Er war das, was man eine moralische Instanz der Deutschen nannte. Viele seiner Landsleute sahen in Richard von Weizsäcker den Idealtypus eines Bundespräsidenten. Helmut Schmidt, der selber mit zunehmendem Alter mehr verehrt wurde und nur ein paar Jahre älter war, kannte alle deutschen Staatsoberhäupter gut. „Aber er ragt heraus“, würdigte der Hamburger „den Preußen aus Stuttgart“. Richard von Weizsäcker wäre in diesen Apriltagen 100 Jahre alt geworden.
Ihn zu begleiten, das machte als Journalist einfach Spaß. Weizsäcker traf immer den Ton, egal, wo er auftrat, er trat nie in ein Fettnäpfchen. Jeder Schritt saß, das Lächeln war dem Anlass des Besuchs angepasst. Und dann waren da seine Worte, die er gewählt, sorgsam ausgewählt hatte, um Personen zu würdigen oder historischer Ereignisse zu gedenken. Ich hatte das Glück, als Bonner Korrrespondent Richard von Weizsäcker auf Reisen nach Rotterdam zu begleiten. Wir fuhren im Sonderzug von Mehlem bei Bonn nach Holland. Er war der erste Präsident, der diesen Ort besuchte. Rotterdam war von Nazi-Deutschland im 2. Weltkrieg bombardiert und schwer beschädigt worden. Es gab dort zu Recht viele Ressentiments gegenüber uns Deutschen. Richard von Weizsäcker fuhr hin, verbeugte sich vor den Opfern, sprach ein paar Worte des Mitgefühls, der Beifall war ihm selbst an diesem nicht einfachen Ort sicher. Er war als Freund in ein Land gekommen, das die Deutschen als ihre Feinde erlebt hatte. Und sie nahmen ihm das ab, was er zum Ausdruck brachte, die Nachbarschaft und die Freundschaft.
Er konnte zuhören
Mit Richard von Weizsäcker war ich das erste Mal in Polen, er fuhr mit dem Bus durch einst von Deutschen gepflegte Landschaften, ließ sich von Marion Gräfin Dönhoff, einer überragenden Journalistin, manches erklären, was sie einst in Ostpreußen erlebt hatte. Sie war ja Ende des Krieges mit einem Pferd Richtung Westen geritten, die Kriegsfront lag dicht hinter ihr. Sie konnte sich retten. Ein anderes Mal durfte ich ihn nach Tschechien und in die Slowakei begleiten, er besuchte das einstige KZ Theresienstadt. Überlebende des Nazi-Terrors begleiteten seinen Besuch, einfühlsam nahm er sich ihrer an, nahm gelegentlich einen an die Hand, drückte sie, man darf nicht vergessen, die Überlebenden waren sehr alte, körperlich gebrechliche Menschen. Er hörte zu, er verstand, nie gab er den Besserwisser.
Und dann seine Rede am 8. Mai 1985 aus Anlass des 40. Jahrestages der Kapitulation von Hitler-Deutschland am 8. Mai 1945. Weizsäcker sprach nicht von der Niederlage, sondern vom Tag der Befreiung von der Nazi-Diktatur. Das gefiel nicht allen im Saal, zumal den Deutschnationalen nicht, die nicht begreifen wollten, was Weizsäcker hervorhob: dass nämlich der 8. Mai nicht losgelöst gesehen werden darf vom 30. Januar 1933, als die Nazis an die Macht kamen. Und Weizsäcker hatte den Mut, den Deutschen den Spiegel vorzuhalten, viele hätten weggeschaut oder mitgemacht.
