1. Einleitung
Wie immer ist das Doppelbödige in öffentlichen Verlautbarungen das Relevante.
Beim Besuch des Präsidenten der Ukraine am 28. Mai 2025 in Berlin hat sein Gastgeber, Bundeskanzler Merz, diese Aussage gemacht:
„Ich will in diesem Zusammenhang etwas Neues hervorheben: …. Unsere Verteidigungsminister werden heute eine Absichtserklärung über die Beschaffung weitreichender Waffensysteme aus ukrainischer Produktion, sogenannter Long-Range-Fires, unterzeichnen.“
„Long-Range-Fires“ (LRF) ist der Fachausdruck für konventionelle ballistische Raketen oder Marschflugkörper, die Reichweiten von deutlich über 500 km, zwischen 1.000 und 3.000 km, haben, die also weit nach Russland hinein einwirken können. Sie sind Ergebnis der technologischen Welle der Digitalisierung, taktische Präzision und begrenzte Zerstörungskraft zeichnen sie aus.
Die geltende Militärdoktrin der NATO basiert auf der Annahme, weitgehend freien Zugang zu Luft- und Seeräumen sicherstellen zu können. Diesem Axiom folgt die Planung von Streitkräfte-Fähigkeiten. Ziel ist es, Brücken, Gleise, Munitions- und Treibstoffdepots sowie Kommandostrukturen mit LRF-Schlägen zerstören zu können, um tiefgreifende territoriale Vorstöße des Gegners zu verhindern. Damit soll vermieden werden, dass dieser eine lokale Artillerieüberlegenheit gewinnt – in den frühen Phasen des Ukrainekriegs übrigens war dies den russischen Streitkräften auch gelungen. Die westliche Vorgehensweise sieht vor, schrittweise die Luftraumverteidigung des Gegners auszuschalten und anschließend durch Bombardierungen Bodenoperationen zu ermöglichen. Auf diese Weise soll ein Konflikt, zu dessen militärischen Austrag man sich entschieden hat, erfolgreich beendet werden, bevor er in einen langwierigen Abnutzungskrieg übergeht – der Abnützungskrieg in der Ukraine ist das Musterbeispiel eines Misslingens dieses Kriegsführungs-Konzepts. Ein Krieg mit Russland soll nach NATO-Vorstellungen so nicht aussehen. Das haben die Long Range Fires zu leisten, das ist die ihnen zugedachte Funktion. Der Vorteil: Bei unterstelltem Gelingen dieses Konzepts braucht man riesige Vorräte an Artillerie-Munition nicht vorzuhalten.
Mit der Merzschen Aussage scheint klar und angekündigt: Die Stationierung der US-amerikanischen LRF-Systeme in Wiesbaden ist nur ein Anfang, es bleibt nicht dabei. Deutschland wird auch nicht darauf warten, bis es entsprechende Systeme aus der Zusammenarbeit mit Großbritannien erhält. Deutschland will umgehend, so gibt Merz zu verstehen, in den Besitz solcher Waffen kommen, mit denen Russland von deutschem Boden aus erreichbar ist. Entsprechend hohe Aufmerksamkeit hat diese Ankündigung in internationalen Medien erhalten. Doch der Merzschen vollmundigen Behauptung mangelt es, wieder einmal, an Substanz. Als Willensäußerung ist sie in ihrer Verdrehung umso ernster zu nehmen.
Soweit die Wunschwelt unseres Bundeskanzlers in seiner ‚Probezeit‘. Nun deren Entschleierung.
2. Einordnung und Hintergrund im Friedensgutachten 2025
Das alljährliche Friedensgutachten, dessen 2025-Version am 3. Juni 2025 herausgekommen ist, enthält ein bemerkenswertes Kapitel unter dem Titel „Die Rückkehr von Mittelstreckenraketen nach Europa“. Es skizziert den Rahmen, in den sich die Merzschen Wunschvorstellungen einordnen lassen. Es beginnt mit dem Satz „Flugkörper, die tief bis nach Russland reichen, waren in Europa in den letzten Jahren bereits vorhanden …“ – klar, mit dem INF-Abkommen waren bekanntlich lediglich landgestützte Flugkörper mit einer Reichweite von mehr als 500 km untersagt worden; luft- und seegestützt waren sie weiter erlaubt. Seegestützte Tomahawk-Marschflugkörper waren in den Arsenalen europäischer NATO-Alliierter lange vorhanden, das TAURUS-System, Friedrich Merz‘ Lieblingsrakete, ist luftgestützt.
Neu ist hingegen etwas anderes, darauf macht das Friedensgutachten aufmerksam:
„die umfangreiche Beschaffung US-amerikanischer JASSM-ER-Flugkörper, die solche Systeme massiv aufstockt.“
Die JASSM sind moderner, und die Menge ist ausschlaggebend. Es handelt sich um einen Marschflugkörper, der in der Regel von Kampfflugzeugen und Bombern aus gestartet wird. Er kann aber auch über die Laderampe von Transportflugzeugen abgeworfen und gestartet werden. Er navigiert mit einem GPS-System, im Endanflug wird zudem ein Sensor aktiviert, welcher mittels Mustererkennung ein bestimmtes Gebiet nach einem „Ziel“ absucht – man beachte die Zielbestimmung via Mustererkennung. Hierdurch ist die Bekämpfung auch von mobilen Zielen möglich. Deutschland hat bereits 75 solcher Marschflugkörper im Bestand. Die USA haben sie auch der Ukraine geliefert. Vor diesem Hintergrund erscheint die Fokussierung der Debatte in Deutschland auf die Lieferung des älteren Taurus wie eine Übersprungshandlung.
