Drei Dinge haben das Debattenklima in Deutschland gründlich vergiftet: Das ist die Rederei über angebliche Eigenschaften „der Ossis“; das ist zweitens das langsame Einbetten der AfD in die bürgerliche Normalität und drittens ist es das Agenda- „Bashing“. Daher ist die Warnung George Santayanas akut: Wer seine eigene Geschichte nicht begreift, dem könnte passieren, dass er sie erneut erleben muss.
Ich lese im Blog der Republik, mit der Agenda 2010 habe die SPD „ihren beispiellosen Absturz“ eingeleitet: „Seither verlor sie Millionen von Wählern (ich bin einer davon) und Hunderttausende an Mitgliedern. Mit ihrem Einschwenken auf den neoliberalen Mainstream begann der Abbau des Sozialstaats.“ Das liegt hart an der Grenze zur Unwahrheit, in Teilen jenseits der Grenze.
Die SPD wies 1990 943 000 Mitglieder auf, 2003 – also zu Beginn der Agenda waren es noch 650 000. Macht ein Minus von rund 300 000. Bis 2018 sank die Mitgliederzahl auf 440 000 – macht ein Minus von 210 000. Unter den 210 000 waren gewiss auch Gegner und Gegnerinnen der Agenda. Aber einen Hunderttausendfachen Exodus wegen Schröders Agenda zu behaupten , das ist Unsinn; es wird von den Mitgliederzahlen nicht bestätigt – zumal in einer Partei nicht, deren Durchschnittsalter bei 64 Jahren liegt.
Die Wählerinnen und Wähler: Die Agenda wurde im März 2003 von Schröder im Bundestag verkündet, im September 2005 wurde gewählt – also 30 Monate später. Die SPD kündigte übrigens damals bereits Änderungen im Arbeitslosengeld I und den Mindestlohn an. Die SPD vereinigte auf sich 16,1 Millionen Erst- und 18,2 Millionen Zweitstimmen. Gemessen an den heutigen Ergebnissen geradezu phänomenale Zahlen. Der Umschwung trat erst 2009 ein, als das Ergebnis der Zweitstimmen praktisch halbiert wurde, FDP, Linke und die Grünen zweistellig abschnitten und auch die CDU kräftig Federn ließ. Wenn die Bundestagswahl 2005 ein Fanal gegen die Agenda gewesen wäre, hätte die damalige PDS hoch gewinnen müssen – hat sie aber nicht. Mehr als 8,7 v.H. der Zweitstimmen gab es nicht.
Fehlt noch der merkwürdige Satz vom „Einschwenken auf den neoliberalen Mainstream“. Beziehungsweise der Satz von „der Abkehr von der solidarischen, gesetzlichen Rente“. Es gab drei wesentliche Änderungen: Der Rentenanspruch wurde auf Beitragsjahre beschränkt – Studienjahre ohne Beitragszahlung fielen künftig weg. Es wurde wegen der längeren, durchschnittlichen Lebenserwartung der Rentenzugang auf 67 Jahre erhöht; und die Änderung der Relation zwischen Zahlern und Rentenempfängern in der Folge der demographischen Entwicklung wurde in die Gleichung eingearbeitet, die die jährliche Rentenanpassung regelt. Das war´s. Alles andere ist Spuk und falsch Verstandenes.
Vor allem spukte der Blüm-Satz von der Lebensstandard-sichernden Rente in den Köpfen herum – ist auch heute wieder von unverständigen Sozialdemokraten zu hören. Lebensstandard- sichernd war die Rente nur als sogenannte „Eckrente“, die der bekam, der 45 Jahre lang im Durchschnitt der versicherten Beschäftigten verdient und davon ununterbrochen Beiträge bezahlt hatte. Alles andere lag unterhalb der „Eckrente“.
Die vergiftete Debatte über Hartz und die Agenda ist tatsächlich eine Sicherheitsdebatte. Denn weder Renten-, noch Kranken-, weder Arbeitslosen- noch Pflegeversicherung sind Instrumente zur Überwindung des Kapitalismus. Sie sollen gegen existenzielle Risiken sichern. Aber dazu müssen sie funktionieren, richtig gut funktionieren.
Der „immerwährende Traum“ von der wirtschaftlichen Prosperität in Deutschland – so Burckhard Lutz in einem leider vergessenen Reader, der war 2003 doch längst zerplatzt. Der offenkundige Beleg – das waren zum Beispiel die Abertausende, die von Ost nach West vor Arbeitslosigkeit und Unsicherheit flohen. Ohne Hartz im Nacken. Im Westen war die Grundsicherheit ebenfalls längst weg. 2003 – also noch vor Verabschiedung der Hartz-Gesetze lebten 1,1 Millionen Kinder in Familien, überwiegend im Westen, die ihren Lebensunterhalt durch die Sozialhilfe bestritten. Ein riesiges Problem mitten in der Gesellschaft. Reine passive Leistungsempfänger. Ohne jede Perspektive. Ohne jeden Anspruch auf arbeitsmarktpolitische Förderung. Hartz hat das geändert.
Bevor die bittere Hartz- Zeit begann, erhielten zudem rund zwei Millionen Menschen Arbeitslosenhilfe, jährlich neu beantragt, de facto aber zeitlich nicht begrenzt, weil die Arbeitsämter mit diesen zwei Millionen bei Licht besehen nichts anzufangen wussten.