Richard von Weizsäcker war eine glänzende Erscheinung. Er zog die Blicke und die Aufmerksamkeit auf sich, wenn er auftrat, wenn er durch Städte ging. Er war ein sportlicher Bundespräsident, der Jahr für Jahr das Sportabzeichen ablegte. Zum Ärger seiner Sicherheitsleute büchste er gelegentlich in aller Früh aus der Villa Hammerschmid aus, um in einem Schwimmbad ein paar Hundert Meter zu schwimmen. Dabei war er, der von 1984 bis 1994 Staatsoberhaupt war, eher ein Repräsentant der Elite, er stellte das geistige und kulturelle Deutschland dar, Elite aber nicht im Sinne von elitär gemeint, sondern im Sinne von Verantwortung übernehmen, führen, Oder wie es sein Biograph Hermann Rudolph ausgedrückt hatte: Er ragte als „Spross der alten deutschen Elite hinein in unsere Zeit, es sind Glanz und Elend der alten deutschen Führungsschicht, die uns in ihm noch berühren.“
Hilfsverteidiger des Vaters
Sein Leben spiegelt einen wichtigen und auch schlimmen Teil der deutschen Geschichte und der Politik im 20. Jahrhundert. Er war Kriegsteilnehmer vom ersten Tag an und musste gleich zu Beginn des Polenfeldzugs den geliebten Bruder, der gefallen war, beerdigen. Nach dem Krieg war er Hilfsverteidiger seines Vaters, der 1938 Staatssekretär im Auswürtigen Amt geworden war und später involviert war in die Deportation von französischen Juden in Konzentrationslager. Sein Vater, der gewiss kein Nazi war, wurde in Nürnberg verurteilt, weil er angeblich Hitlers Kriegspolitik unterstützt hatte. Ein Urteil, das den Sohn ein Leben lang beschäftigte. Er bezeichnete es als „historisch und moralisch ungerecht.“
Der Jurist Weizsäcker legte nach 1945 eine erfolgreiche Karriere in der deutschen Industrie hin, er arbeitete bei Mannesmann in Gelsenkirchen, wo er im Stadtteil Bismarck lebte, wechselte ins Bankhaus Waldthausen und wurde Mitglied der Geschäftsführung des Pharma-Konzerns Böhringer. Ab 1954 war er Mitglied der CDU, war aktiv in der evangelischen Kirche, stieg auf in den Bundesvorstand der Partei und wurde Mitglied des Bundestages. 1974 scheiterte er als Kandidat der Union für das Amt des Bundespräsidenten, Walter Scheel, der FDP-Politiker, hatte die Mehrheit der Sozialliberalen in der Bundesversammlung, aber zehn Jahre danach war Weizsäcker erfolgreich. Später unterstützte ihn auch die SPD, fast hatte man den Eindruck, die Opposition schätzte ihn mehr als seine eigene Partei und die Regierung Kohl.
Der feine Mann, der Weizsäcker sicher war und das meine ich nicht kritisch, war auch ein Mann mit Machtanspruch. Wie sonst hätte er sich das Amt des Präsidenten holen können. Schließlich hatte er sich eigentlich festgelegt, als er Regierender Bürgermeister von Berlin geworden war, dieses Amt nicht mehr gegen ein anderes wechseln zu wollen. Er musste sich dabei gegen seinen alten Förderer Helmut Kohl durchsetzen. Einfach war das nicht, aber Weizsäcker verstand das politische Geschäft sehr wohl und bewies, dass er auch ein Mann der Macht sein konnte, auch wenn er dabei lächelte.
Kein einfacher Mann
Weizsäcker war kein einfacher Mann. Mitarbeiter stöhnten gelegentlich unter dem Anspruch, den der Präsident von seiner Umgebung erwartete. In den Morgenlagen, wo das Arbeitspensum des Tages besprochen wurde, ging es demnach nicht nur leise und vornehm zu, sondern da sei schon mal ein lauterer Ton gepflegt worden. Ob Redeentwürfe wirklich auf dem Boden landeten, wie das mal geschildert worden war, steht dahin. Es ist auch müßig. Er überzeugte als Präsident und machte dem Land viel Ehre in aller Welt. Richtig war, dass er mit Helmut Kohl des Öfteren aneinandergeraten war, weil Weizsäcker den Parteienstaat auf die Hörner genommen hatte. Er forderte, die Parteien dürften sich den Staat nicht zur Beute machen. Falsch war diese Kritik nicht.
Nach dem Fall der Mauer wurde er ein leidenschaftlicher Kämpfer für Berlin, er zog als erster politischer Würdenträger in die neue Hauptstadt, der er in seinem Leben viele Worte und Gedanken gewidmet hatte. Man denke nur an den Satz. „Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist.“ Es ist Geschichte. Und wie Recht hatte er doch mit seiner Formulierung, die Geschichte gehe weiter. Längst ist aus dem geteilten Berlin die eine Hauptstadt geworden, die Mauer auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet, Deutschland eins geworden, wenngleich in den Köpfen nicht weniger Deutscher immer noch eine Art Mauer und Stacheldraht zu bestehen scheint.
Weizsäcker hat am Ende seines langen Lebens in Berlin gelebt, wo er auf dem Waldfriedholf Dahlem beerdigt ist. Er war ein großer Deutscher, ein idealer Präsident, wie ihn Hermann Rudolph im Berliner Tagesspiegel beschrieben hat. Denn er verkörperte durch seine Präsenz und sein Leben das in der Politik, was man sonst oft schmerzlich vermisst: Glaubwürdigkeit.
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