Vor 80 Jahren hatten die beiden hauptsächlichen Diktaturen Europas, das Naziregime mit Reichskanzler Hitler an der Spitze und die Führung der sowjetischen Staatsmacht mit Stalin an der Spitze einen Pakt geschlossen: Mitten hinein in eine Zeit wachsender politischer Spannungen und beginnender militärischer Auseinandersetzungen sagten sich die beiden erwähnten Diktaturen sozusagen „in die Hand“: Wir helfen uns gegenseitig. Die Sowjetunion lieferte Millionen Tonnen kriegswichtige Rohstoffe in den Westen, das deutsche Reich füllte Konten der UdSSR mit Krediten und Güterzüge mit Ausrüstung für Stalins Ausbau des Militärapparats. Es war als wenn zwei Skorpione schmusen wollten.
In einem geheimen, also unveröffentlichten Zusatzabkommen kamen die beiden Vertragsparteien überein, Polen im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen zu teilen. Du den Westteil, ich den Osten. Die Historikerin Claudia Weber, Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt, hat darüber ein aufregendes und erregendes Buch geschrieben.
Wir haben in der Schule gelernt, die beiden Diktaturen hätten diesen Pakt geschlossen, um sich bei abzeichnender Kriegsgefahr einen taktischen Vorteil zu verschaffen: den einen in Sicherheit wiegen, aber gleichzeitig für den großen Schlag rüsten – so hatte Stalin intern argumentiert; so wurde über viele Jahre von verschiedenen Seiten kolportiert – nicht zuletzt von den orthodoxen Staatssozialisten.
Tatsächlich war es kein kurzfristig gedachtes, taktisches Übereinkommen, sondern es war der Versuch zweier mörderischer Ideologien, die Welt, soweit sie aus Moskau und Berlin beherrschbar war, zu teilen und sich zu versprechen, keine Brandfackeln ins jeweils andere „Revier“ zu werfen. Auf diese Qualität des Pakts gut begründet hinzuweisen, ist Webers Verdienst. Und das ist etwas anderes als unsere Schullektüren uns beibringen wollten.
Das, was damals begann, wirkt fort: Am 31. Dezember 2019 schrieb der Außenpolitik-Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Dr. Andreas Rüesch, einen Kommentar über einen Aspekt einer Reihe Reden des russischen Präsidenten Wladimir Putin aus den jüngsten Tagen. Zynisch sei, meinte Rüesch, dass Präsident Putin Polen, das Opfer des Unterstützungspaktes wurde, zu einem „perfiden Täter“ umdeute. Putin, so schrieb der Kommentator, habe seinen Zuhörenden weismachen wollen, Stalin habe den Pakt geschlossen, weil man nicht sicher war, ob der Westen mit Hitler nicht ähnliche „Geheimdeals“ (NZZ) geschlossen habe. So hat 1940 bereits die Spitze der KPdSU nach einem Quellenhinweis Claudia Webers argumentiert. Hierfür fehlt jeglicher Beleg.
Verblüfft liest man in der Darstellung Claudia Webers auch, wie selbstverständlich und problemlos Hitlers Mörderbanden und der sowjetische NKWD Probelem anlässlich der Umsiedlung von „Volksdeutschen“ aus der UdSSR und von Ukrainern oder Weißrussen aus dem östlichen Polen in die UdSSR regelten. Und natürlich waren vor allem Hunderttausende Jüdinnen und Juden und deren Kinder Leidtragende bei diesem Hin und Her-Schieben von Menschen.
Webers Buch ist ein Anfang. Es gibt viele nicht beantwortete Fragen, zumal die Archive in der russischen Föderation mit den Schlüssel- Dokumenten zum Pakt geschlossen bleiben.
Claudia Weber: „Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz“,
C.H. Beck Verlag, 276 Seiten, 26,95 Euro.