Für Europa wird 2019 zu einem Schicksalsjahr. Erstmals in der Geschichte verlässt – falls nicht noch ein Wunder geschieht – ein Mitgliedsland die Europäische Union. Wenige Wochen danach finden die Europawahlen statt, und es schicken sich stramme Nationalisten und Rechtspopulisten an, das Europaparlament von innen heraus zu torpedieren.
Mit solchen Aussichten kann einem angst und bange werden; denn bei aller Unvollkommenheit ist die EU doch das historische Einigungswerk, das dem Kontinent eine nie dagewesene Friedensperiode beschert hat. Mit der wirtschaftlichen Integration, die stets der Motor war, ging allmählich eine politische Einigung einher. Europa wurde demokratischer und garantiert jedem einzelnen seiner Bürger die Grund- und Menschenrechte.
Gewiss, da sollte noch mehr gehen. Doch derzeit schwindet die Perspektive auf eine solidarische, sozial gerechtere und global verantwortungsvolle Zusammenarbeit. Die Feinde Europas betreiben den Zerfall, und seine Freunde erwecken gerade nicht den Eindruck, als könnten sie den Attacken die nötige Entschlossenheit entgegensetzen.
Macron und Merkel haben es verbockt
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel haben es verbockt. Sie haben das Zeitfenster verpasst, in dem sie den Einigungsgedanken wiederbeleben und als Motor in der EU Fortschritte hätten bewirken können. Beide sind nun kaum noch zu einem überzeugenden Kraftakt in der Lage; Macron nicht, weil ihn die Gelbwesten traktieren, Merkel nicht, weil ihr Abgang besiegelt ist.
Da verblüfft es schon, dass die Europäer sich allen Widrigkeiten zum Trotz in zentralen Bereichen geschlossen zeigen. Sie lassen sich bislang weder im Ringen um den Brexit, noch in den vielen Konflikten mit dem US-Präsidenten Donald Trump auseinander dividieren. Sie halten Kurs im Handelsstreit, beim Atomabkommen mit dem Iran, sogar beim Klimaschutz mit zuletzt ehrgeizigen CO2-Zielen. Doch wie lange die Einigkeit hält, wenn die Direktwahl zum Europäischen Parlament, die bevorstehenden nationalen Parlamentswahlen in allein sieben EU-Ländern vollzogen sind und wenn der Austritt Großbritanniens zum 29. März tatsächlich erfolgt, lässt sich nicht absehen.
Es kommt zum Schwur
Ein geregelter Brexit ist nach wie vor nicht in Sicht. Im britischen Unterhaus ringt Premierministerin Theresa May um eine Mehrheit, Mitte Januar soll es zum Schwur kommen. Eine nochmalige Verschiebung der Abstimmung über den Vertrag, den sie mit Brüssel ausgehandelt hat, schließt die konservative Regierungschefin bislang aus, ebenso wie ein zweites Referendum, obwohl inzwischen laut Umfragen eine Mehrheit der Briten gegen den Brexit ist. May kämpft gegen einen harten Brexit, einen ungeregelten Austritt, der das Land ins Chaos stürzen und auch die EU in Mitleidenschaft ziehen würde. Das schreckt die Gegner in der eigenen Partei nicht. Ihre Widersacher kämpfen mit harten Bandagen, und sie wollen May scheitern sehen.
Weitere Zugeständnisse der EU sind Mays letzte Hoffnung. Doch bei aller aufkommenden Nervosität und bei allem guten Willen: der Vertrag wird nach übereinstimmenden Brüsseler Bekundungen nicht wieder aufgeschnürt, und für die heikle Nordirland-Frage gibt es keine praktikable Alternative. Eine EU-Außengrenze, die die irische Insel durchteilt, wäre jedenfalls ein Anschlag auf die mühsam errungene Beilegung des jahrzehntelangen Konflikts, geradezu eine Bankrotterklärung der EU, ein Verrat an allem, wofür sie zuallererst steht: ein friedliches Miteinander und die Überwindung von Nationalismus und Gewalt.
Im Spiel der europäischen Kräfte war das Europaparlament oft Hüter der grundlegenden Werte. Es hat sich nach und nach mehr Rechte erobert und dem mächtigeren Rat wie der Kommission entsprechende Leitplanken gesetzt. Die Wahl im Mai stellt die Weichen neu, und derzeit stehen alle Signale auf Rückschritt. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs schrumpft die Zahl der Europaabgeordneten von 751 auf 705. Die konservative EVP- Fraktion und auch die Sozialdemokraten rechnen mit herben Verlusten.
Schlimmste Befürchtungen
Rechtspopulisten und Nationalisten blasen zum Sturm auf das Parlament. Die Machenschaften des ultrarechten US-Demagogen Steve Bannon wecken schlimmste Befürchtungen, dass Europas demokratisches Herz zu schlagen aufhören könnte. Dagegen hilft nur die Mobilisierung der demokratischen Kräfte, die Wiederbelebung der Europa-Begeisterung, die Überzeugungsarbeit daran, dass die EU nicht allein den Märkten, sondern in erster Linie den Menschen verpflichtet ist. Das wochenlang währende Trauerspiel um die aus dem Mittelmeer geretteten Frauen, Männer und Kinder, die keinen sicheren Hafen finden, ist ein fatales Signal.
Vor fünf Jahren hat nicht einmal jeder zweite Wahlberechtigte von seinem Stimmrecht Gebrauch gemacht, die Wahlbeteiligung lag bei nur 42,6 Prozent. Sei das nun Ausdruck von Verdruss oder Zufriedenheit, Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit: Demokratie lebt vom Mitmachen, und nur eine höhere Wahlbeteiligung schützt Europa vor seinen Feinden.
Bildquelle: flickr, Garry Knight, CC BY 2.0
'Europa in stürmischen Zeiten – Nach dem Brexit droht der Zerfall' hat einen Kommentar
8. Januar 2019 @ 14:34 Europa in stürmischen Zeiten – Nach dem Brexit droht der Zerfall - Blog der Republik - Counternet News
[…] Europa in stürmischen Zeiten – Nach dem Brexit droht der Zerfall Blog der Republik […]