Das Friedensgutachten will mit dem Titel „Die Rückkehr von Mittelstreckenraketen nach Europa“ sagen: Ja, die Kündigung des INF-Abkommen macht die Rückkehr von landgestützten Mittelstreckenraketen nach Europa möglich, und in Form der US-Raketen in Wiesbaden geschieht das auch. Doch wir dürfen ob des landgestützten Zuwachses nicht ausblenden, dass luftgestützt ein weit erheblicherer Fähigkeitsaufwuchs in dieser Richtung, zur Ermöglichung des ‚ressourcensparenden‘ Kriegsbildes, welches die NATO sich vorstellt, bereits stattgefunden hat und weiterhin stattfindet; mit dem ELSA-Konsortium ist dies überdies als ein Projekt der Europäer zur Erlangung von Autonomie in den LRF-Technologien aufgegleist worden. Europa möchte einen Konfliktaustrag mit Russland auch nach einem transatlantischen Bruch gemäß dem etablierten NATO-Kriegsführungskonzept vornehmen können.
Diese Entwicklung zwingt Russland dazu, in seinen Sandkastenplänen einen größeren Gebietsumfang als bislang für potenziell gefährdet zu halten. Die Folge, so das Gutachten:
„Aus Russland gibt es erheblichen Widerstand gegen die Pläne, begleitet von angedrohten Gegenmaßnahmen und dem Angebot eines regionalen Moratoriums für Mittelstreckenraketen. Die neuen Systeme könnten daher Teil der Verhandlungsmasse in den Gesprächen zwischen Trump und Putin werden. Berlin sollte sich auf dieses Szenario vorbereiten.“
Das Friedensgutachten thematisiert auch die Risiken, die mit dem Kriegsführungskonzept, in dem LRF eine zentrale Rolle spielen, eingegangen werden. Die Grenze zwischen konventionellen und nuklearen Waffen könnte, so heißt es, in einem Konflikt verschwimmen, da Russland auf die Bedrohung durch konventionelle Systeme mit nuklearen Gegenmaßnahmen reagieren könnte. Man kann eben als misstrauischer Gegner nicht sicher wissen, welche Art von Sprengköpfen diese weitreichenden Systeme tragen. Die Zeit, da man an der Art des Trägersystems erkennen konnte, dass es sich um eine nukleare Waffe handelt, sind vorbei.
Ein weiteres Risiko dieses Waffentyps liegt darin, dass er seinen Vorteil nur durch präemptiven Einsatz zum Tragen bringen kann. Dieses Risiko, das der inhärenten Verführung zum Präemptivschlag und damit eines mit gewisser Wahrscheinlichkeit völkerrechtswidrigen (Erst-)Einsatzes, macht das Gutachten leider nicht zum Thema.
3. Das Dementi der Merzschen Aussagen durch die Vertrags-Wirklichkeit
Bei der Unterzeichnung der deutsch-ukrainischen Vereinbarung am selben Tag, am 28. Mai, im Bendlerblock in Berlin wurde eine Verlautbarung publiziert, die die Darstellung des Bundeskanzlers zwar unklar doch faktisch dementiert. Es heißt dort:
„Deutschland wird künftig die Produktion von weitreichenden Waffensystemen in der Ukraine finanzieren. … Diese Vereinbarung geht auch auf die Zusage Deutschlands zurück, direkt in die ukrainische Rüstungsproduktion zu investieren. Diese verfügt über noch ungenutzte Produktionskapazitäten und das technische Wissen, moderne Systeme herzustellen.
Noch in 2025 soll so eine erhebliche Stückzahl von weitreichenden Waffensystemen produziert werden. Die Waffensysteme stehen den ukrainischen Streitkräften rasch zur Verfügung – die ersten können bereits in wenigen Wochen zum Einsatz kommen. Da sie bereits in den ukrainischen Streitkräften eingeführt sind, bedarf es keiner zusätzlichen Ausbildung.“
Daran ist Folgendes auffällig:
- Auch da ist von „weitreichenden Waffensystemen“ die Rede. Der Merzsche Terminus war somit abgestimmt.
- Aus der Tatsache, dass es sich um ein Waffensystem handelt, welches bereits in die ukrainischen Streitkräfte eingeführt ist, ist zu schließen, dass es sich nicht um moderne LRF handelt sondern um Drohnen – auch die können die Fähigkeit des weitreichenden Einsatzes haben.
Es ist somit kein Versehen, dass Bundeskanzler Merz so sprach wie er sprach. Der irreführende Eindruck, der damit erfolgreich, wie die Reaktion internationaler Medien zeigt, erreicht wurde, war kalkuliert.