Einer der wohlfeilsten Kritikpunkte am neuen Vorsitzenden der SPD, Norbert Walter-Borjans, ist, dass er als Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen dreimal vor dem Landesverfassungsgericht in Münster gescheitert sei. Diese Kritik kam vom Arbeitgeberpräsident und sie wurde in nahezu allen Medien transportiert, vom liberalen Tagesspiegel über Springers Berliner Morgenpost bis zum Bonner Generalanzeiger.
Dass Walter-Borjans sowohl vor dem Bundesverfassungsgericht also auch vordem Europäischen Gerichtshof mit seinem Ankauf von „Steuersünder-CDs“ gewonnen hat, bleibt dabei übrigens meist unerwähnt.
Walter-Borjans war sieben Jahre Finanzminister in NRW und hat drei Mal vor einem Landesverfassungsgericht ein negatives Urteil einstecken müssen. Das trifft zu und man kann das kritisieren, aber in der vierzehnjährigen Amtszeit von Angela Merkel sind nach einer offiziellen Auflistung des deutschen Bundestags vorsichtig gerechnet weit über vier Dutzend Bundesgesetze für nichtig oder in Teilen für verfassungswidrig erklärt worden, ohne dass dies der Bundeskanzlerin oder den jeweiligen Bundesregierungen ständig kritisch oder gar als Makel vorgehalten würde.
Keiner der Kritiker am Scheitern Walter-Borjans vor Gericht hat sich die Mühe gemacht und sich mit den Urteilen in der Sache beschäftigt, soweit reicht das Gedächtnis von Politikern, Verbandsfunktionären und den kritisierenden Journalisten leider nicht. Dabei lohnte es sich die Gerichtsurteile einmal genauer anzuschauen, um zu beurteilen, was in der Sache im Streit stand:
In einem Urteil vom 15. März 2011 stellte z.B. der Verfassungsgerichtshof in Münster fest, dass das Nachtragshaushaltsgesetz 2010 wegen Überschreitung der Kreditgrenze gegen Art. 83 Satz 2 der Landesverfassung NRW (LV) verstößt, denn von der in diesem Artikel normierten Regelverschuldungsgrenze dürfe grundsätzlich nur zur „Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ abgewichen werden.
Der entscheidungsrelevante Satz lautete: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen entsprechend den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in der Regel nur bis zur Höhe der Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen in den Haushaltsplan eingestellt werden“.
Es seien keine Gesichtspunkte der konjunkturellen Entwicklung aufgezeigt worden, die eine weitere Erhöhung der Kreditaufnahme „trotz deutlich verbesserter Wirtschaftslage“ zur Störungsabwehr plausibel machten.
Die Landesregierung hatte hingegen bei Einbringung des Nachtragshaushalts 2010 geltend gemacht, dass das Bruttoinlandsprodukt in NRW 2009 im Jahr der Finanzkrise um dramatische 5,9 % abgesackt und im ersten Halbjahr 2010 gerade mal wieder um 2,9% gewachsen ist. Insgesamt bestehe noch ein Minus von 3%.
Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat als Volkswirt vor Gericht gutachterlich bestätigt, dass sich die Störung bestenfalls abgeschwächt habe, dass sie aber noch keineswegs überwunden sei.
Der Wirtschaftswissenschaftler Horn stand mit dieser Einschätzung durchaus nicht allein. Selbst der mehrheitlich von marktliberalen Ökonomen beherrschte Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kam in seinem Gutachten vom November 2010 zu dem Urteil, dass von einem „neuen Wirtschaftswunder“ (S. 8 Ziff. 12) keine Rede sein könne und dass man nicht verkennen dürfe, dass sich das BIP zur Jahresmitte 2010 noch auf einem Niveau befände, das zuletzt zum Jahreswechsel 2006/2007 erreicht worden sei. In seinem Minderheitenvotum warnt Peter Bofinger sogar davor, dass eine Politik der strikten Haushaltskonsolidierung in eine deflationäre Entwicklung einmünden könne.
Entgegen der hinsichtlich der Wirtschaftsdaten unbestreitbaren Meinung einer Mehrheit der deutschen Ökonomen unterschiedlichster Schulen sahen die Münsteraner Juristen keine gesamtwirtschaftliche Störungslage, ja sie unterstellen sogar eine „deutlich verbesserte Wirtschaftslage“.
Das Gericht lieferte allerdings nicht ein einziges Argument, worin es diese deutliche Verbesserung der Wirtschafslage sah. Sie nahmen jedermann zugänglichen Daten, die die damalige Wirtschaftslage in einem durchaus zwiespältigen Licht erscheinen ließen, einfach nicht zur Kenntnis.
