Wer gedacht hatte, über den Ersten Weltkrieg und speziell dessen Ursachen und Beginn sei bereits alles erzählt, weiß spätestens seit Christopher Clarks „Schlafwandler“-Buch, dass neue Erkenntnisse und neue Gewichtungen zu neuen Bewertungen, etwa in der Frage der Kriegsschuld, führen können. Um „Schuldfragen“ und deren Neubewertung geht es auch bei einer historischen Kontroverse, die sich um die ersten Tage und Wochen des Krieges im Westen dreht, genauer um die Besetzung Belgiens durch deutsche Truppen im August 1914 [1] . Vor allem die Frage, ob von ziviler Seite, also Einwohnern, Freischärlern und Soldaten in Zivilkleidung, sogenannten Franktireurs, versucht wurde, die deutschen Soldaten aufzuhalten, oder ob die Hinrichtungen und Massaker in den ersten Kriegstagen in Städten wie Andenne, Tamines, Dinant oder Löwen willkürliche deutsche Vernichtungs- und Zerstörungsmaßnahmen waren, hat zahllose Forscher beschäftigt und zu einer Unzahl von Untersuchungen und Darstellungen geführt, ohne bis heute zu einer abschließenden Antwort geführt zu haben.
Bezogen auf Löwen hat Jens Metzdorf, der Leiter des Neusser Stadtarchivs, im Jahr 2014, also genau einhundert Jahre nach den Ereignissen, eine fundierte Darstellung über die Beteiligung der 1. Kompanie des „2. mobilen Landsturm-Infanterie-Bataillons Neuß“ an den Schießereien und der Zerstörung historischer Gebäude der alten flandrischen Universitätsstadt Löwen am Abend des 25. August 1914 vorgelegt. Eine halbe Kompanie des Neusser Bataillons war für den Schutz des Bahnhofs eingesetzt, wo die Schießereien ihren Anfang genommen haben sollen [2] , und Metzdorf fasste die bis dahin in der Forschung vorherrschende Interpretation der Frage, was die Kämpfe und Verwüstungen in der Stadt ausgelöst hatte, in dem Satz zusammen, dass die unerfahrenen und wenig trainierten Soldaten, als sie Lichtsignale wahrnahmen und Schüsse hörten, die Situation „missdeuteten“ und „von einem planmäßigen Angriff der Zivilbevölkerung“ ausgingen, was zu einem heftigen Feuergefecht und anschließenden Vergeltungsmaßnahmen führte. Alkohol habe eine fatale Rolle gespielt, zu belegen mit späteren Aussagen aus den Reihen des deutschen Militärs, die den Landsturmsoldaten Disziplinlosigkeit und Trunkenheit angelastet hatten [3] .
Die vier Kompanien eines Landsturm-Bataillons zählten jeweils ca. 150 Mann. Zum Landsturm einberufen wurden, so auch beim Landsturm-Infanterie-Bataillon Neuß, vor allem alle ehemaligen Soldaten zwischen 39 und 45 Jahren sowie ungediente jüngere Freiwillige. Sie sollten nicht bei direkten Kampfhandlungen, sondern vor allem zu Besatzungs- und Wachdiensten eingesetzt werden. Die Soldaten des Neusser Bataillons rekrutierten sich aus den Kreisen Neuss, Grevenbroich und Bergheim und von ihnen stammten, wie aus einem im Neusser Stadtarchiv aufbewahrten Verzeichnis vom Dezember 1914 hervorgeht, ca. 100 aus Neuss und Umgebung.
