Bildung ist Ländersache, und so kommt es, dass die Diskussion über ein Verbot der Handynutzung an Schulen aktuell vor allem in den Landtagen geführt wird. Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU) hat gleichwohl eine Haltung dazu und befürwortet eine Einschränkung privater Mobilgeräte. „Wenn es nicht gelingt, Kinder, vor allem kleinere, jüngere Kinder, ohne übermäßige Bildschirmnutzung aufwachsen zu lassen, dann hat die Gesellschaft insgesamt versagt und die Kinder im Stich gelassen“, sagte sie im Deutschlandfunk.
Während Prien es beim Handyverbot bei Appellen an die Länder belässt, wird sie beim verwandten Thema eines Mindestalters für die Nutzung der sogenannten Sozialen Medien, für das sie auf Bundes- und europäischer Ebene mit zuständig ist, deutlicher. Die Ministerin warnt vor dem enormen Suchtpotenzial solcher Internetangebote und sagt: „Sie würden ja bei vergleichbaren Themen wie Alkohol oder Drogen auch nicht sagen, wenn Kinder mit acht oder zehn oder zwölf Jahren nicht in der Lage sind, damit verantwortlich umzugehen, dann braucht man sie nicht verbieten, sondern dann ist das eine Frage des verantwortlichen Umgangs.“
Weniger Mobbing, mehr Konzentration
Unterstützung erhält Prien von ihrer Kabinettskollegin, der Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD). Eine klare und vor allem wirksame Altersgrenze schütze Kinder in ihrer Privatsphäre und fördere zudem eine gesunde Entwicklung, sagte Hubig der Deutschen Presseagentur und wörtlich: „Kinder und Jugendliche brauchen Schutz statt Selbstdarstellungsdruck.“ Erste Erfahrungen aus anderen Ländern zeigten positive Auswirkungen auch in den Schulen: „weniger Mobbing, mehr Konzentration, sozialeres Miteinander“.
In die Debatte kommt langsam Bewegung. Der Koalitionsvertrag im Bund sieht die Einsetzung einer Expertenkommission vor, die Zivilgesellschaft macht Druck mit Initiativen wie der Petition „Smarter Start ab 14“. Massive gesundheitliche Gefahren wie psychische Störungen und die Verhinderung einer kindgerechten Entwicklung bedrohten die Kinder, wenn sie Pornografie, Gewalt und Mobbing schutzlos ausgesetzt seien. Einer OECD-Studie zufolge beträgt die tägliche Bildschirmzeit von 15-Jährigen sieben Stunden. Das ist mehr als in den meisten untersuchten 36 europäischen Ländern. Eine riskante bis krankhafte Nutzung ermittelte das Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf für ein Viertel der Zehn- bis 17-Jährigen, knapp fünf Prozent gelten als süchtig.
Mutproben können tödlich sein
Laut OECD deuten Studien darauf hin, dass problematischer Konsum das Risiko für Depressionen, Angstzustände, Einsamkeit, Schlafstörungen sowie Schwierigkeiten in der Schule und mit dem eigenen Körperbild verursacht. Der Kriminologe Stefan Kersting geht davon aus, dass durch die weitverbreiteten Gewaltdarstellungen in Social-Media-Videos bei Kindern und Jugendlichen die Hemmschwelle sinke, im Fall von Konflikten selbst Gewalt anzuwenden. Laut einer aktuellen Studie der Landesmedienanstalt NRW ist ein Drittel der TikTok-Challenges, also digitalen Mutproben, physisch und psychisch potenziell schädlich, ein Prozent sogar potenziell tödlich.
