Es mag Zufall gewesen sein, dass die Broschüre über Willy Brandts Jahre im Rheinstädtchen Unkel ausgerechnet an diesem Freitag, den 31. August im Rathaus von Unkel vorgestellt wurde Hier in Unkel verbrachte der große alte Mann der SPD die letzten Jahre seines bewegten Lebens. Der Tag hat historische Bedeutung, der Bundespräsident weilt gerade in Bonn, weil hier der Parlamentarische Rat vor 70 Jahren das Kunstwerk vollbrachte und dem äußerlich noch schwer zerstörten und geteilten Land eine Verfassung gab: das Grundgesetz, das wie sich längst herausgestellt hat, einmalig ist in der Geschichte dieser Republik. Ein weiterer Zufall, der mit dem Lebenslauf des Sozialdemokraten und Nazi-Widerstandskämpfers Brandt eng verknüpft war: Am 1. September 1939, vor 79 Jahren, begann Nazi-Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Brandt mußte nach Skandinavien fliehen. 1949, als der erste deutsche Bundestag seine Arbeit in Bonn, in der ehemaligen Pädagogischen Hochschule, aufnahm, war Willy Brandt dabei.
Brigitte Seebacher, seine Ehefrau, mit der er in Unkel von 1979 bis zu seinem Tod 1992 gelebt hatte, und Rudolf Scharping, wenn man so will der politische Lieblingsenkel von Willy Brandt, stellten die Broschüre des Willy-Brandt-Forums vor. Scharping ist Vorsitzender des Vereins der Freunde und Förderer des genannten Forums. „Heimfahrt nach U.“ heißt das 63 Seiten umfassende Heftchen mit der Unterzeile: „Willy Brandts Jahre in Unkel.“ Hier schlug er Wurzeln, der Mann, der Weltpolitik gestaltet hatte.
Deutscher, Europäer, Weltbürger
Unkel ist ein reizendes Städtchen, direkt am Rhein gelegen, mit vielen Fachwerkhäusern. Es ist auch ein Weinstädchen, gerade ist Winzerfest hier. Und es wird schon so gewesen sein, dass Brandt die Jahre in diesem kleinen, idyllisch gelegenen Ort genossen hat, der Mann, der aus Lübeck kam und der später Regierender Bürgermeister von Berlin wurde, ehe er 1969 als erster Sozialdemokrat Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde. Eine historische Figur, ein großer Deutscher, ein wirklicher Europäer, ein Weltbürger, der sich der sich abzeichnenden Probleme in Afrika als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission annahm und manches Unheil, was diesen Kontinent ereilt hat, kommen sah. Und der schon damals um Hilfe bat für diesen lange vergessenen Kontinent, dessen Probleme aus der langen und entbehrungsreichen Zeit der Kolonialjahre herrühren.
Aber dass so viele gekommen sind nach Unkel, darunter sein Fahrer Hans Simon, hängt gewiss nicht nur mit dem schönen Städtchen zusammen. Als Rudolf Scharping ans Mikrophon geht, um ein paar Anekdoten über seinen Lehrmeister zu erzählen, aber auch, um dessen Bedeutung für Deutschland, ja Europa herauszustellen, stelle ich mir sofort die Frage: Was hätte Willy Brandt, lebte er noch, getan, um der am Boden liegenden SPD auf die Beine zu helfen? Was hätte der Mann, der einst die rebellierenden Studenten in die SPD integrierte, was hätte er unternommen gegen den um sich greifenden Rechtsradikalismus, gegen die AfD?
Willy Brandt habe das 20. Jahrhundert geprägt, sagt Scharping. Er muss die Leistungen des großen Mannes hier nicht im einzelnen würdigen die Zuhörer wissen das alles, wie er nach mehreren Anläufen Kanzler geworden war, Friedensnobelpreisträger, mit welchen Anfeindungen Brandt zu kämpfen gehabt hatte, weil er ein Emigrant war, jawohl, das warf man ihm vor. Die Adenauer-CDU hielt ihm im Wahlkampf weiter vor, dass er eigentlich Herbert Frahm heiße und ein uneheliches Kind sei. Ein entsprechendes Flugblatt wurde in Millionen Haushalten verteilt. Titel: Willy Brandt alias Herbert Frahm. Brandt hat darunter gelitten. Aber das ist nicht Scharpings Thema. Brandt habe Politik gemacht, eingebettet in einer politischen Idee, die sehr eng mit der Idee der Sozialdemokratie zusammenhing, mit Solidarität, Freiheit, Toleranz, Frieden. Und Scharping erzählt von seinen Jahren nach dem Ausscheiden aus der Politik in Boston, wo er mit jungen Menschen aus vielen Teilen der Welt zusammengekommen war und ihnen immer wieder die eine Frage gestellt habe: In welchem Land möchten Sie leben, wenn Sie die Wahl hätten? Und immer wieder- in 75 vh der Fälle- habe es die Antwort gegeben: gern in Europa, in Deutschland, in Skandinavien. Dank einer prägenden Gestalt wie Willy Brandt gelte es in diesem Land zu verteidigen, was man erreicht habe: dass man hier in Deutschland sich besser, fairer, freier und gerechter entfalten könnte als anderswo. Das ist die Leistung der großen alten Männer von damals, zu denen Willy Brandt gehörte.
