„Wisst Ihr Deutsche das?“ Fragt Thomas Mann in seiner BBC-Sendung am 27. März 1942, dass die Nazis die Juden in ganz Europa „entmachtet, entrechtet, enteignet, in den Staub gedemütigt“ haben? Aber das war noch nicht genug, stellt Thomas Mann in seiner Rundfunkansprache an die Deutschen, gehalten in Kalifornien, aus dem Exil, fest. „Was sind das für Menschen, für Ungeheuer, die des Schändens nie satt werden, denen jedes Elend, das sie den Juden zufügen, nur immer ein Anreiz war, sie in noch tieferes, noch erbarmungsloseres Elend zu stoßen?“ Vernichtung heißt unter Hitler und Co, was man mit Juden machen will, sie ausrotten, wie Joseph Goebbels es offiziell angekündigt hatte, „völlige Austilgung der europäischen Judenschaft“. Sie vergasen, ermorden, verhungern, erfrieren lassen, sie totschlagen, sie sich zu Tode arbeiten lassen. Es ist nur der Auszug aus einer Rundfunkrede von Thomas Mann im britischen Sender BBC während des 2. Weltkrieges. Insgesamt waren es 59 Ansprachen, die jetzt aus Anlass des 150. Geburtstages des großen deutschen Schriftstellers neu ediert wurden, versehen mit einem lesenswerten Vor-und Nachwort der Historikerin Mely Kiyak, die dem Leser Orientierung, die Bedeutung der Reden erklärt, das Einmischen Thomas Manns auch sprachlich, weil die Diktatoren die Sprache verhunzen, um die Wahrheit zu verdrehen.
Die Rundfunkansprachen wurden von Thomas Mann auf Platte gesprochen, nach London per Flugzeug geschickt und dort im Original, mit seiner Stimme, an die Deutschen Hörer gesendet. Nur die erste Rede wurde per Telefon nach London gesendet und dort von einer BBC-Stimme ins Deutsche Reich gesprochen. Das mit der Platte war besser, weil die Hörer in Deutschland nun Thomas Manns Original-Sprache vernehmen konnten.
Aus schlechtem Gewissen?
Zugegeben, ich kenne die „Buddenbrooks“, die Geschichte vom Verfall einer wohlhabenden Lübecker Kaufmanns-Familie, wegen der Thomas Mann 1929 den Literaturnobelpreis erhielt, 28 Jahre nach dem Ersterscheinen des großen Werkes. Ich habe das Buch nicht in Gänze gelesen, es war mir-pardon- mit rund 800 Seiten zu umfangreich, zu dick, aber ich habe in dem Buch einige Seiten gelesen und später, viel später den Film darüber gesehen. Ich kenne die anderen großen Werk des Lübecker Dichters, „Zauberberg“, „Tod in Venedig“, aber von seinen Radiosendungen über BBC während des Krieges wusste ich nichts. Das Buch „Deutsche Hörer“ ist für mich neu und wenn ich mich umhöre in meinem Bekanntenkreis, trifft das auch für sie zu. Einen alten Freund, der vor Jahrzehnten über Manns Buddenbrooks promoviert wurde, kann ich leider nicht mehr fragen, er ist vor Jahren gestorben. Warum sind Manns Reden im Krieg an die Deutschen gegen Hitler so unbekannt? Sie sind spannend, Mann kann reden, auch mit großer Leidenschaft, ja mit Wut, mit Empörung über den Diktator und seine Gesellen, all die Kriegsverbrecher. Wollten wir es nicht wissen, aus schlechtem Gewissen? Augen zu?
Wer also Thomas Mann gelesen hat, entweder die Buddenbrooks oder den Zauberberg, er erlebt jetzt einen anderen Mann, wenn er die Texte aus „Deutsche Hörer“ heute nachliest. Da ist nicht mehr der Mann, der fein schreibt, fast möchte ich sagen erhaben, jedes Wort bedenkt, ob es denn zu seinem Thema passe, der das Wort wiegt, ehe er es in die Waagschale legt. Nein, mit Hitler und Goebbels, mit dem Nazitum rechnet er ab, der Dichterfürst, wie ihn Marcel Reich-Ranicki einst rühmte, legt sein edles Gewand ab, um die Schergen der Nazis so anzusprechen, wie sie es verdienen. Wer es nicht glaubt, lese nach, wie Thomas Mann verbal draufhaut. Hitler bezeichnete er als „hohle Nuss“, als „widerwärtig“, und die nationalsozialistische Politik gegen das, was Thomas Mann besonders schätzte, den Geist, die Wissenschaft und die Kultur als „idiotisch-obszön“. Die Nationalsozialisten waren für ihn eine „blutige Schmierengruppe“, ein „Mordgesindel“. Man hört die Wut des Schriftstellers heraus, die Wut darüber, was aus seinem Deutschland, dem Land der Dichter und Denker unter den Nazis gemacht worden ist, das erschüttert ihn zutiefst. Er mahnt die Deutschen, sich von Hitler und den anderen Verbrechern loszusagen, sie zu stürzen.