Das geballte Gefahrenpotenzial legt dringenden Handlungsbedarf nahe. Australien hat Ende per Gesetz ein Mindestalter von 16 Jahren für die Nutzung sozialer Medien eingeführt. Frankreich plädiert für eine europaweite Regulierung mit einem Mindestalter von 15 Jahren. Doch es gibt auch Widerspruch, etwa den vom Deutschen Lehrerverband. Dessen Präsident Stefan Düll verwies im ZDF auf eine fehlende Umsetzbarkeit von Altersgrenzen und Verboten sowie auf das Recht der Kinder auf Information. „Es kann uns gefallen oder nicht: Aber wenn sie sich zum Beispiel über Politik informieren, geschieht das oft über Social Media“, sagte Düll.
Kinder haben Rechte
Tatsächlich hat jedes Kind nach Artikel 17 der UN-Kinderrechtskonvention grundsätzlich das Recht auf Zugang zu Medien, allerdings „insbesondere derjenigen, welche die Förderung seines sozialen, seelischen und sittlichen Wohlergehens sowie seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel haben“, wie der Kinderschutzbund in einer Stellungnahme ausführt. Eingeschränkt wird dieses Recht durch den Aspekt des Kinder- und Jugendschutzes, nämlich dass Kinder vor Informationen und Material zu schützen sind, „die ihr Wohlergehen beeinträchtigen“.
Zugleich hebt der Kinderschutzbund die „zentrale Rolle“ hervor, die digitale Geräte für die Verwirklichung von Teilhabe- und Förderrechten der Kinder spielen. Die Teilhaberechte umfassen neben der Meinungs- und Informationsfreiheit auch die Berücksichtigung des Kindeswillens (Art. 12), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 14), die Versammlungsfreiheit (Art. 15) und die Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben (Art. 31). Unter die Förderrechte bzw. Versorgungsrechte fallen z.B. das Recht auf bestmögliche Gesundheit (Art. 24) und das Recht auf Bildung (Art. 28), wozu natürlich auch die mentale Gesundheit, das digitale Wohlbefinden und digitale Bildung gehören. Gleichzeitig haben Kinder das Recht auf Schutz: Dazu zählen Schutz vor Gewaltanwendung (Art. 19), Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung (Art. 32), Schutz vor Suchtstoffen (Art. 33) und Schutz vor sexuellem Missbrauch (Art. 34). „All diese Schutzdimensionen lassen sich auch auf die digitale Welt und die Nutzung von Medien übertragen“, stellt der Kinderschutzbund fest und kommt dennoch zu der Auffassung, dass ein „generelles Verbot von Smartphones“ nicht, in „bestimmten Kontexten“ sehr wohl sinnvoll sein könne.
Die Liste der Online-Risiken, die der Kinderschutzbund anführt, ist lang: „Dazu zählen etwa das (ungewollte) Ansehen pornografischer oder gewaltvoller bzw. gewaltverherrlichender Inhalte, rechtsextremistische Inhalte bzw. alle Inhalte, die die Herabwürdigung von Gruppen zum Ziel haben und Ungleichwertigkeitserzählungen
Mindestalter wird umgangen
Ein „zentraler Schlüssel zum Erfolg“ sei es, „all jene stärker in die Verantwortung zu nehmen, die mit digitalen Angeboten und Geräten Profite erzielen: Plattformanbieter, Werbewirtschaft, Gerätehersteller und viele mehr.“ Außerdem seien die Eltern in der Pflicht, ihre Kinder vor Selbstgefährdungen, aber auch Gefährdungen durch Dritte zu bewahren. Letzteres setzt ein hohes Maß an Medienkompetenz voraus, über das längst nicht alle Eltern verfügen. Entsprechende Hilfestellungen wären wünschenswert, brauchen jedoch Zeit, bis sie Früchte tragen. Und der Appell an die Verantwortung der Profiteure verspricht noch weniger einen effektiven Schutz der Kinder.
