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Home Politik

Der Abschied von den Corona-Lockerungen wird zum “Tanz mit dem Tiger“

Klaus Vater Von Klaus Vater
28. Mai 2020
Tiger

„Zweideutige Botschaften“ stellte die Bundeskanzlerin in dem fest, was der thüringische Ministerpräsident Ramelow Ende vergangener Woche vorgeschlagen hatte: Kein vorgegebenes Verhalten mehr; jeder und jede entscheidet, was während der Corona- Pandemie zu tun ist. Es war ein wenig so, als sei der frühere sowjet-russische Außenminister Andrei Gromyko („Grim-Grom“) wieder auferstanden; denn der soll mal deutschen Gesprächspartnern gesagt haben: Ihr Deutsche könnt hängende Partien nicht ertragen.

Jedenfalls gilt vorerst der Satz des Virologen Cristian Drosten vom 15. Mai weiter, dass Lockerungen ein “Tanz mit dem Tiger“ seien, und dass man dementsprechend mit diesem Tiger sehr, sehr vorsichtig umgehen müsse, damit der nicht wieder über die Menschen herfalle. Verbieten kann man Viren nicht, auch nicht mit ihnen verhandeln. Man kann ihnen auch nicht gut zureden. Wir alle bräuchten wirksame Medikamente, die den Verlauf der durch den Corona-Virus erzeugten Krankheiten (!) wirksam beeinflussen und einen wirksamen Impfstoff. Beides gibt es aber noch nicht. Ansonsten gilt: Disziplin üben, aufmerksam sein, auf sich und andere achten und sich schützen. Covid 19 hat die Zeit der Sorglosigkeit beendet.

In der Bundesrepublik grenzten die Regierungen sich deutlich vom sogenannten „schwedischen Weg“ ab. Der besteht darin, es jedem und jeder einzelnen zu überlassen, ob sie sich Risiko- adäquat verhalten oder nicht. Der Publizist Wolfram Weimer bewundert diesen schwedischen Weg; er nennt ihn auf n-tv „liberal“ und „mutig“. So weit gingen der FDP-Vorsitzende Christian Lindner und die FDP-Generalsekretärin Linda nicht; aber in diese Richtung Teuteberg „marschieren“ sie schon.
In der Basis- Berichterstattung über die Pandemie hat sich längst über Boulevard und Netzwerke hinaus eine Art kaltschnäuzige Sinnlosigkeit verbreitet, die fassungslos macht. Nachrichten im Deutschlandradio am 25. Mai: „Schweden liegt mit seiner Sterberate aber immer noch hinter den besonders betroffenen europäischen Staaten wie Belgien, Großbritannien oder Italien. Allerdings hat das Land bereits zu Frankreich aufgeschlossen.“ Was heißt das: … aber immer noch hinter“ und dann „bereits…aufgeschlossen“? Ist das ein Wettbewerb? Werden da Dartpfeile geworfen oder Punkte verteilt?

In Schweden starben mittlerweile 4300 Menschen an den Folgen einer Covid 19- Infektion. Überwiegend alte und chronisch kranke Menschen. Wenn ich mir alle zugänglichen Informationen aus Schweden oder auch aus Großbritannien anschaue, stelle ich fest: Nicht die in vielen Fällen lebensrettende Intensivstation war für kranke Alte da, sondern sie wurden in ein Hospiz verlegt. Die Bundesrepublik ist diesen Weg nicht gegangen. Aber je „lockerer“ es auch bei uns wurde, umso weniger war zu hören: Schützt jetzt die Alten und die Kranken, denn sie sind die ersten, die von den Folgen der Pandemie hinweg gerafft werden.
Ich denke in diesem Zusammenhang in erster Hinsicht nicht an die Alten in Pflegeheimen, sondern an diejenigen,
denen (noch) keine Pflegestufe zuerkannt worden ist,
die sich in ihren eigenen vier Wänden aufhalten müssen,
die keine Betreuung mehr haben,
die jeden Tag präzise und genau getaktet bis zu 15 Medikamente nehmen müssen wie Parkinson-Kranke,
die wenig oder keine Unterstützung im Tagesbedarf haben,
die unsicher und ein wenig vergesslich geworden sind,
denen ihre Gefährdung bewusst ist, die Furcht in sich aufbauten, die sich sorgen
und die wissen, spüren, dass die Lockerungen für sie tödlich sein können.

All dies wird von den mit dem „schwedischen Weg“ Sympathisierenden übersehen oder relativiert.

