1. Hintergrund
Der diesjährige NATO-Gipfel in Den Haag endet am 25. Juni 2025. So die Planung. Zentrales Ergebnis des Gipfels wird etwas Umstrittenes und doch Triviales sein. Die 32 Staatschefs werden sich zu Aufwendungen zu Verteidigungszwecken (im engeren Sinne) in Höhe von 3,5% des BIP verpflichten, zu erreichen in 2035. Wann man von dem Gipfel an Ausgaben für Verteidigung wieder zu einem Normalniveau zurück sein will, ist noch offen. Deutschland will das Ziel bis 2029 erreichen.
Umstritten ist dieser Beschluss, weil es um viel Geld zu gehen scheint. Das ist aber Schein. Wer glaubt, die NATO-Mitgliedstaaten würden sich erst mit diesem Beschluss zu ihrem Rausch in Verteidigungsausgaben verpflichten, ist nicht gut informiert. In welchem Umfang in Form zusätzlicher Truppenteile und zusätzlichen Waffensystemen bzw. Lagerhaltung in Munition nach- oder aufgerüstet werden soll, ist in einem längeren Prozess detailliert abgestimmt und schrittweise beschlossen worden, formal endgültig festgelegt von den NATO-Verteidigungsministern bei ihrem Treffen am 5. Juni 2025. Für die NATO in Europa werden gemäß Leaks im Herbst 2024 49 zusätzliche Kampftruppenbrigaden (à 5.000 Mann) erforderlich sein, ein Bedarf an neun weiteren Korpsstäben im Verhältnis zur bisherigen Planung wurde ermittelt. Die Zahl der Hubschrauberverbände soll um 14 wachsen. Die Zahl der bodengebundenen Flugabwehreinheiten soll von 293 auf 1467 steigen. Dazu zählen Waffensysteme wie Patriot, Iris T-SLM und Skyranger. Für die angriffsfähigen Mittelstreckenwaffen, die in besonders hohen Stückzahlen anzuschaffen sind, schweigen die Leaks vom Herbst 2024 bezeichnenderweise. Für Deutschland gilt traditionell, dass es 10% des als erforderlich bestimmten Aufrüstungsbedarfs der NATO in Europa übernimmt. Die Staatschefs besiegeln in Den Haag lediglich das Preisschild an diesem massiven Aufrüstungsprogramm.
Methodisch muss man, um diese Beschlusslage wirklich zu verstehen, Folgendes vor Augen haben:
- Die NATO kann nur einstimmig beschließen. Im Umkehrschluss bedeutet das: Jedes Mitglied hat ein Veto-Recht, kann nicht überstimmt werden. Einem Mitglied kann von „der“ NATO nichts auferlegt werden. NATO-Forderungen sind immer solche, denen die eigene Regierung zugestimmt hat.
- Die „Minimum Capability Requirements (MCR)“ für die NATO-Staaten mit Truppen in Europa insgesamt, also incl. den USA, incl. dem, was die USA kurzfristig über den Atlantik zu transportieren bereit sind, sind während der letzten beiden Jahre weitgehend unter Leitung der Kommandeure der strategischen Kommandos SHAPE und ACT (Allied Command Transformation), durch deren US dominierten Stäbe, formuliert worden. Basis ist ein Kapazitätsanteil der US-Streitkräfte von 40%. Die Auguren in Washington pfeifen es aber von den Dächern, dass das Pentagon an Plänen für den Abzug von Truppen in Europa arbeitet. Der NATO-Kapazitätsplanung, deren Preisschild in Den Haag mit viel Pomp beschlossen werden soll, wird somit in wenigen Monaten schon auch offiziell die Basis entzogen. Sie sind zudem mit dem Ziel, welches die Aufhebung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben > 1% BIP in Deutschland motivierte, völlig inkompatibel. Aus den „Ereignissen im Weißen Haus“, so Friedrich Merz bei der Einbringungsrede im Bundestag, sollten Konsequenzen gezogen, d.i. die militärische Selbständigkeit der Europäer herbeigeführt werden.
