Mit ihrer brutal-verbalen Hinrichtung Selenskyjs vor den Augen der medialen Weltöffentlichkeit jagte das Duo Vance/Trump anhaltende Schockwellen durch die Newsrooms und Wohnzimmer. Ein weites Interpretationsspektrum wird dem ebenso erschütterten wie neugierigen Publikum präsentiert (N-TV profitierte mit einer Überlänge an Werbung vor dem Video): Trump verhilft Putin zum Sieg! Trump gibt seine Trümpfe schon vor Verhandlungsbeginn auf! Trump/Vance verraten Ukraine und Völkerrecht, sie kündigen das transatlantische Bündnis auf, verweigern Europa den nuklearen Schutzschirm und wollen sich in neokolonialer Manier an den Rostoffen der Ukraine bereichern, schmieden ein Komplott der Autokraten! Einhellige Konsequenz in Europa, wir müssen jetzt der Ukraine beistehen und vor allem müssen wir eine eigenständige europäische Aufrüstung an Stelle des Autokraten-Duetts und vor allem gegen Putin organisieren.
Regiert also nun der helle Wahnsinn im Capitol?
Es sollen hier, einige dieser Annahmen kritisch hinterfragt und auf der Basis der strategischen Debatten im Trump-Lager deren globale Perspektive – eben die „Große Wiese“ – rekonstruiert werden.
Völlig irrelevant ist meines Erachtens die Frage, ob das Gespräch aus dem Ruder gelaufen ist oder exakt so geplant war. Ebenso unwichtig ist die Frage, ob ein unterwürfiger, dankbarer, freundlich auftretender Selenskyj andere Gesprächsergebnisse erzielt hätte.
Warum? Hätte Selenskyj nicht widersprochen, wäre vor der Weltöffentlichkeit sein Einverständnis für eine „Verhandlungslösung“ mit Russland, was das Scheitern der „Kriegslösung“ impliziert, demonstriert worden. Der ebenso ehrenwerte wie letztlich hilflose Versuch Selenskyjs, vor der versammelten Weltöffentlichkeit die ukrainische Position für die Fortsetzung des Krieges bis zu einem „gerechten und garantierten Frieden“ zu vertreten, führte allerdings zum selben Ergebnis. Nur mit dem Unterschied, dass einer erschrockenen, darauf offensichtlich wenig vorbereiteten westlichen Welt öffentlich und in aller Klarheit vorgeführt wurde, wie und was seit Monaten hinter den Kulissen diskutiert worden ist:
Trump und Vance forderten von Selenskyj das Eingeständnis, das seine Kriegsziele nicht erreichbar sind, dass er ohne die weitreichende Unterstützung der USA den Krieg schon nach „zwei Wochen“ verloren hätte und dass es keine Alternative zu einer „Verhandlungslösung“ für ihn und die Ukraine gebe und ein Verzicht auf Nato-Beitritt und auf ukrainisches Territorium die Basis einer Verhandlungslösung ist.[1]
Das – so deuten es viele Insider an – war nach der gescheiterten ukrainischen Offensive 2023/24 auch offen oder hinter vorgehaltener Hand die Position vieler europäischer Militärs und Politiker, die indes mit der nach außen vertretenen Selbstbindung, dass „nicht über die Köpfe der Ukraine hinweg“ entschieden werde dürfe, nicht öffentlich für eine Verhandlungslösung eintreten durften. Und aus nachvollziehbaren Gründen war die ukrainische Führung zu einer solchen Kehrtwende in ihrer Kriegsführung weder bereit noch fähig. Diese Wende, von Trump nunmehr in Washington eingefordert und angekündigt, war deshalb nicht im öffentlichen Konsens mit Europa und der Ukraine durchzusetzen.
Die harte Konsequenz der Strategen der Trump-Administration: Eine Verhandlungslösung ist nur über die Köpfe der Ukraine und auch Europas hinweg durchzusetzen. Dass diese Position sich mit Putins Wunsch nach Anerkennung und dem Anspruch als einer „Weltmacht“ traf, die Obama als „Regionalmacht“ verspottet hatte, war für Trumps Verhandlungsstrategie nur ein kleines Zugeständnis bei seinem geplanten „Deal“.
