Verfallenes Haus

Gegen das Vergessen: Walker Percy: Liebe in Ruinen

Percy gilt als einer der großen Südstaaten-Schriftsteller der USA. Die Handlung dieses Romans (im Original erschienen 1971, deutsch 1974) spielt in Louisiana, in der Vorstadt Paradise. Der Arzt, Psychiater und Forscher Dr. Thomas More lebt mit drei schönen Frauen in einem heruntergekommenen, verlassenen Gebäude (den Ruinen), in dem die vier Personen je ein Zimmer nebeneinander bewohnen; ein weiteres dient als Vorratskammer für Lebensmittel und Alkohol (More trinkt regelmäßig Whisky). Zur Zeit ist er nicht im Krankenhaus tätig, weil er sich selbst in psychiatrische Behandlung begeben hat. Er ist scharfsinnig und blickt politisch durch, kann sich aber weder mit den Konservativen, die er die Hornochsen nennt, noch mit den Liberalen (den Linken) identifizieren. Er hebt nicht so sehr auf die politischen Differenzen zwischen den beiden Parteien ab, sondern hat herausgefunden, dass diese Richtungen sich signifikant durch bestimmte Krankheitssymptome unterscheiden, an denen ihre Anhänger jeweils leiden. Das Lebensgefühl der Mehrheit und sein eigenes diagnostiziert und charakterisiert er wie folgt:

Immerhin, den meisten Amerikanern geht es eigentlich doch ganz gut. Ja, bis vor kurzem haben praktisch alle versucht, glücklich zu sein, und zwar mit Erfolg, bis auf mich. Daß ich unglücklich bin, liegt nicht an Paradise. Ich habe Pech gehabt. Meine Tochter ist gestorben, meine Frau mit einem heidnischen Engländer durchgebrannt, und ich wurde das Opfer von Depressionen und Morgen-Grauen, ganz zu schweigen von abstrakten Zornausbrüchen und sprunghaften Gelüsten nach fremden Frauen.
Hier steckt das Problem: Was soll ein unglücklicher Psychiater an einem Ort machen, wo alle anderen glücklicher sind als er? Arzt, heile dich …
Zu meinem Glück sind neuerdings viele Leute unglücklich geworden. Gewisse psychiatrische Erkrankungen sind aufgetaucht, sowohl bei Linken als auch bei Hornochsen.
Konservative bekommen unkontrollierte Wutausbrüche, Wahnvorstellungen von Verschwörungen, hohen Blutdruck und Dickdarmbeschwerden.
Liberale neigen mehr dazu, sich sexuelle Impotenz zuzuziehen, Morgen-Grauen und ein Gefühl der Abstraktion des Ichs von sich selbst.
So kommt es, daß eine Hornochsenstadt wie meine Heimatstadt da drüben ein halbes Dutzend Proktologen ernähren kann, während Orte wie Berkeley oder Beverly Hills einen Psychiater in jedem Block haben.
Es ist mein Unglück – und Segen –, daß ich zugleich an liberalen und konservativen Beschwerden leide, das heißt zugleich Morgen-Grauen und Dickdarmstörungen, übermäßige Abstraktion und unkontrollierte Wutausbrüche, abwechselnd Impotenz und Satyriasis. So daß ich zu gleicher Zeit viel Mitgefühl mit meinen Patienten habe und ein ziemlich elendes Leben führe.

Das Zitat gewährt Einblick in die Denkweise und die Ordnungsschemata des Protagonisten: Für ihn teilt sich die Bevölkerung nicht nur in Arm und Reich, Unten und Oben, Schwarz und Weiß ein, sondern auch nach den zwei politischen Hauptrichtungen und die unter ihnen jeweils verbreiteten psychischen und körperlichen Krankheiten oder Beschwerden. Als Psychiater und Arzt leidet er an den Leiden beider Gruppen, als hätte er sie auf sich genommen, und wenn sie deswegen unglücklich sind, dann ist er logischerweise der Unglücklichste von allen. Dieses Unglück ist kein individuelles Problem, es hat gesellschaftliche Ursachen und Auswirkungen. Man könnte von einer gesellschaftlichen Krankheit sprechen. More ist davon überzeugt, dass dieser mit seiner Erfindung, einer kleinen Maschine, Lapsometer genannt, beizukommen ist, weil er hiermit die Symptome messen, diagnostizieren und behandeln kann: Mit meiner kleinen Maschine kann ich mit gleichem Erfolg das Morgen-Grauen von Liberalen und die Apoplexie von Konservativen diagnostizieren und behandeln. Praktisch könnte ich die USA retten, wenn wir die nächste Stunde oder so überleben.

