1. Ergebnis versus Scheinergebnis des NATO-Gipfels
Mit dem NATO-Gipfel in Den Haag ist faktisch nichts Relevantes beschlossen worden. Von historischer Bedeutung ist eher all das, vor dessen Befassung man sich gedrückt hat. Es ging eben nur darum, dem „König der Allianz“ zu huldigen. Dass die NATO strategisch „nackt“ sei, riefen nur wenige Kommentatoren vom Rand aus – „NATO’s “Brain Death” in The Hague“ ist ein lesenswertes Beispiel. In dessen Titel wird auf Macrons Diagnose von November 2019, also ebenfalls aus der Amtszeit von Präsident Trump, angespielt.
Der Beschluss, der entscheidende ist, ist vielmehr der zur massiven Erhöhung der militärischen Fähigkeiten der europäischen NATO-Staaten. Der wurde nicht in Den Haag bestätigt, der scheint schon vorher beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister am 5. Juni 2025 endgültig gefällt worden zu sein. Der deutsche Verteidigungsminister hat seine freihändige Zustimmung im Haushaltswert von rd. 300 Mrd. € gegeben, ohne Beteiligung mindestens des Haushaltsauschusses des Bundestages. Dabei hat er vermutlich gemeint, dafür mandatiert gewesen zu sein durch diese einschlägige Passage im Koalitionsvertrag:
„Die Höhe unserer Verteidigungsausgaben richtet sich nach den in der NATO gemeinsam vereinbarten Fähigkeitszielen.“ (Rz 4132/3)
Diese Formulierung besagt allerdings lediglich: Wenn der Bundesminister für Verteidigung den über gut zwei Jahre erarbeiteten Fähigkeitszielen zustimmt und diese so, trotz Veto-Rechts, zu „gemeinsam vereinbarten“ erst macht, dann sind die erforderlichen Geldflüsse, die Haushaltsansätze, zumindest für Deutschland gesichert. Fast überall anderswo in Europa sieht das deutlich anders aus, und daraus erwächst ein Problem im Verhältnis Deutschlands zu seinen Nachbarn.
Deutschland, als große Ausnahme unter den großen Mitgliedstaaten in Europa, kann die enormen Summen, die mit dem Beschluss zur enormen Mehrung militärischer Kapazitäten verbunden sind, stemmen, weil die Schuldenbremse in den letzten beiden Jahrzehnten dafür Spielraum geschaffen hat. Anders, etwas polemisch formuliert: Weil Deutschland dank der widersinnig formulierten, nur auf Monetäres abstellenden Schuldenbremse in den letzten beiden Jahrzehnten in seiner Infrastruktur real desinvestiert hat, ist es nun möglich, massiv Schulden aufzunehmen und Gelder in militärische Kapazitäten zu lenken – nur zum geringeren Teil in Investitionen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben sei ergänzt:
Deutschlands Position zu den Fähigkeitszielen, bezogen im Aushandlungsprozess unter der Biden-Administration, war faktisch schon von der Vorgänger-Regierung verhandelt worden, und von ihr war die endgültige Zusage Deutschlands signalisiert worden.
Der Beschluss beim diesjährigen NATO-Gipfel in Den Haag, mindestens 3,5%“ für Verteidigungsausgaben nach NATO-Definition (Art. 3) plus „bis zu 1,5%“ für Sonstiges (Art. 3), zusammen aber 5% (Art. 1), zu erreichen in 2035, ist deswegen unwesentlich, weil er lediglich ein Preisschild für die vorab eingegangenen Verpflichtungen zum Fähigkeitsaufbau prognostiziert. Das prognostizierte Niveau kann eintreten oder auch nicht, der Vorgang mit Spanien zeigt, dass daran nichts verbindlich ist. Den Haag brachte eher einen Schaufenster-Beschluss. Bedrückend ist, dass Medien wie Politik den entscheidenden Beschluss hinter dem Preisschild, zu den Inhalten der massiven Aufrüstung, aus der öffentlichen Wahrnehmung herauszuhalten bestrebt sind.