„Große Wiese“ – „Kleine Wiese“
Ausgangspunkt meiner Interpretation der aktuellen Kontroversen zwischen der Trump-Strategie und der Europäischen Initiativen ist die Unterscheidung zweier „Spiele“, die eng miteinander vernetzt sind, gleichwohl analytisch zu unterscheiden sind: das Spiel auf der „Großen Wiese“, die globale Auseinandersetzung um die „Hegemonie“ einerseits und das Spiel auf der „Kleinen Wiese“, nämlich der Auseinandersetzung um das Ende des Ukraine-Krieges als einem nunmehr europäischem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine (und ihren europäischen Verbündeten) auf der anderen Seite.
Dem Spiel auf der „Großen Wiese“, und das besitzt die absolute Priorität für die Trump-Administration, liegen globale Strategien und Interessen zugrunde, dem Spiel auf der „Kleinen Wiese“ europäische wie ukrainische Interessen, die sich nur partiell überschneiden.
Welchen Prioritäten folgt die Trump-Administration beim Spiel auf der „Großen Wiese“?
Wer die wesentlichen Gründe der neuen US-Trump Strategie für den Ukraine-Krieg entschlüsseln will, muss sich von oberflächlichen Betrachtungsweisen wie einem Zusammenspiel und Bündnis zweier Autokraten verabschieden und sich den strategischen Überlegungen zuwenden, wie sie innerhalb der republikanischen Think-Tanks offen diskutiert werden.
Die Trump-Administration sieht in der Auseinandersetzung um die globale Hegemonie einzig und allein China als wesentlichen Kontrahenten[2], Putin Russland hingegen als durch den Ukraine-Krieg zusätzlich geschwächte (Mittel-)Macht, gefährlich nur als Nuklearmacht und als Kooperationspartner Chinas sowie militärischer Störfaktor in wenigen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens. Und sie sehen die Chance, ein ökonomisch wie militärisch geschwächtes Russland durch eine Beendigung des Ukraine-Krieges qua Verhandlungen partiell aus dem ohnehin prekären Bündnis mit China zu lösen und als gemeinsamen Partner für ein fossiles Bündnis mit den arabischen Erdölstaaten gegen eine ökologische Transformationspolitik zu gewinnen.[3] Aus globaler Perspektive erscheint die Aufgabe einer Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine und die territoriale russische Landnahme von 20% des ukrainischen Staatsgebietes erstens als irrelevant und zweitens als relevante finanzielle Entlastung eines hochverschuldeten US-Staatsbudgets, dessen staatliche Ressourcen in der Folge auf den Konflikt mit China konzentriert werden sollen. Zu diesen Aspekten im Einzelnen:
- Wichtigster Eckpfeiler der US-Strategie seit Obama ist die Umorientierung vom Atlantik zum Pazifik und dabei auf die Herausforderung durch die aufstrebende ökonomische, technologische und militärische Weltmacht China in spe, die die amerikanische Hegemonie potenziell in Frage stellen könnte. In der Fokussierung auf diese Konfrontation wird der Krieg in der Ukraine sowie die enger gewordene russisch-chinesische Kooperation als Störfaktor wahrgenommen. Insofern geht die Rückkehr zu einer fast ausschließlich macht- und interessenpolitisch geleiteten geopolitischen Realpolitik zugleich mit einer Abkehr von einer völker- und menschenrechtlich orientierten Außenpolitik einher. Deshalb werden von der Trump-Administration u.a. nun die gleichen politisch weit rechtsstehenden Strömungen, Parteien und Regierungen unterstützt, die zuvor bereits russische Unterstützung erhielten.