Schon unmittelbar nach den Kämpfen in Löwen entbrannte ein erbitterter Streit dar-über, ob es sich um eine Überreaktion auf eine eingebildete Gefahr gehandelt hat oder ob tatsächlich von belgischer Seite auf die deutschen Besatzungssoldaten geschossen wurde, womit das Verhängnis seinen Lauf nahm. Ein deutsches Weißbuch aus dem Mai 1915 und ein belgisches Graubuch aus dem Jahr 1916 stehen am Anfang des Kampfes um die Deutungshoheit der Ereignisse vom 25. bis 28. August 1914 [4] . Den Stand der Wissenschaft auf beiden Seiten fasste 1958 Peter Schöller zusammen, wobei er als Ergebnis die Franktireur-These verwarf und von einer Panikreaktion der deutschen Soldaten ausging [5] . John Horne und Alan Kramer, die das Thema über vierzig Jahre später noch einmal gründlich untersuchten, kamen zu keinem anderen Ergebnis und hoben vor allem den psychologischen Erklärungsansatz einer seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870 vorhandenen Franktireur-Psychose hervor [6] . Bis hinein in die Literatur zur Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs einhundert Jahre zuvor galt das deutsche Weißbuch als durchsichtiger Versuch, die von den deutschen Soldaten ausgelösten Gräuel zu relativieren bzw. sogar „zu vertuschen“, wie es der renommierte Zeithistoriker und Weltkriegsexperte Gerd Krumeich ausgedrückt hat [7] .
Krumeich hat das Vorwort zu einem Buch geschrieben, das im Oktober 2017 erschienen ist und den „Belgischen August“ und dabei zuallererst die Löwener Tragödie relativieren will. Relativieren in dem Sinne, dass Gewalt (von belgischer Seite) Gegengewalt (von deutscher Seite) hervorbrachte, und dass „völkerrechtswidrige Schüsse aus dem Hinterhalt“ bei den deutschen Soldaten „große Wut und übertriebene Vergeltungsmaßnahmen“ auslösten, so der Autor des Buches, Ulrich Keller. Keller versucht, die Zeugenaussagen der deutschen Soldaten zu rehabilitieren, die sich vor allem im Weißbuch vom Mai 1915, aber auch in späteren Quellen finden und von der Forschung weitestgehend für nicht zuverlässig gehalten wurden. Sein Ergebnis ist eindeutig, für ihn liefern die Augenzeugenberichte „eine definitive Antwort auf die Frage der Franktireur-Überfälle. Diese haben stattgefunden.“ Keller will damit das „Klischee“ vom „blindwütigen feldgrauen Mordbrenner“ revidieren, ja er postuliert sogar, dass die belgischen Angriffe von Einwohnern, Bürgerwehr und Soldaten in Zivilkleidung nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 illegal und die deutschen Vergeltungsmaßnahmen deshalb völkerrechtlich legal gewesen seien. Er scheut sich auch nicht, die offizielle belgische Seite massiv zu attackieren, indem er die Frage aufwirft, „wie verantwortlich die belgische Regierungs- und Armeeführung handelt, wenn sie zivil getarnte Truppen in Abstimmung mit militanten Zivilisten zu verbotenen, Repressalien herausfordernden Widerstandsaktionen in den Wohngebieten einsetzte.“
Die Aussagen der Offiziere und Soldaten der 1. Kompanie des 2. mobilen Landsturm-Infanterie-Bataillons Neuß, die sich erstmals keine vier Wochen nach den Ereignissen einem durch den deutschen Generalgouverneur von Belgien, Freiherr von der Goltz angeordneten gerichtlichen Ermittlungsverfahren stellen mussten, erhalten durch Keller ein Gewicht, dass sie bisher auch und vor allem wegen des Vorwurfs des übermäßigen Alkoholkonsums nicht hatten. Die angebliche Trunkenheit der Soldaten zählt Keller zu den „apologetischen Ausflüchten“ mit „wenig Beweiskraft.“ Er bezeichnet im Gegenteil die beeideten Soldatenaussagen als eindeutige Belege für „den belgischen Feuerüberfall aus Häusern und Hotels am Bahnhofsplatz und dessen verzögerte, also nicht für den Ausbruch der Feindseligkeit haftbar zu machende deutsche Erwiderung.“ Krumeich ist von Kellers Erkenntnissen und Ergebnissen, so im Vorwort nachzulesen, „in gewisser Weise sehr erschüttert worden, denn sie widersprachen allem, was man sich gewöhnt hatte, für gut und richtig zu halten.“ Er hält Kellers Werk für ein „vorbildlich recherchiertes, differenziertes, klug abwägendes Buch“ und bescheinigt dem Autor, der als Kunsthistoriker „am Rande des etablierten Historiker-Betriebs“ geforscht habe, eine „grundsolide, detaillierte, farbenreiche Studie über eines der schlimmsten Reizthemen der Geschichte des Ersten Weltkriegs“ verfasst zu haben.
