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Gegen den Muff -nicht nur unter den Talaren – Debatte über die 68er und wie sich Konservative heute daran abarbeiten

Alfons Pieper Von Alfons Pieper
24. April 2018
Rudi Dutschlke im Gespräch mit Rudolf Augstein

Die erste große Demo, die ich als Student erlebt habe, war jene Mitte der 60er Jahre. Damals zogen Tausende von Studenten über den Berliner Kurfürstendamm. Sie protestierten gegen die Bildungsmisere und den Lehrermangel. Der Pädagoge und Philosoph Georg Picht hatte dazu 1964 sein Buch über die „Bildungskatastrophe“ geschrieben. Es ging sehr gesittet zu, nach meiner Erinnerung ist nichts weiter passiert, kein Auto wurde demoliert, keine Scheibe eingeschmissen. Man demonstrierte und der Berliner Bürger schaute zu. Sicher hat er geschimpft auf die faulen Studenten, weil das so üblich war damals, weil die jungen Leute, anstatt zu studieren, den Ku-Damm blockierten. Sie trugen lange Haare und Bärte und galten damit schlicht und einfach als mindestens Freunde der Kommunisten wenn nicht gar als Kommunisten. Die Vermieter meiner Studentenbude in Dahlem sahen das genauso. Und bei der Immatrikulationsfeier an der Freien Universität entrollten protestierende Studenten das Plakat mit der Aufschrift „Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren.“

Es gab auf vielen Ebenen der Bundesrepublik diesen Muff, er musste ja nicht unbedingt 1000 Jahre alt sein. Aber Mitbestimmung oder Anhörung, demokratische Diskussionen in den Familien fanden zumeist nicht statt. Der Vater hatte das Sagen. Fertig. Die Mutter gab klein bei, kriegte ihr Haushaltsgeld, kaufte ein, kochte, kümmerte sich um die Kinder, der Vater besorgte das Einkommen. Ich weiß, dass das nicht überall der Fall war, aber es ging in vielen Familien autoritär zu. Dagegen aufzumucken, war nicht Thema bei uns im Dorf, da herrschte noch Ordnung, wie das damals hieß. Und wer dem nicht folgte, konnte sich schon mal eine einfangen. Auf dem Land wurde nicht demonstriert, man ging als Katholik des Sonntags in die Kirche, war lange Jahre Messdiener. Protest, in der Provinz? ein Fremdwort.

APO gegen die große Koalition

Nicht so in der Stadt, nicht so in Berlin, München, Frankfurt. Politisch rebellierte die APO gegen die große Koalition und die von CDU, CSU und der SPD beschlossenen Notstandsgesetze. Von Rebellion war die Rede, Revolution, antiautoritäre Erziehung machte sich breit, aber nicht überall. Ich erlebte einen jungen Sozialdemokraten, der, als er mit seiner vielköpfigen Familie ins eigene Haus einzog, seinen Kindern klarmachte: Die Demokratie hört vor der Haustür auf. Der Grund: die Kinder warfen die Türen ins Schloss, Klinken wurden nicht runtergedrückt, man ging sehr rustikal mit dem teuren Eigentum um. Um dies vor dem frühen Verfall zu retten, war es aus mit der autiautoritären Erziehung. Ein Einzelfall? Mag sein.

Es wurde nicht mehr alles hingenommen, weder zu Hause, noch in der Schule, Ungehorsam machte sich breit, man widersprach oder hinterfragte, was nicht jedem gefiel, weil plötzlich begründet werden musste, was man von den Jugendlichen verlangte.Am Arbeitsplatz herrschte lange noch Disziplin im Sinne des Ausbilders oder Chefs. Aber das Mitreden-Wollen war nicht mehr von der Tagesordnung zu streichen.

Kommunisten waren die Bösen

Politisch- ich rede weiter vom Land- veränderte sich die Stimmung nur sehr langsam. Die Kommunisten waren die Bösen. Und wenn jemand mit ihnen sympathisierte, hörte er nicht selten die Aufforderung: Geh doch nach drüben! Du bekommst eine Fahrkarte geschenkt, aber nur für die Hinfahrt und dann musst Du dort bleiben. Es war leicht für die Konservativen, Stimmung gegen die SPD zu machen. Die Adenauer-CDU erlaubte sich sogar die Unverschämtheit, im Wahlkampf ein Flugblatt gegen den SPD-KanzlerkanddiatenWilly Brandt in Millionen Haushalte zu werfen, in dem man Brandt vorwarf, dass er ein uneheliches Kind war. Willy Brandt alias Herbert Frahm, so sein Familienname. Derselbe Willy Brandt, der vor den Nazis nach Skandinavien geflohen war, musste sich noch in den 60er Jahren für seine Flucht rechtfertigen. Der Emigrant wurde allen Ernstes gefragt: Herr Brandt, wo waren Sie eigentlich während der Nazi-Zeit? Wir waren hier. Übrigens ein Wort zu den bösen Kommunisten: Es waren die Nazis, die die Sowjetunion überfallen und einen Vernichtungskrieg gegen die Russen geführt haben.

Die 60er Jahre, das war dann auch der Beginn des Endes, die  Nazi-Zeit zu beschweigen. Über Jahre konnten Nazis einfach ihre Karriere im Staatsdienst der Bundesrepublik fortsetzen, sie mussten nur ihre braunen Hemden wechseln. Die Auseinandersetzung  mit der NS-Zeit, das ist natürlich wahr, haben schon andere begonnen, darunter der mutige Fritz Bauer, der hessische Generalstaatsanwalt, der gegen viele Widerstände ankämpfen musste, ehe der Auschwitz-Prozess in Gang kam. Dann wurde über die Verbrechen der Deutschen an Millionen Juden gesprochen, über die Verbrechen der Wehrmacht. Zum Erbe der 68er gehört das Thema dennoch. Zum Erbe gehört der Protest gegen den Vietnam-Krieg, der zunächst in Deutschland auch verteufelt wurde, weil die Amis ja die Guten waren. An diese Proteste in München kann ich mich gut erinnern. Hans-Jochen Vogel hatte als OB in der bayerischen Metropole so seine Probleme mit den meuternden Jusos.