- In der globalen US-Perspektive wird Russland als weltpolitisch relativ schwache kleine Großmacht verortet[4]: mit einer extraktiven Wirtschaft und technologisch relativ unbedeutend, militärisch nur als Nuklearmacht relevant (Trump: „You risk the third world war“). Russland – so die republikanische Lageeinschätzung – hat die erste Phase des Ukraine-Krieges krachend verloren: Keine Besetzung Kiews durch die Luftlandetruppen, mit einem chaotischen Rückzug den Panzeraufmarsch auf Kiew verloren, die Besetzung von Charkiw nicht gehalten, nicht nach Odessa vorgestoßen, im Süden an den Dnepr zurückgedrängt.
Die anschließenden Geländegewinne sind in der globalen Perspektive nicht wirklich bedeutsam: Kurz gesagt, man hat – bildlich gesprochen „Wallonien“ bzw. das „Ruhrgebiet“, also das alte Industrierevier im Donbass gewonnen, aber Silicon Valley verloren (z.B. mit der Abwanderung großer Teile der IT-Intelligenz aus Russland). Im technologischen Drohnenkrieg holte Russland mühsam und mit iranischer Unterstützung auf und hat mit der Ukraine bestenfalls gleichgezogen.
Die Besetzung der Krim 2014 diente Russland zur Sicherung seines Marinestützpunktes Sewastopol. Im Krieg erwies sich die russische Schwarzmeerflotte als unbedeutend. Sie wurde von britischen Unterwasserdrohnen/Raketen erfolgreich in Schach gehalten. Der ukrainische Getreideexport – wenn auch stockend – ging weiter. Die Krim-Brücke blieb nur erhalten, weil Musk sich frühzeitig weigerte, sein Satellitennetzwerk „Starlink“ für Angriffe auf die Krim zur Verfügung zu stellen. Die Russen konnten die Schwarzmeerflotte im Hafen von Sewastopol mühsam vor der völligen Zerstörung retten. Viele Gründe also für die USA, die mit ihrer Aufklärungsarbeit der Ukraine geholfen haben, die erste Angriffswelle erfolgreich abzuwehren, keine besonderen Ängste vor der Militärmacht Russland zu haben – außer eben dem nuklearen Risiko.
Zudem konnten die USA mit Genugtuung feststellen, dass sich Russland mit dem Ukraine-Krieg völlig übernommen hat. Am deutlichsten wurde dies außenpolitisch etwa in Syrien und im Nahen Osten: Innerhalb weniger Tage verloren die Russen jeglichen Einfluss in Syrien und versuchen nun verzweifelt, gerade noch ihren kleinen Marinehafen in Syrien zu retten. Im Nahen Osten erlitt auch der mit Russland verbündete Iran Niederlagen. Israel und die Türkei haben hingegen an Einfluss gewonnen. Die internen Konflikte der russischen Armee mit ihrer selbstgezüchteten Privatarmee „Wagner“ haben auch ihre Rolle in Afrika teilweise entwertet. - Für die USA sind die jetzt besetzten Gebiete einschließlich der Krim strategisch und ökonomisch nicht von Bedeutung. In den restlichen 80% der flächenmäßig großen Ukraine sind die USA mit ihren globalen Konzernen bereits sehr präsent (viele Zulieferbetriebe, viele zum militärisch-industriellen Komplex gehörende Unternehmen, viel Agrarwirtschaft). Die Arbeitsmarktreformen, auf die die USA unter der Biden-Administration im Rahmen der Wiederaufbaukonferenzen massiv gedrängt haben, prägen schon heute die Westukraine als neoliberale, nahezu gewerkschaftsfreie Zone.
