Wer immer noch an Europa zweifelt, wer den Sinn des Zusammenschlusses „Europäische Union“, immer noch nicht begriffen hat, auch 73 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs, der sollte Navid Kermani lesen. Sein Buch „Entlang den Gräben“ ist nicht nur ein glänzend und spannend geschriebener Reisebericht durch das östliche Europa bis Isfahan im Iran. Es ist ein Plädoyer zu Europa. 73 Jahre nach dem schlimmsten aller Kriege mit zwischen 60 und 70 Millionen Toten. Seit 73 Jahren, man muss das immer wieder mal betonen, herrscht Frieden zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Deutschland und England, zwischen Deutschland und Polen. Und seit es mit den Römischen Verträgen begann, ist dieses Europa gewachsen. Heute gehören 28 Länder zur EU. 19 Länder haben ein und dieselbe Währung. Es gibt keine Grenzkontrollen mehr, man kann überall frei studieren in diesem Europa, vielen Europäern geht es gut wie nie zuvor. Gäbe es dieses Europa nicht, man müsste es erfinden.
Der Friedenspreisträger Kermani-man könnte meinen, er komme aus dem Iran, daher kamen seine Eltern- ist in Siegen geboren und lebt seit Jahr und Tag in Köln. Im Auftrag des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ hat er Tausende von Kilometern zurückgelegt quer durch das östliche Europa bis nach Isfahan, der Heimat seiner Eltern. Entlang den Gräben heißt auch, der mehrfach ausgezeichnete Autor und tolle Erzähler hat viele Gebiete durchquert, die von Kriegen gezeichnet waren und sind, von Kriegen, die teils von deutschem Boden ausgegangen sind. Seine Leser nimmt der Autor mit nach Litauen, Weißrussland, in die Ukraine, auch Georgien, Aserbaidschan, Armenien und in den Iran. Begonnen hat er seine Reise in Schwerin, in einer Sonntagsschule für syrische Flüchtlinge, danach besuchte er eine Veranstaltung der AfD. Kermani übergeht die Gräben nicht, die an seinem Weg liegen und die fast überall das östliche Europa durchziehen. Ja, er geht direkt auf die Gräben zu, die die Gesellschaften spalten, auch in Deutschland.
Kriege und Verwüstungen
Er kommt an die vielen Massengräber, die die Kriege und Verwüstungen hinterlassen haben, und an denen der Besucher, wenn er mit offenen Augen durch die Länger reist, nicht vorbeikommt. Auch an Tschernobyl fährt er nicht vorbei, an diesem atomaren Massengrab. Ein Fünftel von Weißrussland ist immer noch kontaminiert, dort liegt alles brach. Was passiert, wenn bei einem Mitarbeiter die Höchstwerte überschritten werden? fragt er einen Biologen, der den Gast aus Deutschland an den Ort des Geschehens gebracht hat. „Dann wird er suspendiert oder sogar entlassen, ja nachdem, da sind wir sehr streng…Er muss schließlich einen Fehler gemacht haben.“ Das verseuchte Gebiet heißt im übrigen „radioökologisches Schutz-Gebiet. Welch eine Verdrehung, welch Heuchelei!
Tag für Tag beschreibt der Autor seine Eindrücke, erfährt der Leser, mit wem Kermani gesprochen hat und er hat mit vielen Menschen in den bereisten Ländern gesprochen, mit Literaten, Politologen, Journalisten und anderen kundigen Zeitgenossen. Er hat sich gut vorbereitet. Der ohnehin viel belesene Mann ist deshalb in der Lage, alles historisch und politisch einzuordnen. Ihm begegnen Machtmissbrauch, Korruption, Unterdrückung. Man liest das Buch und will es nicht weglegen.