Percy zeichnet das Bild einer zutiefst zerrissenen amerikanischen Gesellschaft, die am Abgrund steht. Sie driftet politisch, sozial, religiös und rassisch auseinander: More sieht die Notwendigkeit, ein Notprogramm aufzulegen, um die massenhafte Verbreitung seines Lapsometers zu ermöglichen. In einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten Max bringt More sein Anliegen vor:

Max, ich drücke mich anscheinend nicht deutlich genug aus … Ich spreche von einem Blitzprogramm … und fünfundzwanzig Millionen Dollar.
Ein Blitzprogramm? Sie meinen auf nationaler Ebene? Sie glauben an einen nationalen Notstand?
Sogar noch mehr, Max! Es sind eben nicht nur die USA, sondern es ist die Seele des westlichen Menschen, die HIER und JETZT im Begriff ist, auseinanderzufliegen. Herrjesus, Max, Sie haben doch den Aufsatz gelesen. Ich kann es messen, Max! Erstens muß das Ding in Massenproduktion gehen und dann in die Hände der praktischen Ärzte; und zweitens muß ich das therapeutische Äquivalent meines diagnostischen Durchbruchs ausfindig machen. Finden Sie etwa nicht?
Ja nun. Die Seele des westlichen Menschen, das ist ein weites Feld, Tom. Außer dass es ziemlich, öh, metaphysisch …
Metaphysisch ist ein Wort, Max. Es ist nichts Metaphysisches an der zehnfachen Steigerung von Greueltaten in dieser Gegend. Es ist nichts Metaphysisches daran, wenn die Kletterpflanzen ausschlagen. Es ist nichts Metaphysisches an den Bantu-Guerillas und daran, daß das Land auseinanderfällt in Hornochsen und Leftpapas.

Percy schafft mit seinem Protagonisten Thomas More eine literarische Figur, die ein seismographisches Gespür für die sozialen und psychischen Verheerungen entwickelt, die sich unter der Oberfläche einer scheinbar harmonischen, sich der Gefahren nicht bewussten amerikanischen Gesellschaft entwickeln. Das normale Alltagsleben der Menschen ist es, das er attackiert: die Routinen; die Sinnleere; die Gewohnheiten; die Wiederholungen; die Gleichgültigkeit; die Langeweile:

Alles ist hier entzückend und friedlich. Finken pfeifen in den Azaleen. Golfer surren die Fairways auf und ab in ihren putzigen kutschenartigen Wägelchen. Haushaltungsvorstände mähen ihren Rasen, rittlings auf winzigen eselsgroßen Traktoren. Die Leute gehen zur Kirche, obwohl ihnen der Glaube längst abhanden gekommen ist; heiraten, setzen Kinder in die Welt, sind wohlgenährt, wenn auch etwas zu fett, pflegen ihre Neurosen und vor allem, sie sind furchtbar nett zueinander. Die Leute gucken und sprechen und lächeln und sind nett, und der Abgrund gähnt. Bei der Nettigkeit packt einen das Entsetzen.