Geopolitisch im hegemonialen Machtkampf mit China sind andere Räume von globaler Bedeutung, wie z.B. die Arktis, die im Kontext künftiger Konflikte mit China eine Rolle spielt. Hier sind die Russen schon lange sehr aktiv, denn das schmelzende Eis eröffnet strategisch und ökonomisch wichtige neue Handelswege, während viele alte entwertet werden. (Nicht nur Handelswege sondern auch Rohstoffe.) Daraus resultiert das von Trump artikulierte Interesse der USA an Grönland. Auch Deals mit Russland, die China von der Arktis und ihren Handelswegen wie Rohstoffen fernhalten, sind denkbar. - Die erfolgreiche Erprobung aller neuen militärischen Technologien in Echtzeit und unter realen Bedingungen, die auch für eine Auseinandersetzung mit China relevant sind, ist für das US-Militär und damit letztlich auch für die NATO erfüllt, eine Fortsetzung bringt keine großen Zusatzgewinne mehr, sondern nur noch enorme finanzielle Belastungen. Wobei die größten Kosten nicht allein durch die Waffenlieferungen entstehen, sondern durch die Finanzierung des nahezu ausgebrannten Staatshaushaltes der Ukraine. Die Ergebnisse der Unterstützung sind für Europa[5] und die USA in vielerlei Hinsicht frustrierend: Wie Elon Musk zu Recht spottet, haben die superteuren bemannten Kampfflugzeuge (F15, F35/36) ebenso wenig eine Game-Changer-Rolle gespielt wie die modernsten Panzer der Deutschen, Briten und Amerikaner – sie mussten eher vor den billigen und effektiven Drohnen versteckt werden – als dass sie im Kriegsgeschehen eine bedeutende Rolle gespielt hätten. Alle Militärs ziehen daraus bereits Schlüsse, auch für die kommenden Aufrüstungsrunden. Präzision mit Masse, Implementierung von KI-Technologien in die Kriegsführung der Zukunft sind die Schlagworte – etwa auch autonome Waffensysteme. Für die globalen Rüstungskonzerne ergeben sich auch ohne offene Fortsetzung des Ukraine-Krieges profitable Geschäfte: Große Altbestände der europäischen Armeen wurden im Ukraine-Krieg im wahrsten Sinne des Wortes gewinnbringend „entsorgt“ und forcieren die Aufstockung der Lagerbestände. Neben dem Ersatzbedarf werden aber vor allem neue technologische Anforderungen identifiziert und entsprechende Produkte entwickelt, produziert und vertrieben.
- Die Einbindung der Ukraine in die Nato spielt in der US-Strategie offensichtlich keine große Rolle: Erstens ist die Ukraine im realen Kriegsgeschehen durch Berater, Ausbildung, Waffensysteme de facto intensiver in die Nato eingebunden als viele EU-Staaten. Zweitens kann die Nato den Beitritt Schwedens und Finnlands als beachtlichen Erfolg verbuchen.
Die Perspektive der „Kleinen Wiese“
Differenzierter, aber nur in Nuancen anders, stellt sich die Situation auf der „Kleinen Wiese“, also aus Sicht der Ukraine und der europäischen Staaten dar. Russland konnte weder militärisch-konventionell und ökonomisch (durch Sanktionen) noch politisch (mit dem Versuch einer globalen Isolation) zum Rückzug und zur Aufgabe gezwungen werden und wird insofern in der Ukraine permanent als militärischer Aggressor erlebt und in den größten Teilen der europäischen Politik und den Medien als militärisch-konventionelle Bedrohung mit nuklearem Erpressungspotenzial wahrgenommen. Die vorherrschende Meinung ist: Europa und insbesondere Deutschland und die baltischen Staaten sind derzeit auf den nuklearen Schutzschirm der Amerikaner ebenso angewiesen wie zumindest auf die technologischen Aufklärungs- und Raketenabwehrsysteme der USA. Deshalb wird eine Infragestellung des transatlantischen Bündnisses und der NATO-Integration als hochgradige Gefahr gesehen.
Insofern wird Russland aus der Perspektive der „Kleinen Wiese“ trotz der nachweislichen militärischen und wirtschaftlichen Schwächen als reale Bedrohung wahrgenommen. Die lange Zeit divergierenden öffentlichen Lageeinschätzungen zur Frontenentwicklung haben sich inzwischen weitgehend angenähert: Trotz der nur begrenzten territorialen Erfolge der russischen Armee wird angesichts der markanten Auflösungserscheinungen in der ukrainischen Armee (Hunderttausende männliche ukrainische Flüchtlinge im wehrfähigen Alter meldet die EU)[6] und angesichts der großen Rekrutierungsprobleme eine erfolgreiche ukrainische Offensive als unwahrscheinlich und ohne amerikanische Beteiligung als unmöglich angesehen. Die Forderung nach einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung, die noch vor kurzem als Unterwerfung unter eine russische Forderung gebrandmarkt wurde, wird derzeit mit nur geringen inhaltlichen Unterschieden sowohl von den USA offen und unverblümt als auch von den europäischen Staaten implizit und hinter verschlossenen Türen gestellt.
