Verheerend, katastrophal, historischer Tiefststand – wer als SPD-Vorsitzender ein selbst vom aktuellen Führungspersonal der Partei so bezeichnetes Ergebnis bei einer Bundestagswahl zu verantworten hat, kann nicht ernsthaft damit rechnen, dass ihn die 600 Delegierten beim Parteitag in Berlin schonen. Warum sollten die Genossen also mit Lars Klingbeil anders umgehen als zu früheren Zeiten mit Olaf Scholz, der 2003 in Bochum als Gerhard Schröders Generalsekretär mit beispiellosen 52,6 Prozent abgewatscht wurde, oder Sigmar Gabriel, den 2015 gerade mal 74,3 Prozent zum SPD-Vorsitzenden wählten?
Nein, zu den Qualifikationen eines Parteichefs in diesen Zeiten wachsender Fliehkräfte in der Politik und schwindender Verwurzelung in der Gesellschaft gehört es, Demütigungen bei geheimen Wahlen zu ertragen und versteckte Kritik als Ansporn zu begreifen – auch CDU-Chef Friedrich Merz hat das jüngst im ersten Wahlgang vor seiner Kanzlerkür erfahren müssen. Es braucht für Spitzenpositionen in der Demokratie mehr denn je Resilienz, Stehvermögen, Behauptungswillen als notwendige Voraussetzungen, was freilich nicht bedeutet, dass diese Fähigkeiten bereits eine hinreichende Garantie für dauerhaften Erfolg sind.
So oder so bleiben die mageren 64,9 Prozent für Lars Klingbeil – erst recht im Verhältnis zu den 95 Prozent seiner Co-Vorsitzenden Bärbel Bas – eine schwere Bürde für den Vizekanzler und Bundesfinanzminister. Wie soll ein arg gerupfter SPD-Boss genügend Autorität aufbringen, um sich in koalitionären Großkonflikten – Haushalt, Steuern, Schulden – gegen den konservativen Seniorpartner durchzusetzen? Wer hört in der eigenen Partei auf sein Wort, wenn es um die programmatische Neuausrichtung der SPD geht – bei Gerechtigkeit, Verteidigung, Migration, Rente und Gesundheit?
Lars Klingbeil, der einst bei seinem Mentor Gerhard Schröder lernte, Macht zu erringen und Gegner auszubooten, wird an mehreren Fronten herausgefordert, und es ist längst nicht sicher, dass er an der Parteispitze unangefochten bleibt oder auf ähnlich rücksichtslose Weise gemeuchelt wird wie vor ihm Kurt Beck, Sigmar Gabriel, Martin Schulz oder Andrea Nahles. Die SPD hat in den vergangenen Jahrzehnten verlernt, was Solidarität nach innen heißt, und es ist kaum tröstlich, dass sie damit nur die Entwicklung einer Gesellschaft widerspiegelt, der es zunehmend an Respekt und Gemeinsinn mangelt.
Ein SPD-Vorsitzender, der sich einerseits im Kabinett gegen einen selbstbewussten Kanzler profilieren muss, andererseits im Sympathie-Schatten von zwei sozialdemokratischen Publikumsfavoriten wie Bärbel Bas und Boris Pistorius steht, droht zerrieben zu werden von eigenen Ambitionen und realen Machtverhältnissen. Das Land zu modernisieren und gleichzeitig für stabile Verhältnisse im Innern wie nach außen zu sorgen, nebenbei zu verhindern, dass die Verzwergung der ehedem so stolzen SPD zum Mehrheitsbeschaffer der Union auf Bundesebene voranschreitet – diese Mammutaufgabe erscheint nahezu übermenschlich für Lars Klingbeil.
Dies umso mehr, als allein schon die Revitalisierung einer – wie Ex-Sozialminister Hubertus Heil auf dem Parteitag kritisierte – „langweilig gewordenen SPD“ ein 24/7-Job ist. Strukturreformen, organisatorische Einschnitte wegen fehlender Finanzen und inhaltliche Erneuerung werden zu Friktionen führen, mit der Basis, mit den Funktionären, mit den Flügeln, am Ende auch mit der Wählerschaft. Das „Manifest“ der Parteilinken um Rolf Mützenich und Ralf Stegner hat einen Vorgeschmack darauf geliefert, wie tiefgreifend die Differenzen in der SPD um Grundwerte und rote Linien sind – das gilt nicht bloß für eine Friedenspolitik im Geiste von Willy Brandt, sondern ebenso für eherne Prinzipien zum Sozialstaat und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Lars Klingbeil hat es geschafft, trotz des niederschmetternden Wahlergebnisses vom 23. Februar 2025 einen für die SPD als Juniorpartner immerhin beachtlichen Koalitionsvertrag auszuhandeln. Dass davon bereits vor Ablauf der ersten 100 Tage schon wieder schmerzhafte Abstriche gemacht werden (Stromsteuer für Privatkunden), lässt die Sorgen vor inhärentem Streitpotenzial wachsen. Der zu erwartende Unmut bei den Verbrauchern wird nicht zuletzt Klingbeil als SPD-Chef und Kassenwart von Schwarz-Rot auf die Füße fallen sowie die auf dem Parteitag in Berlin greifbare Verunsicherung der Sozialdemokraten verstärken: Was bringt uns, so fragten dort viele Genossen, unsere Rolle als „funktionale Regierungspartei“, wenn wir die Menschen, die auf die SPD setzen, doch wieder enttäuschen (müssen)?
Das persönliche Schicksal von Lars Klingbeil wie das mittelfristige Überleben der Volkspartei SPD hängen davon ab, ob die Sozialdemokratie in der Verantwortung auf allen Ebenen der Republik glaubwürdig vermitteln kann, dass sie auch gegen Widerstände eine Politik umsetzt, die für Zukunftshoffnung, Fortschrittsvertrauen, Aufstiegsversprechen und respektvollen Umgang steht, für eine Gesellschaft mithin, die den populistischen „Polarisierungsunternehmern“ (Steffen Mau) ein Konzept entgegenstellt, das Integration und Zusammenhalt stärkt, statt Verfeindung zu propagieren, das Gemeinwohl und Vielfalt fördert, statt Spaltung und Ausgrenzung zu provozieren. „Veränderung beginnt mit uns“, so lautete das Motto des SPD-Parteitags in Berlin. Dass auch die Partei sich selbst ändern muss, sollte sie nach den Erfahrungen der letzten Jahre eigentlich begriffen haben. Zweifel an dieser Einsicht sind erlaubt und begründet. Klingbeil und Co. müssen jetzt schleunigst beweisen, dass es anders ist.