Keller folgt weitgehend der Argumentation, wie sie im Weißbuch vom Mai 1915 nachzulesen ist, wobei er, anders als die bisher vorherrschende Einschätzung in der Forschung, aus der Vereidigung der Soldaten deren grundsätzliche Glaubwürdigkeit ableitet. Dies ist der Dreh- und Angelpunkt seiner Darstellung, und genau hierin liegt das Problem. Wenn Krumeich davon spricht, dass Kellers Buch „eine Herausforderung sowohl für die Geschichtswissenschaft als auch für das intellektuelle Publikum“ sei, lässt sich erahnen, dass die Debatte über die Tragödie von Löwen damit neu eröffnet ist. Kellers Argumentationsgebäude im Fall Löwen steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen der unmittelbar beteiligten Soldaten, vor allem derjenigen aus Neuss. Seine von ihm selbst so genannte „Zentralität der Augenzeugenberichte“ ist deshalb nur zu untermauern, wenn man mehr über ihr Zustandekommen und über diese Augenzeugen selbst wüsste. Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Alle bisherigen Einordnungen und Bewertungen der Quellen sind im Licht oder aus der Perspektive erfolgt, die zur Untermauerung der jeweiligen Sichtweise auf das Geschehen in Löwen dienen sollten, beginnend mit den Zeugenbefragungen der beteiligten Soldaten. Eine unvoreingenommene Betrachtung ist damit fast unmöglich geworden. Wenn Kellers Buch ein Verdienst hat, dann den, dies noch einmal in aller Deutlichkeit bewusst gemacht zu haben.
Wir wissen einfach zu wenig über die Beteiligten, etwa den 1869 in Bonn geborenen Landsturm-Kompanieführer Oberleutnant Otto von Sand, Bankdirektor des „von Schaaffhausen‘schen Bank-Vereins“ in Neuss, Gründungsvorsitzender des Neusser Rudervereins und aus Bonner Studienzeiten Kaiser Wilhelms II. mit diesem persönlich bekannt. Sein Bruder Max avancierte 1914 übrigens zum Verwaltungschef beim Generalgouverneur im besetzen Belgien. Nach dem Krieg und angesichts der Besetzung von Neuss durch belgische Truppen im Dezember 1918 verließ Otto von Sand die Stadt, in der er seit 1917 wieder gelebt hatte, und zog mit seiner Familie nach München, wo er im Juni 1930 starb. Auch die anderen Offiziere des Bataillions, wie dessen 1856 in Posen geborener Kommandeur Oberstleutnant Max Karl Schweder verdienten weitere Beschäftigung, ebenso wie der 1881 in Köln geborene Battaillionsarzt Dr. Georg Berghausen, den selbst Keller als einen „unverantwortlichen Offizier“ bezeichnet, der wegen einer anstachelnden Racheaufforderung während der Straßenkämpfe in Löwen „kein Ruhmesblatt für die kaiserliche Armee“ darstellte [8] . Und schließlich bergen die Akten der vernommenen Angehörigen der Neusser Landsturmkompanie sicher noch weitere Hinweise, die weitere Untersuchungen erforderten.