Nur Scharping hat Willy besucht
Brigitte Seebach gibt das nächste Stichwort, sie erzählt von Willy Brandt und dem Nachwuchs der Partei, damals liebevoll Enkel genannt: Also Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Björn Engholm, Wolfgang Roth, der unter den Zuhörern sitzt, und eben Rudolf Scharping, dem der Mann von der Saar, also Lafontaine und andere nicht zugetraut hätten, das konservative Land Rheinland-Pfalz für die SPD zu erobern. Als er es dennoch geschafft habe, sei Brandt sehr stolz auf seinen Rudolf gewesen. Es war ja bekannt, dass Brandt den Scharping sehr geschätzt hat. Mindestens einmal hat Brandt die anderen Sozialdemokraten gemahnt: Vergesst mir den Westerwälder nicht, gemeint Scharping, der damals in Lahnstein wohnte. Und ihr Willy, so Brigitte Seebacher weiter, habe an Scharping auch geschätzt, dass er ein Bündnis mit der FDP geschlossen habe. Sozialliberale Koalitionen habe Willy Brandt für das Richtige gehalten. Und sie lässt nicht unerwähnt, dass Rudolf Scharping Willy Brandt besucht habe, als dieser krank geworden war, schwer krank und schließlich am 8, Oktober 1992 starb. Die anderen hätten nicht einmal angerufen, um sich nach Willy Brandt zu erkundigen.
Die Enkel, die Stürmer und Dränger damals, die nach vorn wollten, wo die Alten saßen, eben Willy Brandt und andere. Brandt habe das verstanden. Scharping erzählt von seinem eigenen Werdegang, davon, wie er 1966 in die SPD eingetreten sei und sich dann ein Partei-Ordnungsverfahren eingehandelt habe. Er hatte ein Flugblatt gegen die Starfighter-Jets unter die Leute gebracht, was man antiamerikanisch auslegte, so waren damals die Sitten. Die Sowjetunion wurde dämonisiert, Amerika gefeiert. Scharping blieb in der SPD, wurde Juso-Chef im Lande, später Ministerpräsident, Kanzlerkandidat, Parteichef. Er gibt eine Geschichte aus dem Parteivorstand der SPD preis, nach der Einheit und mit dem Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine. Der habe darüber geklagt, dass er 1990 die Wahl gegen Helmut Kohl deshalb verloren habe, weil die beiden Alten, gemeint Willy Brandt und Helmut Schmidt, ihm in den Rücken gefallen wären. Willy Brandt, dem in der Tat die ablehnende Haltung des Saarländers zur deutschen Einheit nicht gefiel, habe den Äußerungen Lafontaine zunächst geduldig zugehört, um dann am Ende fast empört aufzuspringen und zu sagen: „Ich hätte als Ehrenvorsitzender der SPD auch zurücktreten können.“
Als Grass für Brandt trommelte
Scharping erwähnt die Wählerinitiative für Willy Brandt mit dem Schriftsteller Günther Grass und Friedel Drautzburg. Wo sind heute die Intellektuellen in der politischen Auseinandersetzung? Heute, da es wieder gilt, dieses Land und seine Demokratie gegen Angriffe zu verteidigen. Der Feind, hat der CDU-Politiker und Ministerpräsident Armin Laschet den Politiker Fritz Wirth aus den 20 er Jahren zitiert, der Feind steht Rechts. Wo ist die Linke, wo ist die SPD in diesem Kampf? Parteichefin Andrea Nahles hat angekündigt, die Historische Kommission der SPD, einst von Willy Brandt gegründet, aufzulösen. Ausgerechnet. Die Geschichte der SPD, das ist doch ein Pfund, mit dem man wuchern könnte. Ja, es stimmt, Willy Brandt, das erzählt Brigitte Seebach, hatte in der Zeit der Wende, als die Mauer fiel, Kummer mit Teilen der Partei, z. B. mit Lafontaine.
Was würde er heute sagen? Willy Brandt, der Streiter für Demokratie und Freiheit, wie es in dem Heftchef des Forums steht. Wir wollen immer noch und immer wieder mehr Demokratie wagen, heißt es weiter in dem Heft in Erinnerung an Sätze aus der ersten Regierungserklärung des Kanzlers Brandt 1969. Der Mann, der durch seine Entspannungspolitik mit den östlichen Nachbarn in Erinnerung blieb wie für seinen Kniefall in Warschau, durch seine Politik Wandel durch Annäherung. Willy Brandt steht in einer Reihe mit Konrad Adenauer, Robert Schumann, Alcide de Gasperi und Jean Monet. Sein spanischer Freund Felipe Gonzalez urteilte über Brandt: Deutscher bis ins Mark, Europäer aus Überzeugung, Weltbürger aus Berufung. Und in diesem Sinne forderte Gonzalez: Unkel soll ein Weltdorf werden. Zumindest ein schönes Willy-Brandt-Forum als ein kleines Haus der Geschichte haben sie.
Willy-Brandt-Forum: Heimfahrt nach U. Willy Brandts Jahre in Unkel 1979 bis 1992. 63 Seiten. 10 Euro
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