Der Verfassungsschutz soll aufklären, nicht verwirren. Im Zusammenhang mit den Corona-Demonstrationen in Berlin jedoch hat das Bundesamt mit seinen Einschätzungen zum Einfluss von Rechtsextremisten für Irritationen gesorgt. Im Rückblick entsteht der Eindruck gravierender Fehlbewertungen.
Nach der ersten Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin am 1. August hatte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom Bundesamt für Verfassungsschutz die Mitteilung erhalten, dass nach seiner Einschätzung nur „einzelne Angehörige“ aus dem rechtsextremen Spektrum an der Demonstration teilgenommen hätten.
Zwar sei im Vorfeld durch verschiedene Personen und Organisationen aus diesem Spektrum mobilisiert worden, aber, so zitiert die FAS am 2. August: „Ein prägender Einfluss auf den Demonstrationszug oder die Gesamtkundgebung ging von diesen nicht aus“. Und: aus der Kundgebung resultiere „für die traditionelle rechtsextreme Szene keine nennenswerte Anschlussfähigkeit an demokratische Kundgebungsteilnehmer“.
Noch einen Tag vor der zweiten Corona-Demonstration Ende August, die im Erstürmen der Treppe des Reichstagsgebäudes gipfelte, blieb der Verfassungsschutz bei seiner beschwichtigenden Bewertung. „Obwohl Rechtsextremisten laut Verfassungsschutz stärker für eine Teilnahme mobilisieren, dominieren sie nach Einschätzung der Behörde bislang nicht die Demonstrationen gegen die Corona-Politik“, zitierte die Homepage des Landes Berlin das Bundesamt.
Zu dem Zeitpunkt lief die juristische Auseinandersetzung über Verbot oder Zulassung der Demonstration noch. Der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte ein Verbot ausgesprochen und das mit den Erfahrungen der Demonstration am 1. August begründet, die schließlich aufgelöst worden war, nachdem sich Demonstranten „bewusst über bestehende Hygieneregeln und entsprechende Auflagen“ hinweggesetzt hatten. Geisel hatte außerdem erklärt, er wolle nicht hinnehmen, dass Berlin erneut zur Bühne für „Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten“ werde.
Der Berliner Senat hatte also kein Interesse daran, die verfassungsfeindlichen Umtriebe im Zusammenhang mit der Demonstration zu verharmlosen. Doch die Auskunft vom Bundesamt für Verfassungsschutz lautete am Vortag der dann gerichtlich zugelassenen Kundgebung: Zwar seien die Mobilisierungsaufrufe von Rechtsextremisten „breiter und intensiver als im Vorfeld der Demonstration vom 1. August 2020 in Berlin“, und „insofern ist es durchaus möglich, dass die jetzigen Aktivitäten zu einer über das bisherige Maß hinausgehenden Teilnahme von Rechtsextremisten führen werden“, jedoch lasse sich dies „nicht belastbar voraussagen“. Das Bundesamt beobachte die Entwicklung.
Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang hatte am Tag zuvor dem ARD-Magazin „Kontraste“ gesagt, es sei den Rechtsextremisten nicht gelungen, die „Hoheit über das Demonstrationsgeschehen zu bekommen“. Im Widerspruch dazu steht nun allerdings die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag, aus der an diesem Wochenende einige Medien nach einem dpa-Bericht zitierten. Demnach hat es in den vergangenen Monaten bundesweit mehr als 90 Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen gegeben, bei denen Rechtsextremisten die Wortführer waren.
Die Antwort bezieht sich auf regionale Demonstrationen zwischen dem 25. April und dem 10. August und stellt fest, dass allein in Sachsen-Anhalt mehr als ein Drittel der von Rechtsextremisten durchgeführten oder dominierten Veranstaltungen stattfanden. Hervorgehoben werden zwei weitere Kundgebungen im Juli in Düsseldorf und Essen, an denen jeweils einige Hundert Demonstranten teilnahmen. Die meisten Veranstaltungen wurden den Angaben zufolge nicht von Parteien oder Vereinen angemeldet, sondern von Einzelpersonen. Einige Kundgebungen waren nicht angemeldet worden.
Vor dem letzten Augustwochenende hatte es folglich fast einhundert Demos bundesweit gegeben, bei denen Rechte den Ton angaben, die Initiatoren waren oder das Geschehen dominierten. Schon vor Bekanntwerden der Antwort auf die Kleine Anfrage des Linken hatte SPD-Generalsekretär sich über die Informationspolitik des Verfassungsschutzes irritiert gezeigt. „Ich habe mich ein bisschen gewundert, dass der Verfassungsschutz noch zwei Tage vor der Demonstration gesagt hat, es gibt keinerlei Hinweise, dass Rechtsextreme versuchen, diese Demonstration für sich zu kapern“, sagte Klingbeil der ARD.
Seine Schlussfolgerung wird durch die nun veröffentlichten Erkenntnisse über die Breite der rechtsextremen Umtriebe umso dringlicher: „Das wird man sich nochmal genauer angucken müssen“, forderte Der SPD-Politiker, der sich fragt, „warum diese Hinweise im Vorfeld anscheinend nicht vorlagen oder nicht vernünftig ausgewertet wurden“.
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