Reisen können beschaulich und erholsam, eilig und strapaziös sein, sie füllen uns an mit Eindrücken, bereichern mit Einsichten, lassen uns lernen und verstehen, irritieren und verwirren auch. Das Andere konfrontiert uns mit uns selbst, fordert uns heraus zur Reflexion. Reisen bewegt uns, und wenn Uwe-Karsten Heye seine Autobiographie als Reise bezeichnet, so ist das ein treffendes Bild.
„Und nicht vergessen“ ist eine Reise in die Nachkriegsgeschichte. Entlang des eigenen Lebenslaufs führt Heye zu Stationen, Wendemarken, Schauplätzen und Personen. Nicht chronologisch, sondern assoziativ, thematischen Entwicklungslinien folgend, die Zusammenhänge aufzeigen und Erklärungsansätze liefern. Als Journalist war der Autor, Jahrgang 1940, Beobachter des politischen Geschehens, als Redenschreiber für Willy Brandt und Regierungssprecher von Gerhard Schröder selbst Akteur.
Beide Professionen kommen in dem Buch zum Tragen und ergänzen sich, wie sie es in den wechselnden beruflichen Stationen getan haben. Neben der klugen Analyse die entschiedene Haltung, neben der distanzierten Einordnung der hartnäckige Drang zum Handeln. Einiges streift Heye nur, anderes führt er weiter aus, manches wiederholt er, und immer wieder kehrt er zu seiner Leitfrage zurück: Was wurde versäumt, dass wir es heute wieder mit einem wachsenden Rechtsextremismus zu tun haben?
Der rote Faden seiner politischen Sozialisation, seines beruflichen und zivilgesellschaftlichen Engagements leitet Uwe-Karsten Heye durch seine Lebenserinnerungen. Traumatische Kindheitserfahrungen von Vertreibung und Flucht, die Improvisationen im Alltag, die Umwege des Lernens und Werdens: die persönliche Dimension der Autobiographie bleibt zurückgenommen, wie es wohl zu erwarten ist bei einem Menschen, der sich selbst nicht so wichtig nimmt.
Die Geschichte mit ihrem Grauen und ihren Ermutigungen steht im Vordergrund. Die unfassbaren Kontinuitäten zwischen der nationalsozialistischen Diktatur und der jungen Bundesrepublik, die empörenden Unterlassungen bei der Aufarbeitung des Unrechts, die furchtbaren Vertuschungen und Verhinderungen sind Heyes Kernthema, angefangen bei Konrad Adenauers Personalentscheidungen und hochaktuell beim Umgang mit den rechtsextremen Erschütterungen.
Die anhaltende Blindheit auf dem rechten Auge und die unzulängliche juristische Durchdringung des NSU-Komplexes sind Beispiele für ein Fortdauern der Versäumnisse. Lichtblicke stehen dem aus den vergleichsweise kurzen sozialdemokratischen Regierungsperioden gegenüber. Willy Brandts Ostpolitik, sein Kniefall am Mahnmal für das Warschauer Ghetto, auch Gerhard Schröders Kanzlerschaft mit dem Nein zum Irakkrieg sind aus der Nahsicht von Heye grundsätzliche gesellschaftspolitische Weichenstellungen, die dem Gerede von einer Ununterscheidbarkeit der Volksparteien entgegenstehen.
Uwe-Karsten Heye, auch regelmäßiger Autor für den „Blog der Republik“, hat einen Standpunkt, er vermittelt ihn offensiv und er tritt persönlich dafür ein. Mit dem Verein „Gesicht zeigen!“ hat er sich einer Aufgabe gestellt, die er im Ruhestand umso intensiver fortsetzt. Die Schilderung von Begegnungen mit Emigranten in New York etwa atmen eindrucksvoll die große Bedeutung, die das „Nie wieder“ im Leben des Autors hat.
Am Ende der Reise, die ein Plädoyer für Menschlichkeit, Recht und Gerechtigkeit ist, steht nicht allein die Mahnung vor den nationalistischen, rechtsextremen und menschenfeindlichen Kräften im Land, sondern auch die Botschaft, dass im Kampf gegen ihr zerstörerisches Treiben Mittun gefragt ist. Aus den Erinnerungen von Uwe-Karsten Heye lässt sich beeindruckend Potenzial zur Aktivierung schöpfen. Das macht die Reise mit ihm zu einem Gewinn.
Uwe-Karsten Heye: Und nicht vergessen. Autobiographie. Aufbau Verlag Berlin. 2018, 22 €.
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