Die Option, den Krieg durch einen militärischen Sieg der Ukraine oder einen wirtschaftlichen Kollaps Russlands zu beenden, mag in Teilen der ukrainischen militärischen und politischen Eliten noch virulent sein, auf den europäischen Gipfeltreffen konzentrierten sich die strategischen Diskussionen und vor allem die Kontroversen mit der Trump-Administration jedoch nur noch auf Fragen der Verhandlungsinhalte (Grenzziehungen, Militärkontingente) und Friedensgarantien sowie der Lastenteilung für die bisherigen und zukünftigen Kosten des Krieges und des Wiederaufbaus der zerstörten Infrastruktur. [7]
Die auch in Deutschland oft geforderten Verhandlungen auf der „Basis von Stärke“ waren seit dem Ende der Verhandlungen in Istanbul (März/April 2022), die unmittelbar nach dem gescheiterten Angriff auf Kiew und dem Rückzug der Panzertruppen – also einer russischen Niederlage – stattfanden, faktisch keine Option mehr.[8] Die im Istanbuler Abkommen von russischer wie ukrainischer Seite paraphrasierten Inhalte, die offen gebliebenen kontroversen Streitpunkte sowie die Ursachen für das letztendliche Scheitern wurden im April 2024[9] von Samuel Charap/Sergey Radchenko sorgfältig rekonstruiert und vermitteln – gemessen an den aktuell möglichen Verhandlungsergebnissen – wie viel Tod und Zerstörung der andauernde Krieg auf beiden Seiten die 2022 gescheiterte Verhandlungslösung zur Folge hatte, ohne dass nun bessere Perspektiven absehbar sind.
Allein mit Blick auf die „Kleine Wiese“ zeichnen sich in den aktuellen europäischen Debatten bereits jetzt hohe Belastungen für die europäischen NATO- und EU-Staaten ab:
Konsens besteht über dramatisch höhere Rüstungsetats. Diesen Erfolg kann die Trump-Administration bereits auf ihrer Habenseite verbuchen. Die in seiner ersten Legislaturperiode noch umstrittenen 2% -Anteil am BIP für Militärausgaben schwanken in der aktuellen Kontroverse zwischen 3 und 5% und sie sind nach den neuesten Kompromissen zwischen CDU/CSU und SPD nach oben unbegrenzt. Völlig ungeklärt bleibt neben der Höhe der Rüstungsausgaben ihre Zweckbindung, zumal angesichts der Kriegserfahrungen im Ukraine-Krieg, die viele besonders teure Waffengattungen wie Panzer, Überwasserschiffe, bemannte Kampfflugzeuge entwertet haben. Und weitgehender Konsens besteht über das unbedingte Festhalten am transatlantischen Bündnis, das auch von der Trump-Administration bisher nur verbal relativiert, aber nicht gänzlich real in Frage gestellt wird. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass sich europäische Politiker zwar kritisch zur US-Politik äußern, ihre Kritik zielt aber – von wenigen bellizistischen Akteuren abgesehen – nicht auf die Fortsetzung einer kriegerischen Lösung bis hin zu einem „gerechten und gesicherten Frieden“ für eine territorial integrierten Ukraine. Gefordert wird lediglich eine Beteiligung Europas und der Ukraine an den von den USA geführten Verhandlungen.
Zugesagt wurden bisher lediglich
a) die weitere Auf- und Umrüstung der Ukraine,
b) die Finanzierung des ukrainischen Staatshaushaltes und
c) die finanzielle Unterstützung beim Wiederaufbau der westukrainischen Infrastruktur.