Die europäische Datenschutzverordnung (EU-DSGVO) regelt über den besonderen Schutz der personenbezogenen Daten von Kindern indirekt auch ein Mindestnutzungsalter. Da die Verarbeitung personenbezogener Daten nur nach Einwilligung der betroffenen Person rechtmäßig ist und diese Zustimmung erst ab einem Alter von 16 Jahren gegeben werden kann, bleiben jüngere Nutzer außen vor, es sei denn, ihre Eltern geben die Einwilligung. Doch in der Praxis bleiben Plattformen oft dahinter zurück und lassen Lücken für Jüngere. Dienste wie TikTok und Instagram haben in ihren Nutzungsbedingungen ein Mindestalter von 13 Jahren festgelegt.
„Das Netz kennt keine Altersbegrenzung. Das, was bei TikTok viral geht, macht keine Grenzen vor Acht- oder Neunjährigen. Sie sehen dasselbe wie wir Erwachsenen“, sagt Silke Müller im Deutschlandfunk. Die Folge sei eine Verrohung, nicht nur der Sprache, berichtet die Schulleiterin aus Oldenburg, die ihre Praxiserfahrungen in dem Buch „Wir verlieren unsere Kinder! Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat“ veröffentlicht hat.
Von strengeren Regeln zur Altersüberprüfung verspricht sich Marc Jan Eumann nichts. Der Leiter der Kommission für Jugendmedienschutz, Marc Jan Eumann, begründet seine Skepsis mit den bisherigen Erfahrungen. Betreiber, die Jugendliche im Netz ernsthaft schützen wollten, könnten das längst tun. „Ich habe keinen Zweifel, dass sie alles machen können. Sie tun es nur nicht, wenn es ihr Geschäftsmodell gefährdet“, kritisiert Eumann und fordert ein Durchgreifen der Politik.
Untätigkeit der Gesetzgeber
Zum Durchgreifen, sprich: gesetzgeberischem Handeln, haben sich beim Handy-Verbot an Schulen mehrere Länder – Frankreich, Italien, Dänemark, Österreich, die Niederlande und Finnland – mit unterschiedlicher Strenge entschlossen. In einigen deutschen Bundesländern treten zum neuen Schuljahr gesetzliche Regelungen bzw. Erlasse in Kraft. Für Grundschulen sind einheitliche Maßnahmen gegen Smartphones weniger umstritten als für die weiterführenden Schulen, einheitliche Verbote folgen dennoch nicht.
Mehrere Länder wollen auf eine landesweite Regelung verzichten und überlassen es den einzelnen Schulen – in Nordrhein-Westfalen sind es rund 5500 – „in einem schulinternen Aushandlungsprozess klare und verbindliche Regeln für die Handynutzung zu vereinbaren“. Nach den Vorstellungen des Schulministeriums sollen alle öffentlichen Schulen in NRW bis zum Herbst 2025 eigene, altersgerechte Regeln für die private Handynutzung verbindlich in die Schulordnung aufnehmen. Dazu gibt es „Handlungsempfehlungen“ und die Erklärung, dass das Ministerium „ein allgemeines landesweites Handyverbot an Schulen derzeit nicht für die beste Option für alle Schulen und Schulformen“ halte.
Inhaltlich ist die Begründung nachvollziehbar: „Während an einer Grundschule oder in der Primarstufe einer Förderschule aufgrund des Alters der Schülerinnen und Schüler eine generelle und konsequente Begrenzung der Nutzung des Handys sinnvoll ist, kann es an weiterführenden Schulen auch Konzepte zur gezielten Integration von Handys in den Unterricht geben, denn auch die Vermittlung von Kompetenzen zum sicheren und verantwortungsvollen Umgang mit Medien in der digitalen Welt gehört zum Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule.“ Als Rechtfertigung fürs Nichtstun jedoch, das Lehrkräften und Eltern die Arbeit aufbürdet, taugt die Erklärung nicht. Solche Differenzierungen sind selbstverständlich auch Gegenstand verbindlicher Gesetze, wie sie aktuell von Hessen und Finnland verabschiedet wurden. Der Staat bleibt in der Fürsorgepflicht.
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