Gleiches Recht für Frauen

Vergessen wir nicht die Emanzipation der Frauen, den Kampf um die gleichen Rechte für Frauen und Männer, die zwar im Grundgesetz festgelegt sind, aber in Wirklichkeit spielten Frauen die zweite Geige, sie hatten kein Recht, ohne Zustimmung des Mannes einen Beruf auszuüben, durften kein eigenes Konto führen, sie hatten kein Recht, die Scheidung von ihrem Ehemann zu betreiben. Nur drei der vielen Rechte, die den Frauen vorenthalten wurden. Die Demokratisierung der Gesellschaft, die sexuelle Liberalisierung, daran haben die 68er einen großen, wenn nicht entscheidenden Anteil.

In diese Zeit fielen auch die Schüsse auf Rudi Dutschke, der am 11. April 1968 von einem rechtsradikalen Attentäter angeschossen wurde. 11 Jahre später starb der dann 39jährige einstige Studenten-Führer an den Folgen des Attentat im dänischen Aarhus.  Ein Jahr vor Dutschke, 1967, waren die Schüsse auf den Studenten Benno Ohnesorg gefallen. Er hatte wie Tausende andere gegen den Schah-Besuch in Berlin demonstriert. In die Zeit fielen nicht nur die schon erwähnten Notstandsgesetze, gegen die die Studenten auf die Straße gingen. Der Staat ließ sich den sogenannten Radikalen-Erlass einfallen, um 68er, die man schlichtweg für Kommunisten hielt, vom Staatsdienst fernzuhalten. Mancher Lehrer verlor seinen Job. Ich habe einige kennengelernt. Willy Brandt hat den Radikalen-Erlass später als seinen Fehler eingeräumt.

Konservative arbeiten sich an 68ern abhttps://www.flickr.com/photos/hinkelstone/28702510653

Ich wundere mich immer wieder, wie Konservative wie gerade wieder bei „Hart, aber fair“ die CSU-Politikerin Dorothee Bär, immerhin Staatsministerin im Kanzleramt unter Angela Merkel, sich an den 68ern abarbeiten, wie sie bestreiten, dass es viel Schutt wegzuräumen gab in diesem Staat, damit er zu dem wurde, was er heute ist. Und auch heute gilt es wieder, Altes und Hergebrachtes in Frage zu stellen und es den Erfordernissen der Moderne anzupassen oder umzubauen. Ich kann über einen wie Alexander Dobrindt, den CSU-landesgruppenchef, nur den Kopf schütteln, dass er eine konservative Revolution fordert. Hat er vergessen, dass die Nazis diesen Begriff in der Weimarer Zeit für sich okkupierten? Und was das angebliche Vorherrschen von Linken in Führungspositionen, er meint sicher auch Regierung, angeht, darf ich ihn nur daran erinnern, dass Helmut Kohl die Republik von 1982 bis 1998 regierte und Angela Merkel seit 13 Jahren Bundeskanzlerin ist. Nicht zu vergessen die Regierungszeit der CSU in Bayern. Wo bitte herrschen die Linken?

Jawohl, es gab viel Muff in der Gesellschaft, oder soll ich besser vom Mief reden, es gab eine Menge Reformstau, Zustände, die nicht hart genug kritisiert werden konnten. Nicht zu vergessen die damals hetzende Springer-Presse. Wenn ich das richtig erinnere, hat sich Peter Böhnisch, der war mal Chefredakteur der Bild-Zeitung, und später Regierungssprecher des Kanzlers Helmut Kohl, dafür entschuldigt. Immerhin. Und heute? Die 68er sind, wenn sie noch leben, alt. Sie erleben wie wir alle mit, wie sich der Rechtspopulismus in Europa breit macht, wir erleben die Trumps, Erdogans, Orbans, in Frankreich konnte Le Pen gerade noch gestoppt werden, in Italien ist der Ausgang offen. Und in Deutschland sitzen AfD-Politiker in den Landtagen und im Bundestag und sie können folgenlos vor johlenden Anhängern Menschen mit ausländischer Herkunft als „Kümmeltürken“ beschimpfen, sie können ungestraft das Holocaust-Mahnmal in Berlin als eine Schande bezeichnen. Es sind Leute, die Nationalismus predigen, Rassismus, die fremdenfeindliche Parolen brüllen und die das Zusammenwachsen in Europa gefährden. Wenn wir nicht endlich dagegen aufstehen. Denn das anständige Europa ist immer noch in der Mehrzahl.

Literatur zum Thema, alle erwähnten Bücher im Verlag Wagenbach Berlin erschienen: Rudi Dutschke: Geschichte ist machbar. 124 Seiten. 10 Euro. Ulrike Meinhof: Bambule.  134 Seiten. 10 Euro. Erich Fried: Ansprachen.  89 Seiten. 10 Euro. Peter Brückner: Ungehorsam als Tugend.125 Seiten. 10 Euro. Peter Schneider: Ansprachen. 92 Seiten. 10 Euro

Bildquelle: flickr, Karl-Ludwig Poggemann, CC BY 2.0

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Tags: 68APODemokratieGroße KoaltionNeo-KonservatismusRechtspopulismusStudewntenbewegungVergangenheitsbewältigung
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