten verstehen? Wen will man mit dieser Anzeige einiger Abgeordneter der Linkspartei gegen Angela Merkel ärgern? Man wirft der Kanzlerin und weiteren Mitgliedern der Bundesregierung „Beihilfe zum Mord“ vor, eingegangen ist diese Anzeige beim Generalbundesanwalt. Die Tötung des iranischen Generals Quassim Soleimani Anfang des Jahres durch eine US-Drohne sei auf deutschem Staatsgebiet-gemeint der US-Stützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz-koordiniert worden. Auch wenn die Parteispitze sich ausdrücklich vom Vorgehen ihrer Abgeordneten distanziert, Vertrauen löst man damit in anderen Parteien wie der CDU und der SPD nicht gerade aus. Und das geschieht zu einem Zeitpunkt, da Bodo Ramelow sich um eine Wahl zum Ministerpräsidenten von Thüringen bemüht. Es hilft ihm wenig, dass der Oberbürgermeister der Stadt Altenburg, André Neumann, Mitglied der CDU, schon damals für Stimmenthaltung der CDU im Landtag von Erfurt plädiert und auf die Wahl von Kemmerich „mit Fassungslosigkeit“ reagiert hatte. Seine CDU ist stärkste Fraktion in Altenburg, die AfD dort nicht vertreten, er braucht die Hilfe der Landesregierung für Projekte in seiner Stadt, Neumann träumt von der Landesgartenschau. In der SZ lese ich, wie Neumann mit einem Stadtrat der Linkspartei Tischfußball spielt. Dann folgt das Zitat Neumanns: „Den soll ich jetzt als Mauermörder, als Linksextremisten bezeichnen? Der will keinen Sozialismus- der will das gleiche wie ich.“
Als die Treuhand privatisierte, sanierte und stilllegte
Den Osten verstehen? Vor 30 Jahren wurde die Treuhand gegründet, eine Erfindung von DDR-Bürgerrechtlern, der schon erwähnte Hans Modrow hat die „Bildung einer Treuhandgesellschaft zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger der DDR-Staatsbürgerschaft am Volkseigentum der DDR“ vorgeschlagen. Aus einer Planwirtschaft sollte eine Marktwirtschaft gemacht werden, es wurde privatisiert, saniert stillgelegt, rund 2,5 Millionen Arbeitsplätze verschwanden. Verschwörungstheoretiker sprachen davon, die DDR-Betriebe seien plattgemacht worden, dabei waren sie zahlungsunfähig, marode, was man schon vor dem Mauerfall sehen konnte, wenn man offenes Auges durch die DDR fuhr. Infrastruktur, Häuser und Wohnungen, Straßen, vieles heruntergewirtschaftet. Dazu ein hoher Schuldenstand, die Beseitigung ökologischer Altlasten. Für viele Menschen in der DDR war dieser radikale Umbau mit dem Verlust ihres Jobs verbunden, es brach ihr Leben zusammen, sie fanden keine neue Arbeit mehr, weil man als 50jähriger zu alt war. Geblieben sind in den Köpfer vieler Menschen traumatische Erlebnisse, die sie der Treuhand anlasten. Zu Recht oder Unrecht? Die AfD jedenfalls spielt auf diesem Klavier, Björn Höcke verlangt einen Untersuchungsausschuss, um die Verelendung und Heimatzerstörung durch die Politik der Treuhand offenzulegen. Auch die Linke haut in diese Kerbe, der ökonomische Rückstand des Ostens rühre daher, hat ihr Fraktionschef im Bundestag, Bartsch getönt.
Bewiesen wurde von diesen Vorwürfen nichts, aber für den Wahlkampf, für die Lufthoheit über den Stammtischen reichts allemal. Was im übrigen auch für den Westen der Republik gilt, wo man vielfach der Meinung ist, der Osten habe genug Geld aus dem Topf bekommen, den selbstredend vor allem die Wessies finanziert hätten. Auch dies gehört dazu. Die Mauer ist weg, die in den Köpfen ist immer noch ein Stückchen geblieben. Erklärt das die Wahlergebnisse?
Quellen: Ewald König: Die DDR und der Rest der Welt. Mitteldeutscher Verlag. Halle(Saale). 2019. 424 Seiten. ISBN 978-3-96311-205-8. Erhältlich im Direktvertrieb des Berliner Korrespondentenbüros. E-Mail: buecher@korrespondenten.com
Süddeutsche Zeitung. Samstag/Sonntag 29.Februar. 2020. Montag. 2. März 2020.
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