Verführt, getäuscht, geknechtet
Er sieht seine Landsleute lange als verführt an, getäuscht, geknechtet. Aber irgendwann beginnt der Glaube an das Gute im Deutschen bei Thomas Mann zu schwinden. Er weiß sehr früh von den Gräueln in den Vernichtungslagern, er schildert, was in Auschwitz und anderswo passierte mit Juden und Andersdenkenden, er beschreibt das Unsagbare, die millionenfache industrielle Vergasung der Juden. Und damit straft Mann die Mär vom unwissenden Bürger Lügen. Sie müssen es gewusst haben, täglich marschierten Tausende Zwangsarbeiter durch die Städte zu den Produktionsstätten von BMW zum Beispiel, zu den Zechen im Ruhrgebiet, zu Krupp, über das KZ Dachau wurde in Münchner Zeitungen berichtet. Täglich verschwanden Bürgerinnen und Bürger, wurden sie abgeholt von den Männern in den schwarzen Ledermänteln, der Gestapo.
Thomas Mann gab via BBC das Massaker an der Zivilbevölkerung im tschechischen Lidice im Juni 1942 bekannt. Nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich(berüchtigter SS-Obergruppenführer, Chef des Reichssicherhauptamtes, Vize-Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, mit der Endlösung der Judenfrage beauftragt) wurde das kleine Dorf in Mittelböhmen dem Erdboden gleichgemacht, 173 Männer wurden ermordet, die Frauen und Kinder in KZs deportiert. Thomas Mann hatte in seinen Reden auch zuvor die Zerstörung der Altstadt von Rotterdam im Mai 1940 durch deutsche Bomber und die von Coventry im November 1940 veröffentlicht.
Wer die Gräuel nicht kannte, konnte sie spätestens eben durch Thomas Mann erfahren der kam über BBC unzensiert in die Wohnhäuser der Deutschen. Was im Warschauer Ghetto passierte, Mann schilderte es wie die Tötung von Millionen Juden durch Gas in den polnischen Konzentrationslagern. „Wisst Ihr Deutschen das? Und wie findet ihr es? Wem ist damit gedient? Das Unaussprechliche, das in Russland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wisst ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins Riesenhafte heranwachsenden Hass, der eines Tages über Euren Köpfen zusammenschlagen muss“. Gesprochen im September 1942.
Im Juni 1943 klärte er die Deutschen darüber auf, dass „sieben Millionen Menschen zur Zwangsarbeit deportiert, fast eine Million exekutiert oder ermordet “ worden seien und dass Zehntausende in der Hölle der Konzentrationslager seien, er hätte von Millionen sprechen können. Immer wieder warnte Mann die Zuhörer vor der Lügenpropaganda der Nazis, ihrer Menschenfeindlichkeit, ihrer Knechtschaft, er warnte vor der Hybris seiner Landsleute, sich als „Herrenvolk“ zu verstehen, was ihnen die Nazis eingebläut hatten. Die Abschaffung der Menschenrechte, so Mann, sei nicht erst 1939 passiert, sondern habe 1933 begonnen.
Der verbotene Feindsender
BBC, Deutschsprachiger Dienst. Da konnte mancher Deutsche, der das Glück hatte, den Nazis zu entkommen, während des Krieges arbeiten. Der „Feindsender“ war natürlich von den Nazis verboten. Die Nazis hassten den Sender, weil der unzensierte Meldungen über das andere Deutschland verbreitete, in dem es verdeckt Menschlichkeit gab und in dem der Widerstand gegen das NS-Regime zum Ausdruck kam. Wer erwischt wurde, als er BBC hörte, musste mit dem Schlimmsten rechnen. „Verruchte Lumpen“ nannten die Nazis Leute wie Mann, der in seinen Radioansprachen auch das Schicksal der Weißen Rose, das von Sophie Scholl, schilderte. Thomas Mann würde man heute als Widerstandskämpfer bezeichnen. Mann störte das unaufhörliche Hassgebrüll der Nazis, es war ihm zuwider dieses Proletentum, „ihr minderwärtiger Fanatismus“, „ihre armselige Unnatur“, „ihre ganze defekte Menschlichkeit“.