Bereits die Zustimmung, eigene Friedenstruppen zur Sicherung eines Waffenstillstandes zu stellen, ist geteilt. Erstens wurden NATO-Truppen bisher von Russland nicht akzeptiert, zweitens von den USA bisher nicht angefordert und drittens erscheinen sie einigen europäischen Staaten angesichts des anhaltenden Konfliktpotentials als zu gefährlich bzw. aus deutscher Sicht für viele aus historischen Gründen für problematisch. Wie eine kleine britische Berufsarmee von 80.000 aktiven Soldaten zusammen mit den größeren französischen Einheiten, die gerade erst im ehemals französischen Afrika gescheitert sind, eine 3.000 km lange Frontlinie der Ukraine zu Russland kontrollieren sollen, bleibt vorerst ebenso unklar wie die Einschätzung der Trump-Administration, dass die Ukraine außer einer Verhandlungslösung einschließlich eines Rohstoffdeals keine weiteren Garantien brauche. Diese Sicht der US-Regierung beruht offensichtlich auf der Einschätzung, dass Russland durch den Ukraine-Krieg substanziell geschwächt wurde und kein Potenzial hat, neue Aggressionsstrategien nach Westen „militärisch“ anzugehen. Putin – so die Sicht von Trump -, der sich mit der Aggression über der Ukraine nachhaltig die Finger verbrannt hat, geht mit seinen kleinen, teuer erkauften Landgewinnen und einer formal NATO-freien Ukraine nur „scheinbar“ als Sieger vom Feld. Das Kooperationsangebot der Trump-Administration dürfte zudem den Druck der russischen Oligarchen auf Putin weiter erhöhen, die auf eine Rückkehr in die Weltwirtschaft und die Freigabe ihrer im Ausland geparkten Vermögenswerte hoffen.
Die öffentlichen Debatten allein zu diesen Themen der „Kleinen Wiese“ offenbaren schon tiefe europäische Differenzen
Die eigentlichen strategischen Probleme für Deutschland wie für die EU-Staaten offenbaren sich jedoch erst mit Blick auf die „Große Wiese“: Wie sollen sich die EU-Staaten und vor allem auch Deutschland im globalen Hegemoniekonflikt zwischen den USA und China positionieren angesichts der hohen arbeitsteiligen Verflechtung sowohl mit der US-amerikanischen als auch mit der chinesischen Wirtschaft? Wie sollen sich Europäer im globalen Konflikt um den ökologischen Umbau, die Pariser Klimaziele, überhaupt um die ökologische Energiewende und die Verkehrswende hin zu emissionsarmer und emissionsfreier Mobilität versus die absehbare fossile Konterrevolution positionieren? Und wie sollen die Beziehungen zur Ukraine und Russland in einer möglichen Nachkriegsordnung gestaltet werden, wenn die Trump-Administration Russland in seine ökonomischen und politischen Strategien einbinden sollte?
Für die europäische und insbesondere die deutsche Wirtschaft hätte die Unterordnung und Einbindung in eine von der Trump-Administration angeführte fossile globale Allianz gegen China verheerende Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung und die Erreichung sozialer und ökologischer Ziele. Die klare Definition der eigenen Interessen, die Absage an eine globale Blockpolitik und das offensive Eintreten für eine offene globale Handels- und Kooperationspolitik auch mit den schnell wachsenden Ländern des globalen Südens in Amerika, Afrika und Asien ist sicherlich die bessere Alternative.
