Ein Paukenschlag hat einen Kanzler Friedrich Merz zumindest im ersten Wahlgang gestoppt. Das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein designierter Kanzler im ersten Wahlgang nicht gewählt wurde. Der CDU-Chef erhielt nur 310 Stimmen, erforderlich waren 316. Die neue Koalition aus CDU, CSU und SPD hat im Bundestag 328 Mandate, es müssen also mindestens 18 Abgeordnete aus Union und SPD nicht für ihren Kanzlerkandidaten gestimmt haben. Die Opposition aus AfD, Grünen und der Partei „Die Linke“ verfügt über 302 Sitze. Merz müsste in einen zweiten Wahlkampf gehen, um doch noch gewählt werden. Möglicherweise passiert das am Mittwoch, 7. Mai. Erst in einem dritten Wahlgang reichte eine einfache Mehrheit. Binnen 14 Tagen muss eine Entscheidung fallen. Bis zur Neuwahl eines Kanzlers bleibt Olaf Scholz amtierender Regierungschef.
Man konnte es ahnen, wenn man die Phönix-Übertragung verfolgte. Es war ausgezählt, man wartete, dass die Abgeordneten wieder ihre Plätze im Plenum einnahmen. Bundestagspräsidentin Klöckners Gesicht wirkte fast versteinert, Lars Klingbeils Mimik drückte etwas Ratlosigkeit aus, auch die anderer Abgeordneter, die offensichtlich Bescheid wussten, machten deutlich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Niemand lachte, keinerlei Fröhlichkeit oder Gelassenheit zumindest nicht in den Reihen der Demokraten. Dann das Verlesen der Ergebnisse durch Frau Klöckner, 310 Stimmen für Merz, zu wenig für einen Kanzler. Eine Bombe, wie es später hieß, wenn die Kriegssprache erlaubt ist. Und das in der doch so stabilen Demokratie Bundesrepublik. Wir sind doch nicht in Amerika.
Kanzler-Wahlen sind auch immer Hochämter der Demokratie. Sie verlangen Symbole, einen feierlichen Rahmen. Mit Eid, Empfang und Urkunden durch den Bundespräsidenten. Gratulationen. Und dann sollte ja auch noch am Abend die erste Kabinettsitzung stattfinden. Merz und Klingbeil wollten sofort loslegen, es sollten Stellen gestrichen werden, die man für überflüssig hielt-Stichwort Bürokratieabbau-, der neue Bundesinnenminister Dobrindt wollte schon einen Tag später die Kontrollen an den Grenzen verstärken mit einigen Tausend zusätzlichen Polizisten, mit Zurückweisungen. Machen statt Reden, Hoffnung auf gutes Regieren statt Zaudern verkündete die Bild-Zeitung. Der neue Kanzler wollte nach Paris fliegen, dann nach Warschau, Signale an Europa, dass Deutschland wieder dabei ist, in der Kanzler-Maschine sollte wohl der neue Außenminister sein, Johannes Wadepuhl.
Von wegen, ab sofort werde alles anders, besser, schneller. Der ganze Plan ist nunmehr über den Haufen geworfen, der Bundespräsident wartete vergebens, um den alten Kanzler zu verabschieden und dem neuen die Amtswürde zu verleihen. Kein Amtseid, kein Wechsel im Kanzleramt und so weiter. Was nur haben sich die Frauen und Männer, die Merz ihre Zustimmung verweigerten, dabei gedacht? Haben die Chefs Klingbeil und Merz nichts geahnt, keine Beichtstuhlgespräche, um unsichere Kantonisten zu bekehren? Die Wahl ist geheim, meinte früher gelegentlich ein Kollege. Und hat niemand auf die Mahnungen aus der Wirtschaft gehört, Deutschland brauche eine funktionsfähige Regierung, sofort, zügig. Und dann diese gescheiterte Wahl.
Die Welt schaut überrascht
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, ein enger Vertrauter von Merz, zeigte sich nach dem Wahldesaster ziemlich geschockt. Er habe keine Erklärung, die Fraktion der Union habe in einer Sondersitzung noch einmal in Form von Standing Ovations ihre Geschlossenheit und Zustimmung für Merz verdeutlicht. Linnemann plädierte auch für einen möglichst schnellen 2. Wahlgang. Europa, ja die Welt schaue auf Deutschland, überrascht, die drittgrößte Volkswirtschaft, die seit einem halben Jahr ohne eine handlungsfähige Regierung sei. Wie es heißt, wird Friedrich Merz in einem 2. Wahlgang erneut antreten. Einen Kandidatenwechsel werde es wohl nicht geben, wobei unklar ist, was passiert, sollte Merz erneut die Mehrheit verfehlen. Die AfD frohlockte und forderte neben dem Rückzug von Merz Neuwahlen.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder(CSU) beklagte das Scheitern von Merz im ersten Wahlgang. Es dürfe hier nicht um Denkzettel gehen, nicht um das Begleichen alter Rechnungen. Es gehe auch nicht nur um Friedrich Merz, sondern ums Ganze. Bitte keine Spielchen, so Söder, die höhnische Reaktion der AfD habe deutlich gemacht, wie Ernst die Lage sei. „Wir schaden uns selbst. Ich appelliere an alle Demokraten im Deutschen Bundestag, dafür zu sorgen, dass wir eine stabile Regierung bekommen“. Fast flehentlich wirkte Söder, der ja aktiv am Zustandekommen der Koalition und des Vertrag mitgewirkt und dafür geworben habe. Ja, der ja auch seine eigenen Ambitionen aufs Kanzleramt zugunsten von Merz zurückgenommen hatte.