More lässt sich nicht täuschen: Er weiß, dass dies alles nur oberflächlicher Schein ist und die Katastrophe jederzeit eintreten kann. Vielleicht ist er paranoid; vielleicht ist er als Außenseiter einfach nur sensibler für Vorgänge, die sich im Innern der Gesellschaft abspielen. Denn More unterscheidet sich von seinen Mitmenschen dadurch, dass er sich vom normalen Alltagsleben der Leute fernhält. Er liebt es, in seiner Freizeit in seine Praxis zu gehen, Whisky zu trinken, den Schwalben bei ihrem Flug zuzuschauen und nachzudenken. Hier kann er sich dem Tempo der modernen Zeit, das ihm Angst macht, entziehen; er hält inne; sucht nach Wahrheit und sinnt über seine Erfindung nach. More dürfte  für die Problematik der Suche nach Wahrheit hinreichend sensibilisiert sein; immerhin hat sich seine erste Frau mit dem Argument von ihm getrennt, er suche ihr zu wenig. Er nimmt ihr Anliegen zwar zunächst nicht ernst; als sie ihn dann aber tatsächlich verlässt, gerät er doch ins Grübeln; vor allem, als sie Hermann Hesse mit den Worten zitiert: Wenn ich die Wahl hätte zwischen dem Besitz der Wahrheit und der Suche danach, würde ich die Suche wählen.

Da More sowohl Arzt als auch Patient ist, kennt er die psychischen Deformationen seiner Klientel, und er selbst kämpft gegen seine Angstzustände, sein Morgen-Grauen an, weswegen er sich in einer Nervenklinik behandeln lässt. Er weiß  um den inneren Zustand der Gesellschaft, der die Wertmaßstäbe abhanden gekommen sind und die sich zunehmender Orientierungslosigkeit und Irritation ausgesetzt sieht:

Ich, der Gläubige, der das Ganze geschluckt hat, Gott Juden Christus Kirche, finde die Welt ein Irrenhaus und ein Irrenhaus mein Zuhause … Lieber Gott, laß mich hier weg, zurück ins Irrenhaus, wo ich gesund bleiben kann. Die Dinge sind zu nackt hier draußen … Es ist leicht zu begreifen, warum Männer ihre besten Arbeiten im Gefängnis oder im Exil vollbringen, Männer wie Dostojewski, Cervantes, Bonhoeffer, Sir Thomas More, Genet und ich, Dr. Thomas More. Pascal hat geschrieben, als ob er lebenslänglich im Gefängnis wäre und folglich war er frei. Im Gefängnis oder im Exil oder in einer Nervenklinik hat man Zeit zu beobachten und zuzuhören. Meine Frage war: Wie ist es mit dir, Mitpatient? Wie ist es mit dir, Mitarzt? Und ich sah, wie es war. Viele Männer haben das getan, Visionen gesehen, Träume geträumt. Aber man kann es wissenschaftlich nicht verwenden, so lange man es nicht messen kann. Ich hatte Glück, als ich zufällig auf eine Möglichkeit stieß, die Länge und Breite und die Regungen des Ich selber zu messen. Meine kleine Maschine ist der erste Meßzirkel der Seele.

Er glaubt, mit dem Lapsometer ein Instrument erfunden zu haben, um sich mit den bislang unmessbaren und ungreifbaren Spannungen zu befassen, die das nationale Gefüge zerreißen. Percy scheint an dieser Stelle seine Kritik am Zustand der Gesellschaft zu erweitern: Und mit der Verkehrung von Welt und Irrenhaus, Exil und Gefängnis, weist er auf die Psychopathologie des Alltagslebens hin; verrückt sind nicht die Insassen oder Exilierten, sie bringen schließlich großartige Werke hervor; nein, verrückt ist die sogenannte Normalität, das ganz normale Leben, wo sich der Irrsinn abspielt. Und außerdem dürfte keine Gesellschaft so sehr von einer allgemeinen Technikgläubigkeit durchdrungen sein wie die amerikanische. Percy schildert, wie weit man bei der Bekämpfung psychischer Erkrankungen bereits fortgeschritten ist: In der Love-Klinik gibt es Vaginalcomputer, die die sexuellen Störungen der Patientinnen messen und beheben sollen; es gibt Euphorieschalter, um depressive Stimmungen zu überwinden; es gibt sogenannte glückliche Inseln, wohin alte Menschen gebracht werden, die nicht mehr therapiefähig sind. Kurzum: man glaubt fest daran, für jedes menschliche Leiden ein Mittel gefunden zu haben.

