Hätte sie geschwiegen, wäre sie Philosophin geblieben. Aber das hat Annegret Kramp-Karrenbauer ja schon mehrmals in den Wochen und Monaten nach ihrer Wahl zur CDU-Vorsitzenden nicht bedacht. Soll sich ihre Partei jetzt ärgern, dass sie den internen und öffentlichen Debatten der SPD um deren Zukunft als Volkspartei Aufmerksamkeit entzieht und den Blick auf eigene Schwächen lenkt? Ja, aber wer weiß, wozu es gut ist. Das Thema Meinungsfreiheit, dass sie mit ihrer Forderung nach Regeln im Netz ungeschickt und ohne Not auf die Tagesordnung gehoben hat, sollte ohnehin einmal gründlicher diskutiert werden, siebzig Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes und fünfundzwanzig Jahre nach dem Startschuss von Spiegel online und der dann folgenden immer stärkeren Abwanderung der Vermittler von Information aus der analogen in die digitale Welt.
Das Grundgesetz ist an dieser Stelle erfreulich eindeutig, nämlich in Artikel 5 Absatz 1, der die Meinungs-, die Informations-, die Presse- und die Berichterstattungsfreiheit garantiert. Aber der Pferdefuß steckt in Absatz 2: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Jugendschutz und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Ohne jetzt die Notwendigkeit des Schutzes der Jugend und der persönlicher Ehre in Frage stellen zu wollen, im Gegenteil, sind es die „Vorschriften der allgemeinen Gesetze“, die als Einfallstor für staatliche Regulierung dienen können und über die AKK anscheinend sprechen wollte, bevor sie gemerkt hat, auf welch vermintes Gelände sie da geraten würde. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten die NS-Zeit im Hinterkopf, als sie Artikel 5 formulierten, deshalb ist auch dessen Absatz 2 historisch verständlich. Aber vielleicht waren es auch zu sehr die Angst und Sorge in einer gerade zutiefst verunsicherten Gesellschaft und weniger die Hoffnung und Zuversicht auf eine zukünftige freiheitliche Demokratie, die hier Pate gestanden haben.
Die Väter der Verfassung in den Vereinigten Staaten von Amerika hatten da einen anderen, optimistischeren Ansatz: In den Bill of Rights, den ersten zehn Zusatzartikeln zur Verfassung, heißt es nämlich im „First Amendment“: „Der Kongress soll kein Gesetz erlassen…, das die Meinungs- oder Pressefreiheit einschränkt…“ Es folgt kein zweiter Absatz, der diese Freiheiten per Gesetz einschränken könnte, weshalb in den USA jeder veröffentlichen kann, was er oder sie will und deshalb insbesondere die Medien eine ganz andere Rolle spielen als bei uns. So sehr man dies in den letzten Jahren und vor allem seit dem Auftauchen Donald Trumps in der Politik bedauern mag, so wenig gibt es den Amerikanern Anlass, den ersten Zusatzartikel der Verfassung zu hinterfragen, geht es doch auch um ihre individuelle Freiheit, unabhängig von Herkunft, Weltanschauung oder politischer Einstellung.
Der Staat schützt also in den USA jeden Einzelnen vor Einschränkungen seiner Meinungsfreiheit und damit vor staatlicher Kontrolle. In Deutschland ist es anders, hier schützt der Staat jeden Einzelnen vor sich selbst. Dahinter steckt ein anderes Verständnis von individueller Freiheit und von der Rolle des Staates. Ohne dies hier vertiefen zu wollen oder Beispiele zu suchen, so kann dieses unterschiedliche Verständnis doch viel zur Einordnung mancher Debatten hüben wie drüben beitragen. Bezogen auf die Meinungsfreiheit und die Regeln im Netz und in den sozialen Medien, die AKK angesprochen hat, lohnt sich aber ein Nachdenken darüber, ob unsere Demokratie nach siebzig Jahren nicht gefestigt genug ist, auf ihre Überbehütung in diesem Feld verzichten zu können. Dies soll keine Forderung nach Streichung von Absatz 2 Artikel 5 des Grundgesetzes sein, aber eine restriktivere Auslegung stünde uns besser an als eine weitere Regulierungsrunde.
Ich werde den Verdacht nicht los, dass eine zu sehr behütete Demokratie weniger wehrhaft ist. Ebenso wie eine Überbehütung in der Wirtschaft durch Subventionen in oftmals veraltete Strukturen, etwa bei Kohle und Stahl, oder in den Medien durch künstliche Schutzzäune, etwa beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Notwendigkeit von Anpassungen behindert und notwendige Reformen verzögert hat, so ist der vermeintliche Schutz der Meinungsfreiheit durch staatliche Reglementierung auf längere Sicht gerade angesichts der Vielfalt und Unübersichtlichkeit der sozialen Medien möglicherweise eher kontraproduktiv. Was nicht heißen soll, dass die Demokratie nicht wehrhaft sein und passiv alles ertragen muss. Auch im Netz darf es keine „No-go-Areas“ geben, auch hier gelten die allgemeinen Gesetze, und sie müssen durchgesetzt werden. Aber zu fordern, die Regulierung aus der analogen Welt auf die digitale zu übertragen, zeigt eine erschreckende Unkenntnis der Netzwelt und führt nur dazu, sich weiter im Dickicht der Gesetze und Vorschriften zu verheddern.
Wenn Mark Zuckerberg nach Regulierung ruft, die er global einfordert und deshalb nicht ernsthaft für realistisch halten kann, dann zeigt dies nur, dass vieles falsch gelaufen ist. Die Frage ist nur, mit welchen Mitteln man die Geister, die man rief, wieder los wird, mit mehr Freiheit oder mit mehr Einschränkung. Vielleicht liegt die Antwort gar nicht so weit weg: Mehr Freiheit und Offenheit, mehr Gelassenheit und Toleranz in der Grundausrichtung, aber mehr Durchsetzungskraft, mehr Entschlossenheit und mehr Konsequenz bei der Verfolgung von Auswüchsen, die zum Beispiel gegen die Menschenwürde oder die persönliche Ehre verstoßen. In diesem Zusammenhang hätte ich auch nichts gegen eine Klarnamenpflicht, die Cybermobbing und Hate Speech drastisch reduzieren würde. Wenn das eine der Regeln ist, über die AKK sprechen wollte, dann wäre ich sogar bei ihr.
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