In einer Erklärung der katholischen Gemeinschaft Sant Egidio, die von Jürgen Habermas ebenso unterzeichnet wurde wie von Annette Schavan, Romano Brodi und Adam Michnik ist daher zu lesen:

„In vielen Ländern taucht im Zusammenhang mit der Behandlungsbedürftigkeit ein gefährliches Modell auf, das sich für ein selektives Gesundheitswesen ausspricht, in dem das Leben von alten Menschen als zweitrangig betrachtet wird. Ihre größere Verletzlichkeit, das fortgeschrittene Alter und die möglicherweise vorliegenden weiteren bei ihnen bestehenden Erkrankungen sollen danach eine Form der Auswahl zugunsten der Jüngeren und Gesünderen rechtfertigen. Sich damit abzufinden ist menschlich und rechtlich inakzeptabel. Die demokratische und humanitäre Ethik sind darauf gegründet, keinen Unterschied zwischen Menschen zu machen, auch nicht aufgrund des Alters.“ Abschließend heißt es: „Mit diesem Appell drücken wir unseren Schmerz und unsere große Sorge über die zu vielen Todesfälle bei alten Menschen in diesen Monaten aus und wünschen uns eine moralische Revolte, damit bei der Behandlung alter Menschen ein Richtungswechsel erfolgt und damit vor allem die besonders Verletzlichen nie als eine Last oder, schlimmer noch, als unnütz betrachtet werden.“

Ministerpräsident Ramelow hat auf die andauernde Pandemie so reagiert: „Wir müssen aus dem Krisenstatus raus“, erklärte er gegenüber dpa. Der Präsident der privaten Pflegeanbieter Bernd Meurer hingegen: „Das absolut falsche Signal.“
Es ist der Geist des schwedischen Wegs, der Ramelow bewegt. Der „Tiger“ bekommt mehr Spielraum. Die Regierung Sachsens hatte angekündigt, Ähnliches wie die Regierung Ramelow tun zu wollen. Die Bundesregierung und die übrigen Landesregierungen halten dagegen.

Wer nun suggeriert, Land und Leute benötigten keinen vom Staat vorgegebenen Rahmen mehr, der öffnet den Käfig des Tigers. Ich male mir nicht aus, was passiert, wenn das „schief geht“. Offenbar ist manchen nicht klar, welchen – auch Parteienstreit – sie auslösen, wenn es in Thüringen „schief geht“. Denn dann werden Fragen nach der Verantwortung kommen. Und die werden nicht so beantwortet werden können: Wir haben es versucht, wir wollten nur das Beste. Das ist ebenso vorbei wie die Zeit der Sorglosigkeit.

Bildquelle: Pixabay, Bild von AD_Images, Pixabay License

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Tags: Aufhebung der Corona-BeschränkungenAusstiegsszenarien LockdownCorona-KriseCoronavirusCovid-19Gesellschaftgesellschaftliche SolidaritätNotfallpläneSARS-CoV-2Virus
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Comments 1

  1. Simulacron says:
    6 Jahren ago

    Wir tanzen doch schon mit dem Tiger, seit das Gesundheitswesen zunehmend privatisiert und kaputt gespart wird. Seit Krankenhauskeiminfizierte und Tote zum Alltag gehören. Das selektive Gesundheitswesen existiert doch schon und heißt, Privat- und Kassenpatient.
    Und ehrlich gesagt, so groß ist der Unterschied nicht zwischen einem Altenheim und einem Hospiz, im Hospiz ist die Lebenserwartung nur kürzer. Und all die Missstände von Pflegestufe bis Minirente sind doch inhumane, gesellschaftliche Auswüchse eines Raubtierkapitalismus. Und nun in Coronazeiten so zu tun, als ob die Alten besonders schützenswert sein, ist angesichts der o.a. Missstände nicht nur zynisch, sondern zudem auch noch verlogen und soll wohl eher vom unterbezahlten Pflege- und Altenpflegenotstand ablenken. Da ist ne Runde billiger Applaus geschenkt.

    Zudem ist es schäbig hier einen politisch, verantwortungslosen Schuldkomplex auf die Bevölkerung abzuwälzen, anstatt sich mal an die eigene Nase zufassen. Genau so gut könnte man Coronatote und Coronamassnahmentote aufrechnen, mal sehen welche Zahlen höher sein werden. Tatsache ist, dass die Politik vor und während der Krise versagt hat, da sie sich immer vom Geld und Lobbypöstchen aushalten ließ. Und das wird sich auch nach der lang gezogenen Krise nicht ändern! Mal sehen, ob Schweden in einem Jahr immer noch mehr Tote zu beklagen hat.

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