Percy führt diese Methoden ad absurdum. Ihm ist klar, dass man soziale Mißstände nicht mit Hilfe technischer Apparate kompensieren kann. Im Gegenteil: Viele der Leiden haben ihre Ursache gerade in einer zunehmend perfektionierten Normalität, die die Menschen zu Objekten macht und ihnen keine Möglichkeit bietet, eigene Erfahrungsräume zu erschließen, ihre Phantasie anzuregen, Visionen und Träume zu haben, ihre Subjektivität auszuleben. (In dieser Sichtweise ähneln sich die literarischen Intentionen Percys und Dieter Wellershoffs, der die Ursache menschlicher Leiden und gesellschaftlicher Mißstände ebenfalls in den Entfremdungstendenzen sieht, denen die Menschen in der sogenannten Normalität moderner Gesellschaften ausgesetzt sind.)

Percy lässt More über die Bedürfnisarmut einer seiner Patientinnen folgendes aussagen: Ich konnte demonstrieren, dass eine Dame, die an Frigidität und Morgen-Grauen litt und sagte, sie wäre von ihren allzu strengen methodistischen Eltern falsch konditioniert worden, in Wahrheit vom Grauen vor ihrem so gut wie vollkommenen Leben überwältigt war, wirklich der Tod im Leben, in Paradise, wo all ihre Bedürfnisse befriedigt wurden und sie nichts zu tun hatte als Golf und Bridge zu spielen und im Clubhaus herumzusitzen und die Schwimmtreffen anzusehen und die Christlichen Tambourmajoretten. Sie erwachte jeden Morgen für einen vollkommenen Ehemann, vollkommene Kinder, ein vollkommenes Leben – und zitterte wie Espenlaub vor Morgen-Grauen. Alle Bemühungen, sie in einer Skinner-Box zu rekonditionieren, schlugen fehl. Ich dachte, dass sie den Zusammenhang falsch sahen, dass die Frigidität auf dem Grauen beruhte und nicht umgekehrt. Wie kann eine Dame, die von Grauen geschüttelt wird, mit ihrem Mann schlafen?

Percy lässt seinen Protagonisten More mit dessen Lapsometer letztlich scheitern; damit wird deutlich, dass er keine perfekten Lösungen präsentieren möchte – und seien sie noch so visionär oder fiktional. Zwar lassen sich mit dem Gerät Gefühlsschwankungen messen; gesellschaftlich verursachte Mißstände lassen sich indes damit nicht beheben. Die Szene, in der More die Leistungsfähigkeit seines Apparates vor Berufskollegen und Studenten vorführt – im sogenannten Zirkus – lässt Percy in ein allgemeines Chaos ausufern: Jeder möchte in den Besitz dieses heilversprechenden Geräts gelangen, womit die Gefahr gegeben ist, dass es in falsche Hände gerät und zweckentfremdet wird; wohl ein deutlicher Hinweis auf die Gefahren einer unbeherrschten Technikanwendung. Letztlich zieht sich Percy auf die Position allgemein verbindlicher Menschenrechte zurück: Es ist die Qualität des Lebens, die zählt. Und das Recht des einzelnen, über seinen Körper zu bestimmen. Und vor allem das heilige Recht des Menschen, sein eigenes Schicksal zu wählen und sich mit seinen eigenen Möglichkeiten zu verwirklichen. Vielleicht ist hier auch die Erklärung dafür zu finden, warum Percy More ins normale Leben zurückkehren lässt. Die Welt ist defizitär und überaus unvollkommen, könnte eine Botschaft sein – aber eine andere als diese Welt haben wir nicht. Versuchen wir also, das Beste daraus zu machen.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Angela Yuriko Smith, Pixabay License

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Dr. Petra Frerichs, Studium der Literatur- und Sozialwissenschaften, schreibt über Literatur (und Kunst), am liebsten gegen das Vergessen von guten alten Sachen.


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