Nachbemerkung:
Nach dem krachenden Scheitern der Ampelparteien, den Bundestagswahlergebnissen, den Sondierungsgesprächen und ihren für CDU/CSU Wähler überraschenden Wendungen sei die Anmerkung erlaubt, dass auch auf außenpolitisches Gebiet ein Kanzler Merz gezwungen sein wird, die Herausforderungen der „Großen Wiese“ ernsthaft anzunehmen.[10]
Es wird nicht allzu lange dauern, bis bei aller Kritik an der Politik der Zeitenwende von Olaf Scholz auch positiv vermerkt wird, dass er sich vor dem russischen Überfall für eine Friedens- und Verhandlungslösung eingesetzt hat. Auch seine Einbeziehung des globalen Südens in den von ihm organisierten G7-Gipfel kann als Versuch interpretiert werden, relevante Akteure des globalen Südens wie Brasilien, Indien, Indonesien als Vermittler für Verhandlungen zu aktivieren. Und seine vielfach kritisierte „zögerliche“ Politik der Waffenlieferungen kann als Versuch verstanden werden, die Gefahr einer nuklearen Eskalation ernst zu nehmen und damit auch zu begrenzen. Und mit seinem Diktum, der Ukraine-Krieg dürfe nicht zu einer Rückkehr globaler Blockpolitik und zur Ablösung des freien Welthandels durch nationalistischen Protektionismus führen[11], plädierte er zumindest implizit für eine multilaterale und gegen eine unilaterale Weltordnung. Dies bewegt sich zwar nur im Spektrum der Varieties of Capitalism, sollte aber angesichts der akuten Gefahren nicht unerwähnt bleiben.
Anmerkungen:
[1] Eine Position, die der ehemalige Obama Berater Samuel Charap, Ein Krieg der nicht zu gewinnen ist. Washington braucht ein Endspiel in der Ukraine, Foreign Affairs Juli/August 2023:“Faktoren könnten zu einem verheerenden, jahrelangen Konflikt führen, der zu keinem endgültigen Ausgang führt. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten stehen also vor der Wahl ihrer künftigen Strategie. Sie könnten in den kommenden Monaten versuchen, den Krieg auf ein Verhandlungsende zuzusteuern. Oder sie könnten es in Jahren tun. Wenn sie sich entscheiden zu warten, werden die Grundlagen des Konflikts wahrscheinlich die gleichen sein, aber die Kosten des Krieges – menschliche, finanzielle und andere – werden sich vervielfacht haben. Eine wirksame Strategie für die folgenreichste internationale Krise seit mindestens einer Generation erfordert daher, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten ihren Fokus verlagern und damit beginnen, ein Endspiel zu ermöglichen.“ An Unwinnable War: Washington Needs an Endgame in Ukraine https://www.foreignaffairs.com/ukraine/unwinnable-war-washington-endgame?utm_medium=promo_email&utm_source=lo_flows&utm_campaign=registered_user_welcome&utm_term=email_1&utm_content=20230626 – author-info
[2] Wirtschaftliche wie militärische Optionen einer langen Auseinandersetzung mit China werden in den USA ebenso intensiv wie kontrovers diskutiert, siehe z.B.Andrew F.Krepinevich,jr, The Big One: Preparing for a Long War Between the U.S. and China https://www.foreignaffairs.com/china/united-states-big-one-krepinevich. Stephen G. Brooks/Ben A..Vagle, The Real China Trump Card | Foreign Affairs The Hawk’s Case Against Decoupling, Foreign Affairs March/April 2025 https://www.foreignaffairs.com/united-states/real-china-trump-card-brooks-vagle.
[3] Insofern war der Tagungsort Riad in Saudi-Arabien für die ersten russisch-amerikanischen Gespräch symbolträchtig.