2. Haushaltsplanung vom 24. Juni 2025 besagt vermutlich: Deutschland will “stärkste konventionelle Armee in Europa werden” und deshalb die “vereinbarten Fähigkeitsziele” früher als vereinbart erreichen
Mit dem Beschluss des Kabinetts vom 24. Juni 2025 ist entschieden, so der Wortlaut des Bundesfinanzministers:
„Die NATO-Quote erreicht mit dem 2. Entwurf zum Bundeshaushalt 2025 in diesem Jahr 2,4 Prozent und steigt auf Basis der Eckwerte auf 3,5 Prozent im Jahr 2029.“
Die offene Frage ist, ob mit diesen der Öffentlichkeit zugänglichen Finanzplanungswerten die „vereinbarten Fähigkeitsziele“ nicht vielleicht übererfüllt werden – dann wären sie durch den Koalitionsvertrag nicht gedeckt. Der Öffentlichkeit sind die vereinbarten Fähigkeitsziele nicht zugänglich, wohl aber den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, wenn sie denn fragten. Bislang hat das noch keiner getan. Dass der Haushaltsbeschluss die vereinbarten Fähigkeitsziele übererfüllt, ist deshalb zu erwarten, da der NATO-Preisschild-Beschluss für die Erfüllung Zeit bis 2035 lässt. Deutschland aber will anscheinend im Rekordtempo, noch unter der Ägide der aktuellen Bundesregierung, d.i. bis 2029, auf den Endzielwert von 3,5% kommen.
Mit einer definitiven Antwort auf den Verdacht der Übererfüllung wird man warten müssen, bis der Verteidigungsminister sich dazu erklärt. Es braucht einen Anlass, dass er es tut – von alleine wird er es vermutlich nicht tun. Seine Einlassung aus Anlass des Kabinettsbeschlusses vom 24. Juni ist bezeichnend:
„Unsere Soldatinnen und Soldaten sorgen für die äußere Sicherheit dieses Landes. Sie riskieren im Ernstfall ihr Leben. Es ist unsere Pflicht, sie dafür bestmöglich auszustatten.“
Diese Aussage ist unstrittig. Doch der entscheidenden Frage wird mit diesem Gemeinplatz ausgewichen. Ob die NATO-Kapazitätsplanung, die im wesentlichen aus den Jahren 2023/24 stammt, also eine Biden-Sicht spiegelt, zur „bestmöglichen Ausstattung“ führt, ist gerade die Frage, die man gerne mit Gründen beantwortet sähe. Pistorius sagt eigentlich: „Noli me tangere!“, auf deutsch: Rühre mir nicht die Frage an, wie die Fähigkeitsplanung aussieht und ob sie sowohl bedrohungsgemäß als auch zeitgemäß ist! Auch die seltsam futurische Formulierung des BMVg in der Erklärung zum Haushaltsbeschluss des Kabinetts vom 24. Juni zu den „vereinbarten“ (Perfekt Passiv) Fähigkeitszielen
„Die Entscheidung des Deutschen Bundestages …, dass wir unsere Fähigkeiten nun so ausbauen können, wie die NATO dies in den kommenden Jahren von ihren Mitgliedsstaaten fordert.“
weckt kein Vertrauen in die Transparenzbereitschaft des BMVg zur Planungsgrundlage.
Das ist Anlass, über die die Motive der geringen Bereitschaft zur Transparenz zu spekulieren. Es liegt auf der Hand, dass dies mit der Relation zu anderen Mitgliedstaaten der EU zu tun haben könnte. Wenn die, anders als Deutschland, massive finanzielle Schwierigkeiten haben, anspruchsvolle Kapazitätserhöhungen für den nun beschlossenen Rüstungswettlauf zu finanzieren (und Deutschland eh die „konventionell stärkste Armee in Europa“ erreichen will), so liegt nahe, dass Deutschland schweigend zustimmt, wenn Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien vergleichsweise geringere Verpflichtungen nur eingegangen sind.
3. Das Zweifelhafte an den “vereinbarten Fähigkeitszielen”
Die vereinbarten Fähigkeitsziele sind in Zweifel zu ziehen, aus folgenden Gründen.