- Den Planungen liegt ein sehr spezielles Kriegsbild zugrunde, welches die USA vor gut zehn Jahren begannen, in die NATO einzuführen. Zu besichtigen ist es gerade in dem, was Israel im Iran erreicht hat: Völlige Luftüberlegenheit durch vorlaufende Ausschaltung der gegnerischen Luftabwehr mittels weitreichender Präzisionswaffen. Diese Überlegenheit zu erreichen, um den Stellungskrieg, den wir in der Ukraine erleben, zu vermeiden, ist deren Sinn. Zu illustrieren ist dies auch durch das Vorgehen in der Operation Desert Storm gegen den Irak im Jahr 1991. Dementsprechend soll es gelingen in einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland in Europa. So sollen gegebenenfalls die Flugzeuge der NATO über Moskau und St. Petersburg kreisen können.
2. Umgang mit diesem Beschluss beim SPD-Parteitag Ende Juni 2025
Der SPD-Bundesparteitag, der sich in einem Schwerpunkt mit den Gründen für das schlechte Abschneiden bei der Bundestagswahl 2025 befassen wird, findet gleich im Anschluss an den NATO-Gipfel, vom 27. bis 29. Juni 2025, in Berlin statt. Dabei wird möglicherweise auch bedacht werden, ob das „Abhacken der Wurzel als Friedenspartei“[4], so die Diagnose von Klaus von Dohnanyi, von positivem oder negativem Einfluss auf das Wahlergebnis im Februar 2025 war.
Auf dem Parteitag wird die Parteiführung voraussichtlich einen Antrag einbringen, mit dem die Delegierten um Zustimmung zu dem Ergebnis von Den Haag gebeten werden, dem Deutschland dann zugestimmt haben wird. In diesem Antrag wird sicherlich Bezug genommen werden auf die entscheidende Mandatierung im Koalitionsvertrag, der die SPD-Mitglieder mit deutlicher Mehrheit (85%) zugestimmt haben. Im Koalitionsvertrag lautet die einschlägige Passage:
„Die Höhe unserer Verteidigungsausgaben richtet sich nach den in der NATO gemeinsam vereinbarten Fähigkeitszielen.“ (Rz 4232/3)
Das bedeutet: Die Geldflüsse, die Haushaltsansätze, werden durch die in Zukunft zu erreichenden militärischen Fähigkeiten bestimmt. Und die stammen von der NATO, sind koordiniert bestimmt. Die Partei hat damit zu der Höhe der Aufrüstungsausgaben der Parteiführung einen Blankocheck ausgestellt.
Die „3,5%/BIP“ im NATO-Beschluss sind das Preisschild an den vorab „in der NATO gemeinsam vereinbarten Fähigkeitszielen“. Dass die VORAB weitgehend vereinbart waren, hatte die Bundesregierung allerdings versäumt, Bundestag und Öffentlichkeit mitzuteilen. Zu ihrer Entlastung ist darauf hinzuweisen, dass es sich um einen geheimen Vorgang handelt. Jedoch gilt: Die Inhalte sind in der Tat Verschlusssache, der Vorgang selbst aber nicht.
Angesichts dieser Konstellation wäre eine Ablehnung der Verpflichtung auf 3,5% durch den SPD-Parteitag ein Widerspruch gegen den im Koalitionsvertrag erteilten Blankocheck, den die klare Mehrheit der SPD-Mitglieder erteilt hat. Praktisch wäre eine Ablehnung zudem ein Widerspruch gegen die zentrale Haushaltsformulierung des aktuellen Regierungs-Bündnisses, gegen den Ressortchef, der zugleich Parteichef ist. Der SPD-Parteitag kann nicht anders als dem kommenden NATO-Beschluss mit dem 3,5%-Ziel zuzustimmen.
3. Gibt es für SPD-Mitglieder Optionen des Widerspruchs?
Bleibt nur, gegen eine langfristig festlegende Umsetzung des 3,5%-Beschlusses anzutreten, ohne zu sagen: „Heraus aus der Koalition mit CDU/CSU gemäß geltendem Koalitionsvertrag!“ Wer das will, muss nach differenzierten Optionen suchen. Anlässe sind die oben genannten, die faktische Überholtheit durch den Truppenabzug der USA aus Europa, die Inkompatibilität mit dem europäischen Selbständigkeitsziel und schließlich dem abzulehnenden Kriegsbild. Ich sehe, zumindest „technisch“, nur zwei Optionen.