Wie bunt dieses Europa ist, wie gemischt, zeigt neben vielen anderen Kapiteln das über Vilnius. Es ist der „Zehnte Tag“ seiner Reisenotizen. „Seit langem liegt Vilnius am Rand, am Rande des Russischen Reichs, am Rande Polens, später am Rande der Sowjetunion, jetzt der Europäischen Union. Mindestens äußerlich ist das der Stadt wunderbar bekommen, eine grandiose Architektur aus Barock und Gründerzeit, die noch nicht zu einem Freizeitpark saniert worden ist, idyllische Hinterhöfe, alte Bäume, Parks, ein breiter Fluss, ..stille Kirchen, gute Restaurants,..ein Europa, in dem hier und da die Zeit stehengeblieben zu sein schiene, wenn nicht die Menschen nach neuester Mode gekleidet wären…Wie im ehemals deutschen Breslau kein Deutsch mehr gesprochen wird, ist aus Vilnius -dem Herzen der polnischen Nationalromantik um Adam Mickiewicz und Heimat des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czexlaw Milosz das Polnische verschwunden.“ Und wo einmal das Jerusalem des Ostens gewesen sei, sei das Jüdische ausgelöscht. Die Stadt sei das „nördlichste Glied einer Kette barocker mitteleuropäischer Städte-Lemberg, Czernowitz. Bratislava, Ljubljana, Triest und so weiter- , die vielsprachig, multireligiös und kosmopolitisch waren.“Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg habe es in Vilnius 35 polnische Zeitungen, 20 litauische, sieben russische, fünf jiddische und zwei weißrussische gegeben. Und es habe Zeitungen in mehreren Sprachen gegeben. Und: „Nicht weniger als 13mal ging Vilnius im Laufe des 20. Jahrhunderts von der einen in die andere Hand.“
In Auschwitz als Deutscher
Wechselvoll war die europäische Geschichte, bunt, oft schrecklich durch die vielen Kriege. Noch ein Wort zu Litauen, weil es so typisch ist für die Vielfalt, die Europa ausmacht. Kermani staunt über die Herkunft des Obstes aus Litauen, der Moldau, Armenien, Georgien, Abchasien, Aserbaidschan und der Ukraine.
Bei der Führung durch das ehemalige Nazi-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wo rund eine Million Juden vergast wurden, musste sich der Kölner Schriftsteller für eine Sprache entscheiden. „Einen Moment, in dem ich mich deutscher gefühlt habe, als in dem Moment, wo der Button „Deutsch“ in Auschwitz auf meine Brust kam, den hat es in meinen Leben nicht gegeben.“
„Wir sind nicht gegen Europa“, betont der Publizist Igor Janka, den Kermani in Warschau trifft. „Wir reagieren nur allergisch, wenn jemand uns bevormunden will, wenn jemand herablassend zu uns spricht, erst recht, wenn es jemand Deutsches ist. Wir haben diese Sprache im Ohr.“ An anderer Stelle zitiert er aus Büchern die Geschichte des Landes. „Zwischen September 1939 und Juni 1941 ermordeten die Verbündeten Sowjetunion und Deutschland weitere 200000 polnische Bürger, größtenteils Akademiker, Offiziere, Politiker, Literaten, Musiker, Künstler.“ Fünf Millionen Polen kamen im 2. Weltkrieg um, waren Opfer der Sowjets und der Nazis. Aber auch 25 Millionen Russen waren Opfer des Krieges, den man, was den Osten betrifft, zu Recht Vernichtungskrieg nennt. Weil die Nazis angetreten waren, die Polen und die Russen zu vernichten.
Entlang der Autobahnen und Landstraßen in Weißrussland und der Ukraine blickt der Autor beinahe ständig auf Friedhöfe. Und wo es keinen Friedhof mehr gebe, fände man ein einzelnes Denkmal ohne einen Friedhof. „Bloodlands“ hat der US-Historiker Timothy Snyder das vom Krieg gezeichnete Gebiet zwischen Polen und der Ukraine genannt. Zwischen 1930 und 1943 wurden dort 14 Millionen Zivilisten getötet, von Sowjets und den Nazis.
Aber Kermani entdeckt neben den Gräben der Toten und der Vernichtung auch manche Hoffnung, die er mit Europa verbindet. Europa bedeutet für den Kölner Schriftsteller, der natürlich auch Fan des FC Köln ist, nicht nur der Zugriff zu den Brüsseler Fleischtöpfen, die erwähnt er auch und die kann der Tourist an vielen Stellen in Polen besichtigen. Wichtiger für Kermani ist die Vielfalt Europas, das friedliche Nebeneinander nach all den Kriegen mit vielen Zerstörungen.
Navid Kermani: Entlang den Gräben. Verlag Beck, München. 2018. 442 Seiten. 24.95 Euro.
Bildquelle: C.H.Beck Verlag
So friedlich ist Europa gar nicht, die europäischen Kolonialkriege werden weiter geführt. Afghanistan, Irak, Libyen, Somalia, Mali, Sudan, Syrien, Jemen… und im Osten Europas wird massiv aufgerüstet gegen Russland. Pesco heisst das neue milliardenschwere, europäische Miilitärbündnis. Und Frontex bewacht die Aussengrenzen.