[4] Stephen Kotkin: The Five Futures of Russia:And how America can prepare for whatever Comes next. Foreign Affairs Mai/June 2024: „Russia’s world is effectively shrinking despite its occupation of nearly 20 percent of Ukraine. Territorially, it is now farther from the heart of Europe (Kaliningrad excepted) than at any time since the conquests of Peter the Great and Catherine the Great.“ https://www.foreignaffairs.com/russian-federation/five-futures-russia-stephen-kotkin
[5] Battles of Precise Mass: Technology Is Remaking War—and America Must Adapt, Michael C.Horowitz, Battles of Precise Mass. Technology is remaking war – and Amerika must adapt, Foreign Affairs November/Dezember 2024 https://www.foreignaffairs.com/world/battles-precise-mass-technology-war-horowitz
America Isn’t Ready for the Wars of the Future: And They’re Already Here, Mark A. Milley/Eric Schmidt, Foreign Affairs September/October 2024. https://www.foreignaffairs.com/united-states/ai-america-ready-wars-future-ukraine-israel-mark-milley-eric-schmidt
[6] phoenix runde: Zwischen Trump und Putin – Welchen Preis zahlt Europa? https://www.ardmediathek.de/video/phoenix-runde/zwischen-trump-und-putin-welchen-preis-zahlt-europa/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvNDgwNzA5Mg . Wolfgang Richter spricht von 90.000 Fahnenflüchtigen, die der ukrainische Generalstaatsanwalt meldet und 650.000 männliche Flüchtlinge im wehrfähigen Alter in der EU registriert.
[7] Samuel Charap, A Pathway to Peace in Ukraine: Trump Needs a Realistic Game Plan, Strong Incentives, and Patience, Foreign Affairs 24. December 2024 https://www.foreignaffairs.com/ukraine/pathway-peace-ukraine.
Verhandlungs- oder Kriegslösung? – Anmerkungen zur aktuellen Debatte – Gastbeitrag von Witich Roßmann | Blog der Republik, 5. Dezember 2023. Hier wurden erweiterte Themen einer Verhandlungslösung benannt. https://www.blog-der-republik.de/verhandlungs-oder-kriegsloesung-anmerkungen-zur-aktuellen-debatte-gastbeitrag-von-witich-rossmann/
[8] Sie werden nunmehr als Verhandlungspunkte so hart reformuliert, dass die Fortsetzung des Krieges und nicht eine Verhandlungslösung die logische Konsequenz wäre. Dies wird als Strategie den europäischen Staaten und der Ukraine für die interne Auseinandersetzung mit der Trump-Administration über Verhandlungsinhalte und -formen anempfohlen, siehe Ein Plan für Frieden durch Stärke in der Ukraine: Europa muss sich engagieren, aber Amerika muss immer noch eine Rolle bei der Beendigung des Krieges spielen; Foreign Affairs 7.3.2025 https://www.foreignaffairs.com/russia/plan-peace-through-strength-ukraine?s=EDZZZ005ZX&utm_medium=newsletters&utm_source=fatoday&utm_campaign=A Plan for Peace Through Strength in Ukraine&utm_content=20250307&utm_term=EDZZZ005ZX
[9] The Talks That Could Have Ended the War in Ukraine | Foreign Affairs .A Hidden History of Diplomacy that came up short – but holds Lessons for Future Negotiations, Foreign Affairs 16. April 2024. https://www.foreignaffairs.com/ukraine/talks-could-have-ended-war-ukraine
[10] Seine außerordentliche Flexibilität, vielleicht auch strategische Beliebigkeit wurde deutlich, als Merz, der noch wenige Wochen zuvor massiv den Einsatz von Taurus in Russland einforderte, nach einem halbstündigen Gespräch mit US-Vize Vance auf Twitter einen Waffenstillstand für die Ukraine und baldigen Frieden einforderte, zurzeit indes wieder massive Unterstützung der Ukraine zur Fortführung des Krieges.
[11] Olaf Scholz, Die globale Zeitenwende. Wie ein neuer Kalter Krieg n einer multipolaren Ära vermieden werden kann, Foreign Affairs v. 05.12.2022 https://www.foreignaffairs.com/germany/die-globale-zeitenwende)
Zum Autor: Witich Roßmann, Köln/Marburg, Politikwissenschaftler. Er publiziert zur Geschichte und Zukunft von Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, industriellen Beziehen, Tarif-, Industrie- und Wirtschaftspolitik sowie zu Moblitätsthemen.
Siehe auch Wikipedia
Eine sachliche, gut fundierte Analyse,, die sich wohltuend abhebt von den ideologisch gefärbten, moralisierenden Beiträgen der meisten Mainstream-Medien. Wie sagte schon Hegel: „Die Wahrheit ist immer konkret“.