- Die SPD ist an den Beschluss nur temporär, für die laufende Legislaturperiode, gebunden. Ein Einfallstor für eine Abweichung wäre, dass man die Fristigkeit über die laufende Legislatur hinaus zu verhindern suchte. Schließlich wächst das Ausgabenziel erst allmählich in Richtung 3,5% auf. Im Anschaffungsverhalten geht es dann um die Priorisierung von Kapazitäten, die invariant sind gegenüber absehbaren Strategieänderungen ab 2029. Sachliche Gründe für eine Flexibilität im Ausgabeverhalten würden sich ausdrücken in einer Forderung nach Überprüfung und Neufassung der Fähigkeitsziele bis 2029, also noch innerhalb der Ägide der aktuellen Koalition. Anlässe für eine Überprüfung könnten a) in der Inkonsistenz eines hohen US-Anteils im geltenden Ansatz, was dem Motiv für die Aufhebung der Schuldenbremse widerspricht; und b) im Kriegsbild liegen, welches mit seiner Verführung zu präemptiven Schlägen, welche Art. 51 UN-Charta widersprechen, stark instabil ist.
- Man kann argumentieren, dass es sich bei dem Beschluss zur Bindung an „in der NATO gemeinsam vereinbarte Fähigkeitsziele“ um einen Vorgang handelt, bei dem Täuschung Pate stand. Diese Fähigkeitsziele waren zum Zeitpunkt der Formulierung des Koalitionsvertrags bereits (weitgehend) ausgehandelt. Kommuniziert wurde das mit Berufung auf die erforderliche Geheimhaltung der Inhalte auch prozedural nicht. Die Parteimitglieder, die dieser Blankocheck-Formel im Koalitionsvertrag zugestimmt haben, haben dies vermutlich in der Meinung getan, bei den „in der NATO gemeinsam vereinbarten Fähigkeitszielen“ handele es sich um einen Vorgang in der Zukunft, sie haben sie als „in der NATO gemeinsam zu vereinbarende Fähigkeitsziele“ gelesen. Sie sind somit von einer zukünftigen Befassung und inhaltlichen Bestimmung unter Beteiligung der Mandatsträger der SPD ausgegangen. Dass die Vergangenheitsform „verabredet“ wörtlich zu nehmen war, lag jenseits ihres Vorstellungsvermögens. Die Konsequenz wäre aber dieselbe wie unter Option 1).
Blendet man auf und lässt den Nebel der Feindbildverbissenheit hinter sich, so stellt sich eigentlich die naheliegende Frage: Aus welchem Motiv treibt die US-Regierung, die eine Gefahr aus Russland nicht sieht, Europa in einen so abenteuerlich hohen Rüstungsprozess? Eine SPD-Führung, die strategisch denkt, wird auf diese Frage eine Antwort geben. Sie lautet, August Pradetto hat sie gegeben.
Die USA bereiten sich vor auf einen militärischen Clash mit China – welches außerhalb des NATO-Bündnisgebietes liegt. Die USA aber werden ihre NATO-Verbündeten in diese Auseinandersetzung, wenn sie denn kommt, an ihrer Seite haben wollen. Das ist ihr natürliches Interesse, und wenn die Aufforderung kommt, werden die europäischen NATO-Staaten dem nur entziehen können, wenn sie den Bruch mit den USA meinen riskieren zu können. Eine Absage der Europäer nämlich wäre das Ende der NATO-Mitgliedschaft der USA.
Vorausschauend wäre deshalb, militärpolitisch bei der Konzipierung der Umsetzung des 3,5%-Ausgabevolumens in Anschaffungsvorhaben auf Zweierlei zu setzen: Die militärische Autonomie Europas; und die strukturelle Unfähigkeit einer Beteiligung an einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China.