- Sie basieren auf einer unterstellten Größenordnung der Fähigkeiten Russlands, die im Jahre 2022 unter Leitung der Kommandeure der strategischen Kommandos SHAPE und ACT (Allied Command Transformation) durch deren US dominierten Stäbe formuliert worden sind – damals aber ging die US-Seite davon aus, dass die Hilfe des Westens im der Ukraine-Krieg Russlands zu einer erheblichen Dezimierung der Fähigkeiten Russlands führe – heute wird das deutlich anders gesehen, nun wird mit den zukünftigen Kapazitäten gemäß den Zubauraten der Waffenindustrie in Russland gerechnet.
# Die Annahmen zum Feindbild gehören öffentlich kommuniziert. - Sie basieren zudem auf der Unterstellung einer weitgehenden Konstanz der US-Fähigkeiten in Europa, aus hier stationierten Einheiten plus den Airlift-Kontingenten mit Vorab-gelagerter Ausrüstung. In Summe 40% der gesamten Fähigkeiten.
# Mit der Trump-Administration, mit den aktuellen Umbauplänen des Pentagon in Richtung China/Südostasien, ist dieser Unterstellung der Boden entzogen. - Sie basieren zudem vermutlich darauf, dass die sog. enabler-Fähigkeiten, über die außer den USA die restlichen NATO-Staaten nicht verfügen und die ein zentraler Hebel sind, die europäischen NATO-Staaten in Abhängigkeit von den USA zu halten, in Zukunft weiterhin von den USA zur Verfügung gestellt werden. Damit wird dem Ziel, diese Fähigkeiten für Europa selbst zu erwerben, nicht entsprochen.
# So zu rüsten, dass Europa weiterhin in Abhängigkeit von den USA bleibt, ist keine der Bedrohungslage angemessene Strategie. - Die Nachrüstungsstrategie in Form eines Zubaus von Fähigkeiten hat rational im Sinne von bedarfsangemessen zu sein. Dazu gehört nicht nur die Analyse der Fähigkeiten des Gegners und ein quantitativer Vergleich von Stärken an Soldaten und Waffenarten. Es gehört auch dazu ein Kriegsbild, d.i. dessen, wie die NATO mit den vereinbarten Fähigkeiten den Krieg ggfls. führen will, um mit ihrem Einsatz dem Gegner überlegen zu sein. Das aktuell unterstellte Kriegsbild ist vor gut 15 Jahren von den USA entwickelt worden und basiert zentral auf einer Überlegenheit in weitreichenden Waffen, um die gegnerische Luftverteidigung frühzeitig auszuschalten und damit die „Fehlform“ des Krieges, den statischen Stellungskrieg, wie wir ihn gegenwärtig in der Ukraine erleben, zu vermeiden. Dieses Kriegskonzept aber befeuert wegen des damit verbundenen Drucks zu Präemptionsschlägen eine instabile militärische Situation zwischen den Gegnern und ist zudem völkerrechtlich fragwürdig.
# Wir brauchen eine öffentliche Debatte zum Kriegskonzept, auf das wir setzen wollen und auf das wir uns zurüsten wollen. In öffentlichen Äußerungen üblich ist der Verweis darauf, dass Deutschland als Teil der NATO wegen grundgesetzlicher Vorgaben nur als zweiter schießen wird. Das ist ausweichend – und unrichtig. Es ist zu fordern, dass Deutschlands Militärs öffentlich wegkommen vom Denken in Intentionen und Übergehen zum Argumentieren in Fähigkeiten.
Der Nachrüstungsstrategie fehlt das konditionierende Rüstungskontrollangebot. Sicherheit ist bekanntlich eine Frage der Relation von militärischen Fähigkeiten beider Seiten – deshalb die zentrale Einsicht, dass Sicherheit nur durch Koordination der Gegner zu erreichen ist. Dieser Einsicht entspricht die NATO-Beschlusslage nicht. Ob die jetzt beschlossene Aufrüstungsrunde der NATO-Staaten zu mehr militärischer Überlegenheit führt, ist abhängig von der Rüstungsreaktion des Gegners. Die NATO-Beschlusslage ist nicht professionell angelegt, solange das Rüstungskontrollangebot fehlt. Bundeskanzler Merz hat im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (28. Juni 2025) gezeigt, dass er den möglichen Gesprächsfaden mit dem russischen Präsidenten allein auf die Frage des aktuellen Ukraine-Kriegs beschränkt sieht. Es fehlt somit bislang an einer hinreichenden öffentlichen Thematisierung des Rüstungskontrollanliegens.