Auch von der SPD-Seite gab es nur Bedauern. Manuela Schwesig(SPD), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, nannte das negative Abstimmungsverhalten einiger „verantwortungslos“. Andere Stimmen der SPD wiesen daraufhin, an ihnen habe es nicht gelegen. Man habe für Merz gestimmt. Woher wollen sie das wissen? Geheim ist geheim, da kann man noch so viele Gespräche mit den Parteifreunden führen, Gewissheit gewinnt man nicht. Viele, wohl zu viele Sozialdemokraten, aber auch Christdemokraten haben das Messer in der Tasche gegen Merz und Klingbeil. Dafür haben auch die neuen Ministerinnen und Minister gesorgt, die Merz und Klingbeil von außen geholt haben. Das kommt in keiner Fraktion gut an, weil man ihr damit bescheinigt, nicht über geeignete Kandidaten für Ministerämter zu verfügen. Man denke nur an den Heide-Mörder vor über 20 Jahren, der das politische Aus von Heide Simonis in Kiel einleitete. Der Name der Person, die gegen die Ministerpräsidentin gestimmt hat, ist nie bekannt geworden. Geheime Wahl.
Der am Abend zuvor beim Großen Zapfenstreich zum Abschied des Kanzlers Olaf Scholz(SPD) gepriesene friedliche Übergang von der einen zur anderen Bundesregierung wurde zunächst verhindert. Darauf war man doch immer so stolz, wie so etwas funktionierte, niemand klammerte sich ans Amt, der Alte übergab dem Neuen die Schlüssel, das Fernsehen war dabei, es wurde gelacht. Keinerlei Ärger. Und jetzt das!
Bild des Chaos
Dem Beobachter bot sich ein Bild des Chaos. Kaum jemand hatte ernsthaft damit gerechnet, wenngleich immer wieder deutlich geworden war im Wahlkampf, dass Friedrich Merz kein Politiker des Ausgleichs ist, keiner, der unterschiedliche Gruppen miteinander verbindet, sondern eher einer, der polarisiert. Merz steht für Kapitalismus, für Marktwirtschaft, aber den Zusatz „Soziale“ vermisste man oft bei ihm. CDA-Chef Radtke hatte noch vor Tagen beklagt, dass der CDU-Regierungstruppe keiner vom sozialen Flügel der Union an gehöre. Selbst in den eigenen Reihen ist Merz umstritten. Da halfen auch Filme über den Sauerländer Merz nicht, in denen von der Bodenständigkeit des künftigen Kanzlers die Rede war. Mehr Sauerland wagen? Von wegen. Andere wiesen eher daraufhin, dass der Mann mit dem eigenen Flieger nach Sylt fliege. Wie solle er da wissen, wie es da unten gehe, wie teuer die Lebensmittelpreise sein, wie teuer die Mieten. Diese Kritik kam vom Linken-Chef van Aken. Falsch ist sie nicht. Aus der SPD waren immer Stimmen zu hören, Merz nicht wählen zu können. Das hing auch mit seinem Verhalten im Bundestag zusammen, als er bei einer Abstimmung die Stimmen der AfD in Kauf nahm, um die Ampel zu besiegen. Und doch hieß es jetzt aus der Fraktion nach dem ersten Wahlgang, auch wenn Merz nicht der Lieblingskandidat der SPD sei, man habe ihn gewählt.
Aber Merz hat Vertrauen eingebüßt, das mit der AfD hätte nicht passieren dürfen. Weil man eben mit Verfassungsfeinden keine gemeinsache Sache mache. Keiner kann garantieren dass alle Abgeordneten für Merz stimmen. Es gibt einfach zu viele Politiker aus der Union wie der SPD, die mit Merz nicht einverstanden sind und die ihm einen mitgeben wollen als eine Art Denkzettel. Aber ob diese Politiker ihre Bedenken, ja ihre Ablehnung des CDU-Chefs ändern ob der großen gemeinsamen Ziels, eine Regierung aus CDU, CSU und SPD zu schmieden mit einem Kanzler Merz, ist ungewiss.