Als Norbert Blüm sein Dienstzimmer 1998 räumte, wurden rund 700 000 Menschen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) gehalten, Brücken ins Nirgendwo, wie es damals hieß. Tolle Aussichten. Zu dieser Zeit suchten fast sechs Millionen Menschen ihr wirtschaftliches Heil als Geringverdiener. 670 Mark im Monat. Steuer- und abgabenfrei. Manche hatten einen solchen Job als Zweitbeschäftigung, andere lebten ausschließlich davon. Tief ungerecht gegenüber denen, die mit brutto 1800 Mark auskommen und davon Renten-, Krankenversicherungs-, Arbeitslosen- und Pflegebeitrag sowie Steuer zahlen mussten. Die Betriebsräte liefen Sturm gegen diesen Zustand. Aber die Stimmen der Betriebsräte haben ja nie sonderlich interessiert.
Die Arbeitslosenhilfe war damals engagierten Sozialpolitikern suspekt. Denn diese steuerfinanzierte Leistung bescherte in manchen Fällen den Beziehern derselben eine höhere Rente als weniger gut Verdienenden, die mit ihrem Steueraufkommen auch die aus der Arbeitslosenhilfe resultierende Rente zu finanzierten hatten. Der Eingangssteuersatz lag damals bei 19,5 v.H. Ein unschöner „Sozialismus in einer Klasse“.
Wir hatten die große Bundesanstalt für Arbeit mit 94 000 Beschäftigten. Ein riesiger Laden, der den Gesetzgeber mit weithin getürkten Zahlen in die Irre führte. Das war wie ein GAU. Auch vergessen?
Schließlich: der Niedriglohnsektor, er angeblich nach und wegen der Agenda explodiert ist. Im Jahr 2000 wurden 19 Prozent der Beschäftigten als Niedriglöhner gezählt. 2005 waren es 21 , 2007 wurden 23 Prozent Niedriglöhner registriert und danach sank die Zahl wieder leicht. Das ist die Realität, zum Nachlesen empfehle ich die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung. Die Realität ist herausfordernd genug, es bedarf keiner verklemmten Ideologie.
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Wer eigene Fehler nicht einsehen mag, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.
Zum Thema Rente zählt Klaus Vater drei (in seiner Darstellungsweise geradezu marginal erscheinende) Änderungen auf und meint: „Das war´s. Alles andere ist Spuk und falsch Verstandenes.“ Damit erweist er sich als faktenresistent.
Wer sich als Leser des Blogs der Republik ein eigenes Bild der Dinge machen möchte, kann z.B. beim Seniorenaufstand vorbeischauen. Zitat von dort:
„Mit dem 2001 beschlossenen Altersvermögensgesetz sollten 1.das Rentenniveau in den Folgejahren systematisch gesenkt werden und 2.die entstehende „Rentenlücke“ über staatlich geförderte Privatvorsorge geschlossen werden (Riester-Renten) …
Das Nettorentenniveau (vor Steuern) wurde bereits „erfolgreich“ von 53% auf 48,5% (2014) gesenkt und wird bis 2030 voraussichtlich auf 43% runtergedrückt sein.
Das Schließen der „Rentenlücke“ ist weit weniger erfolgreich – es entwickelt sich vielmehr zu einem riesigen Desaster. Eine Bilanz nach 13 Jahren:
-Rund 15 Millionen Menschen haben Riester-Verträge abgeschlossen.
-Zur Zeit sind ca. 3 Millionen Verträge ruhend gestellt.
-Damit erhalten gerade 30% der förderberechtigten Arbeitnehmer Riesterzulagen.
…
Ergebnis dieser Bilanz:
Die entstehende Rentenlücke wird nicht geschlossen, sie wird noch verbreitert, weil Gelder der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung umgeleitet werden in ein teures Fiasko. Die Risiken sind überhaupt nicht absehbar.“
Quelle: http://www.seniorenaufstand.de/ (siehe dort die PDF-Datei zur Riesterrente)
Dass die SPD auf Ratgeber wie Klaus Vater hörte, ist der Grund, warum z.B. Österreicher sich über die niedrigen Renten ihrer nördlichen Nachbarn wundern.
Zitate aus Frank Lübberdings Kommentar in der heutigen FAZ zu einer Fernsehdiskussion über Hartz IV:
* „Das Problem in der Rentenversicherung ist die Absenkung des Rentenniveaus in den vergangenen Jahrzehnten.“
* „Nur war das eigentliche Desaster dieser Grundsicherung woanders zu finden: Hartz IV schickte Arbeitnehmer nach jahrzehntelanger Berufstätigkeit in ein System, das bis dahin früheren Sozialhilfefällen wie der Familie Heinrich vorbehalten blieb. Anschließend fanden sie bestenfalls einen Job als Arbeitnehmer zweiter Klasse, wie Frau Orzol. Das ruinierte die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokraten in Teilen der Arbeitnehmerschaft, …“
* „Vielmehr ging es um die Konsequenzen, wenn sie als Arbeitnehmerin anders behandelt worden ist, als ihre Kollegen aus der Stammbelegschaft. Anschließend gab es eine angeregte Debatte zwischen Metzger und Stegner. Ersterer sprach von den zunehmenden Bedeutung der Leiharbeit bei hoch qualifizierten Arbeitnehmern. Das änderte allerdings nichts an der Kritik der durch die Arbeitnehmerüberlassung geschaffenen Zweiklassengesellschaft für gering qualifizierte Arbeitnehmer. Stegner wies dagegen auf die Bedeutung eines angemessenen Mindestlohns hin, der die in manchen Firmen übliche Suche nach Umgehungstatbeständen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verhindern könne.“
Andere Ratgeber sehen den Schaden, den die SPD mit ihrer Sozialgesetzgebung schließlich auch für sich selbst angerichtet hat.