Sankt Petersburg. Die Einheimischen nennen ihre einmalige Stadt fast zärtlich Pieter. Dostojewski hat sie gehaßt und kam doch nicht von ihr los. „Moskau ist ein hausbackenes Weib, es backt Plinsen, bleibt hocken, läßt sich, ohne vom Sessel aufzustehen, von den Dingen erzählen, die draußen in der Welt geschehen“. Und Nikolai Gogol schwärmt: „Petersburg ist ein bebender Bursche, der nie zu Hause hockt, der stets zum Ausgehen fertig ist, und, zum Abgucken bereit, vor Europa paradiert.“ Über dieses Sankt Petersburg, über den Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa hat Christian Neef, Jahrgang 1952 ein Buch geschrieben, eines von dem man hätte annehmen können, daß es längst geschrieben worden war. Ist es aber nicht. Es ist eine absolut faszinierende Geschichte, die 200 Jahre währt. Sie ist tragisch, erfolgreich, traurig, mörderisch. Vor allem aber hat der frühere Spiegelkorrespondent in Moskau sie spannend und aufschlußreich niedergeschrieben.
Petersburg hat Ende des 19. Jahrhunderts, da ist die Stadt erst 200 Jahre alt, 1,3 Millionen Einwohner. Nikolaus II. regiert – nicht sehr erfolgreich. Die brodelnde Stadt ist das politische, das wirtschaftliche, das kulturelle Zentrum dieses Riesenreiches. Der Weltkrieg ist weit etfernt. Die Revolution ist es auch. In diese Zeit platziert Neef gleich zu Beginn die Ankunft des Deutschen Oskar Böhme, der als Musiker eine große Karriere an der Newa machen und der nach der Revolution tragisch enden wird. Das Buch ist glänzend recherchiert, was auch für die Geschichte der Familie von Armin Müller-Stahl gilt, dessen Großvater 1913 als Pfarrer in die russische Hauptstadt kommt. Das gilt auch für die Familie Poehl, die eine Apothekendynastie errichtet, ein Firmenimperium, das in den 20er Jahren zertrümmert wird. Drei Beispiele wie die Bolschewisten die Elite, auch die deutsche, vernichtet haben. Wer den Petersburgern zuhört, wer sich links und rechts der Newa herumtreibt, aufmerksam ist, wird merken, daß sich die Stadt bis heute von diesem Morden und Zerstörungen nicht erholt hat. Allein darin liegt ein wesentlicher Verdienst dieses Buches, gerade in diesen gar nicht einfachen Jahren, was das Verhältnis zwischen Russen und Deutschen angeht.
„Nach der letzten Einwohnerzählung von 1890 leben 98 000 Adlige in der Stadt, 15 000 Kaufleute, 217 000 Bürger und Zunftmitglieder, ferner 480 000 Bauern sowie 31 000 Soldaten,“ schreibt Neef und kommt auf die Deutschen: „87% der Petersburger sind Russen. Aber danach folgen schon die Deutschen, rund 44 000 sind es jetzt. Nicht einmal annähernd soviele Einwohner stellen Polen, Finnen und Juden, die sich die nächsten Plätze teilen. Daß die Gemeinde der Deutschen so groß ist, wundert niemand in St. Petersburg.“ Seit der Gründung durch Peter I. gehören die Deutschen zur Stadt. Der Zar vermälte seine Nichten mit deutschen Adligen. Die Deutschen besiedelten die Wassili-Insel, gründeten Brauereien, Handwerksbetriebe, arbeiteten auf den Werften. Während eines Spaziergangs durch das prachtvolle Zentrum oder über den Newski Prospekt hinunter zur Newa sind noch heute die Spuren dieser Geschichte zu entdecken. Vielleicht sollte der Besucher das mit Christian Neefs Buch in der Hand tun in Form einer literarischen Spurensuche. Denn am Beginn des 20. Jahrhunderts ist ein Drittel der Geschäfte und Salons entlang des gesamten Newski Prospekts deutsch. Es gibt deutsche Vereine und Gesellschaften, zwei deutsche Zeitungen.
Die Stadt entwickelt sich, wird moderner, sie verändert und vergrößert sich und wird industrialisiert. Das Zarentum hält diesen Prozessen nicht stand, Nikolaus II. und seine Berater sind diesen Entwicklungen nicht gewachsen. Die wunderbaren Kriminalromane des russischen Schriftstellers Boris Akunin spielen in jenen Jahren und zeigen nachdrücklich wie der Hof im Winterpalais und seine Strukturen degenerieren, werden von Lenin und seinen Genossen hinweggefegt, ermordet. Neef zeigt das durch die fast romanhaft erzählten deutschen Familiengeschichten, die so bitter enden: „Die Namen der ….. Petersburger Deutschen, die den Furor von Krieg, Bürgerkrieg, Hunger und politischem Terror nicht überleben, sind….. verschwunden, niemand in Deutschland, ja selbst niemand in St. Petersburg kennt sie mehr.“Vielleicht zum Schluß: Christian Neef ist ein ganz großartiges Buch gelungen und ein notwendiges.
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