Man darf nicht ignorieren, dass Lars Klingbeil in der SPD sehr umstritten ist. Heute gilt er als der starke Mann der Partei, die ihm aber nicht vergessen hat, dass er als SPD-Chef eine große Mitverantwortung für die Wahl-Katastrophe hat, nicht nur der Kanzler, dem man vor allem seine miserable Kommunikation vorgeworfen hat. Und es waren und sind nicht nur Freunde von Saskia Esken, die es nicht für in Ordnung halten, dass der Ärger über den Wahlausgang allein bei Frau Esken abgeladen wird. Und dass sich Klingbeil nach der Wahl selber zum starken Mann der SPD aufschwingt, dazu noch Bundesfinanzminister und Vizekanzler werden soll, wird von seinen nicht wenigen Kritikern nicht gerade gewürdigt.
Grundgesetz geändert
Ob es daran lag, dass die Koalition nicht geschlossen für ihren gemeinsamen Kanzlerkandidaten gestimmt hat? Wie kaum ein anderer hatte Friedrich Merz die Ampel-Koalition unter Olaf Scholz kritisiert, ihr seit Jahr und Tag Unvermögen vorgeworfen(Merz an die Adresse von Scholz: Sie können es nicht) und einen Politikwechsel gefordert. Und er hatte oft genug den Eindruck erweckt, als wenn nur er, Merz, von Politik und Wirtschaft Ahnung habe, hatte betont, draußen, in Paris und anderswo lache man über die Deutschen, er meinte die Ampel-Regierung, Scholz und andere. Eine Lockerung der Schuldenbremse hatten Merz und Co. ohne Wenn und Aber abgelehnt, um nach der Wahl gemeinsam mit der von ihm vorher heftig bekämpften SPD Schulden wie noch nie-in Höhe von mindestens einer Billion Euro- zu beschließen, um die marode Infrastruktur- Bahn, Straßen, Schulen, Digitalisierung- zu sanieren und die abgerüstete Bundeswehr wieder verteidigungsfähig zu machen. Dafür wurde sogar vom alten Bundestag mit Zustimmung der Grünen das Grundgesetz geändert.
Diese Politik-Umkehr schadete Merz in den eigenen Reihen sehr. Unions-Kreise warfen ihrem eigenen Vorsitzenden und designierten Kanzler einen Vertrauensbruch vor, Wahlversprechen gebrochen zu haben. Die Einigung mit der SPD auf einen Koalitionsvertrag konnte die Zustimmungswerte für Merz nicht erhöhen. In fast allen Umfragen wurde der Regierung Merz nicht zugetraut, erfolgreiche Politik zu machen. Erschwerend kam in Umfragen der Zuwachs der Sympathien für die nach dem Entscheid des Verfassungsschutzes als bundesweit verfassungsfeindlich hochgestufte AfD hinzu.
Aber trotz aller Bedenken hatte ein SPD-Mehrheit für den Koalitionsvertrag mit der SPD gestimmt, einer SPD, die sich trotz ihres schlechtesten Wahlergebnisses seit über 100 Jahren in den Verhandlungen mit Merz und Söder mindestens behaupten, andere meinten durchsetzen konnte.
Historische Niederlage
Das Scheitern im ersten Wahlgang ist historisch einmalig, zumindest bei der Kanzlerwahl. Die frühere Grünen-Abgeordnete und Ministerin im Kabinett Schröder/Fischer, Renate Künast, wies als Erklärung für die Wahlniederlage daraufhin, dass Merz immer mehr polarisiert, ja die Leute auf die Baumwipfel getrieben habe, um anschließend mit einem Teil dieser Gegner gemeinsam zu regieren. Ja, es stimmt ja, es waren nicht nur die populistischen Bemerkungen in Richtung Geflüchteter, die den Deutschen beim Zahnarzt die Termine wegnähmen.
Konrad Adenauer ist 1949 mit einer Stimme, seiner, gewählt worden, Helmut Kohl hatte 1994 gegen Rudolf Scharping nur zwei Stimmen mehr als die Opposition, Gerhard Schröder schaffte 2002 gegen Edmund Stoiber einen Vorsprung von drei Stimmen. Friedrich Merz hatte über die Linken gespottet, deren Zeit vorbei sei, und jetzt scheitert er im ersten Wahlgang.
Das Ende ist offen. Ob mit oder ohne Merz, wer will das wissen. Sollte Merz, der sich ja mit Scheitern auskennt- man denke an Merkel, Laschet, Kramp-Karrenbauer- doch noch gewählt werden, ist er angeschlagen.
Es war ein dramatischer Tag. Bis 14 Uhr war nicht sicher, wie es weitergeht. Um 14.08 verkündete Lars Klingbeil, dass es noch am Nachmittag einen zweiten Wahlgang geben werde mit dem Ziel, Friedrich Merz zum Kanzler zu wählen.
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