Man muss kein Prophet sein um vorauszusagen, dass sich die Geschichtswissenschaft mit Kellers Thesen und vor allem Krumeichs enthusiastischer Unterstützung schwer tun wird. Aber wieder einmal bestätigt sich die Erfahrung, dass geschichtliche Darstellungen nur selten Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben können. Es handelt sich immer um Interpretationen dessen, was uns an Belegen und Überresten geblieben ist. Dies ist per definitionem immer unvollständig, weshalb neue Quellen oder neue Entdeckungen neue Erkenntnisse oder neue Bewertungen hervorbringen können. Manchmal sind es sogar nur neue Gewichtungen, wie in dem vorliegenden Fall der Tragödie von Löwen. Revisionistische Ansätze fordern zunächst zu Widerspruch auf, doch oft dienen sie auch dazu, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen, immer in dem Bewusstsein, dass es eine absolute historische Wahrheit nicht gibt bzw. nicht geben kann. Der Fall Löwen bestätigt dies nachdrücklich. Auf die weitere Debatte darf man gespannt sein. Dabei ist eines durch Kellers Buch, dass an vielen Stellen mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet, schon jetzt klar: Schuldfragen lassen sich zweifelsfrei nie klären, schon gar nicht, wenn sie so weitreichende Folgen hatten wie der deutsche Überfall auf Belgien im August 1914. Bis heute wirken die Ereignisse in Löwen vor allem international als Symbol für deutsche Kriegsgräuel im Ersten Weltkrieg. Daran wird auch die von Keller angestrebte Revision des Bildes der Ereignisse so leicht nichts ändern.
- [1] Walther Arndt, In Kampf und Sieg durch Belgien, Berlin 1915. Wie der Titel schon erkennen lässt, ist dieses Jugendbuch aus dem Ersten Weltkrieg im Tenor der deutschen Erfolgsmeldungen geschrieben und enthält auch eine längere fiktionale Passage (S. 173-179) über den „Verrat von Löwen“, die sich stark an die offizielle deutsche Sichtweise der Ereignisse anlehnt. Gerade zu Beginn des Krieges finden sich hierzu ähnliche Erzählungen in einigen anderen der zahlreichen Abenteuerbücher „für die reifere Jugend,“ etwa in Gustav Falke, Viel Feind, viel Ehr, Berlin 1915, S. 80-84; Georg Gellert, Im Schlachtgetümmel des Weltkriegs, Berlin 1915, S. 58; K. F. Stauffer (d. i. Karl Felix Schlichtegroll), Der Fahnenträger von Verdun. Eine Geschichte aus der Kriegszeit des Jahres 1914, S. 115-118. Deutlich überzeichnet aber Walter Heichen, Kaliber 42. Von Lüttich bis Antwerpen, Kattowitz 1915, S. 87-90, wo die belgischen Angreifer z. B. als „rasende Furien“ und „heulendes Gesindel“ charakterisier werden. Zum Stellenwert dieser Literatur vgl. Jürgen Brautmeier, „Ran an den Feind.“ Die literarische Erziehung der Jugend vor dem ersten Weltkrieg, in: Novaesium 2015. Neusser Jahrbuch für Kunst, Kultur und Geschichte, Neuss 2015, S. 167-209.
- [2] Vgl. Keller, Ulrich, Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914, Paderborn 2017, S. 58.
- [3] Vgl. Jens Metzdorf, „Eine Stätte des Grauens.“ Der Neusser Landsturm und die Zerstörung Löwens 1914 – Sinnbild deutscher Kriegsgräuel in Belgien im Ersten Weltkrieg, in: Novaesium 2014. Neusser Jahrbuch für Kunst, Kultur und Geschichte, Neuss 2014, S. 114-117.
- [4]Vgl. Auswärtiges Amt (Hrsg.), Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs, Berlin 1915; Ministère de la Justice et Ministère des Affaires Étrangères (Hrsg.), Réponse au Livre Blanc allemand d 10 Mai 1915, Paris 1916.
- [5]Vgl. Peter Schöller, Der Fall Löwen und das Weißbuch. Eine kritische Untersuchung der deutschen Dokumentation über die Vorgänge in Löwen vom 25. bis 28. August 1914, Köln 1958.
- [6]Vgl. John Horne und Kramer, Alan, German Atrocities 1914. A History of Denial, New Haven 2001 (deutsche Fassung: Deutsche Kriegsgräuel 1914. Die Umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004).
- [7]Vgl. Gerd Krumeich, Vorwort, in: Keller, S. 11.
- [8]Vgl. Metzdorf, S. 111-114 u. S. 127-128; Keller, S. 70-71 u. S. 74.
Bilquellen: Titel: from Project Gutenberg eBook, The New York Times Current History: the European War, February, 1915. http://www.gutenberg.org/files/18880, public domain
Bilder im Text: Zeitgenösssische Postkarten, Sammlung J. Brautmeier