Schon die 2010 abgewählte CDU/FDP-Regierung hatte bei ihrem (dem Nachtragshaushalt zugrundeliegenden) Stammhaushalt für das Jahr 2010 die Regelschuldengrenze überschritten und dies gleichfalls mit einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts begründet. Nicht nur NRW sondern auch andere Bundesländer haben mit Verweis auf eine Störungslage die jeweilige Schuldengrenze überschritten. Auch der Bund hat im Jahre 2010 das Maastrichtkriterium nicht erfüllt, weil die Rettungsaktionen für die Banken und für die Konjunkturprogramme eine zusätzliche Nettoneuverschuldung nötig machten.
Alle diese finanzpolitischen und ökonomischen Tatsachen waren für die Juristen kein Anlass zum Zweifel oder zu einer weiteren Erörterung. Diese Ignoranz machte deutlich, dass die Richter in Münster letztlich die politisch motivierte Schönfärberei der Bundesregierung und das Nachplappern vieler Medien über die angeblich „verbesserte Wirtschaftslage“ zur Grundlage für ihre „juristische“ Entscheidung gemacht haben.
„Iudex non calculat“ oder „Richter können nicht rechnen“, so wird scherzhaft ein Rechtsgrundsatz aus dem römischen Recht übersetzt. Dieser Satz galt offenbar auch noch nach 2000 Jahren für die Richter am NRW-Verfassungsgericht.
Die damalige rot-grüne Landesregierung hatte immer wieder dargelegt, dass sie eine vorsorgende, „präventive“ Finanzpolitik betreiben wolle, das hieß, sie setzte auf eine langfristige Haushaltskonsolidierung und nicht auf eine eindimensionale Sparpolitik nach Art der „schwäbischen Hausfrau“. Eine solche auf einen aktiv handelnden Staat setzende langfristig angelegte Finanzpolitik war den Juristen in Münster offenbar ein Buch mit sieben Siegeln. Sie betrachten den Staat nicht als gesamtwirtschaftlich agierenden Akteur, sondern wie ein einzelnes Unternehmen, das durch Kostensenkung seine Wirtschaftlichkeit wieder erlangen kann. Sie haben nicht im Ansatz erkannt, dass Sparen für den Staat keineswegs gleichbedeutend ist, mit einem Sparerfolg. Die Wirkungszusammenhänge in einer Volkswirtschaft verlaufen eben anders als bei einem einzelnen Unternehmen. Der Staat kann mehr (oder sollte überhaupt erst) sparen, wenn ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht gegeben ist, dann kann er gleichzeitig auch seine Einnahmen erhöhen. Solange jedoch eine Störung dieses Gleichgewichts vorliegt, die konjunkturelle Lage also keineswegs stabil oder befriedigend ist, die Beschäftigungssituation unbefriedigend oder bedrohlich ist, wie das auch gegenwärtig wieder mit der Ankündigung des „Abbaus“ von rund einhunderttausend Arbeitnehmern bei den Autobauern und ihren Zulieferern wieder droht, sollte die öffentliche Hand alles tun um diese „Störung“ zu vermeiden. Sonst spart der Staat sich selbst und die Wirtschaft zusätzlich kaputt, mit immer weniger Steuereinnahmen und immer höheren sozialen Kosten.
Solche gesamtwirtschaftlichen Kalkulationen waren jedoch offenbar den Verfassungsrichtern fremd.
Mit einer ganz ähnlichen Begründung kippte das Landesverfassungsgericht auch den nachfolgenden NRW-Haushalt 2011, was allein schon deshalb absurd anmutete, weil das Land am Ende weniger Schulden gemacht hat als die Landesverfassung zuließ.
Bei der dritten Niederlage der Landesregierung vor dem Landesverfassungsgericht entschieden die Münsteraner Richter quasi in eigener Sache. Sie verwarfen die von der Landesregierung vorgesehene Null-Runde für höhere Besoldungsgruppen bei den Beamten. Tarifverbesserungen waren lediglich für untere Besoldungsgruppen vorgesehen. Diesmal hatte der damalige Finanzminister Walter-Borjans umgekehrt die gestaffelte Besoldungsanpassung mit der angespannten Haushaltslage und der „Schuldenbremse“ begründet. Als es um die eigenen Bezüge geht, war die Verschuldungsgrenze für die Richterinn/en jedoch kein durchschlagendes Argument mehr. Im Gegenteil meinte das Gericht, dass die „Bezüge der Beamten und Richter an eine positive Entwicklung der wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse anzupassen“ seien. Wie man die Position des damaligen Finanzministers oder die Begründungen der Urteile des Landesverfassungsgerichts auch immer bewerten mag und bei allem Respekt vor Gerichtsurteilen, angesichts der großen Zahl von Urteilen von Verfassungsgerichten gegen Gesetze von Bundes- und Landesregierungen aus negativen Entscheidungen ein abschätziges Urteil gegenüber den jeweils verantwortlichen Politikern abzuleiten, wie das gegenüber Norbert Walter-Borjans durchgängig geschehen ist, heißt Messen mit zweierlei Maß. Politiker von CDU und CSU sollten angesichts der krachenden Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof mit der PKW-Maut äußerst zurückhaltend mit ihrer derartigen Kritik am neuen SPD-Vorsitzenden sein. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
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