Auf eine der Reden Manns reagierte Hitler in einem Münchner Bierkeller. Der Diktator bezichtigte den Dichter „mit Schaum vor dem Mund“ der Aufwiegelei. Und Mann ließ sich die Vorlage nicht entgehen. In seiner nächsten Rundfunkansprache sagte er: „Aus diesem Mund ist so viel Unrat gekommen, dass es mir leichte Ekelgefühle erregt, meinen Namen daraus zu entnehmen“.
Am 10. Mai 1945, als alles vorbei war, Deutschland kapituliert hatte, der Krieg zu Ende war, halb Europa in Scherben lag, resümierte Thomas Mann in einer seiner letzten Ansprachen: „Wie bitter ist es, wenn der Jubel der Welt der Niederlage, der tiefsten Demütigung des eigenen Landes gilt.“ Die Sieges-, die Friedensglocken dröhnen, die Gläser klingen, Umarmungen allüberall hört man Mann weiter. Und: „Der Deutsche aber, dem von den Allerunberufensten einst sein Deutschtum abgesprochen wurde, der sein grauenvoll gewordenes Land meiden und sich unter freundlicheren Zonen ein neues Leben bauen musste- er senkt das Haupt in der weltweiten Freude; das Herz krampft sich ihm zusammen bei dem Gedanken, was sie für Deutschland bedeutet, durch welche dunklen Tagen, welche Jahre der Unmacht zur Selbstbestimmung und abbüßender Erniedrigung es nach allem, was es schon gelitten hat, wird gehen müssen.“ Wörtlich Thomas Mann, der dennoch zu dem Ergebnis kommt: „Die Stunde ist groß, auch für Deutschland, wo der Drache zur Strecke gebracht wurde, das wüste und krankhafte Ungeheuer, Nationalsozialismus genannt, verröchelt und Deutschland wenigstens von dem Fluch befreit, das Land Hitlers zu heißen.“
Ehren-Doktortitel aberkannt
„Es ist trotz allem eine große Stunde, die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit“. Sagte der große Dichter, der einst 1933 von einer Vortragsreise in die Schweiz, gewarnt von den Kindern, nicht nach Deutschland zurückkehrte, sondern blieb. Und der später in die USA übersiedelte, in Kalifornien lebte mit seiner Frau Katja. Die Nazis entzogen ihm am 2. November 1936 die deutschen Staatsbürgerrechte, und am 19. Dezember wurde er von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn(sie war längst auf Nazi-Kurs wie andere auch) informiert, dass man ihm, Thomas Mann, den 1919 verliehenen Ehrendoktortitel aberkannte. Und in den USA reifte dieser Schriftsteller dann zur starken Stimme gegen Hitler, von 1940 bis 1945. Später warf man ihm im jetzt demokratischen Deutschland sein Exil vor, dabei hatte sich Thomas Mann von Deutschland, das er kannte und schätzte, das Land des Geistes und der Freiheit, das Land Goethes und Schillers, von Brahms und Beethoven, nie losgesagt. „Es will etwas heißen, liebe Freunde,“ schrieb er 1942,dass ich Deutschland verließ, dass ich dort nicht länger leben konnte. Einen Menschen meiner Art, einen unpolitischen Menschen im Grunde, hätte aus Deutschland nichts, kein Regierungswechsel, keine politische Veränderung, keine Revolution vertreiben können- nichts in der Welt wäre dazu imstande gewesen als nur gerade dies Eine, nur das, was sich Nationalsozialismus nennt, einzig nur Hitler und seine Bande. Denn das ist keine Politik und kein Staat und keine Gesellschaftsform, das ist die Bosheit der Hölle, und der Krieg dagegen ist die heilige Notwehr der Menschheit gegen das schlechthin Teuflische.“
1952 kehrten Thomas und Katja Mann nach Europa zurück. Thomas Mann trat hier und da in Deutschland auf- zurückkehren in seine Heimat, das wollte er nicht. Er blieb in der Schweiz. Auch weil er enttäuscht war von den Deutschen. „Hättet ihr euch selber gerettet, ich wäre gekommen.“ Denn, auch das hatte er bekannt in seinen Rundfunkansprachen: Solange er lebe, werde er ein Deutscher sein.
Titelbild: Collage aus Slg. H.-P.Haack, Leipzig, Gemeinfrei, via Wikipedia und von H.-P.Haack – Eigenes Foto (own work), Antiquariat Dr. Haack Leipzig, CC BY-SA 3.0