Das war knapp. Mit 383 Stimmen ist Ursula von der Leyen vom Europäischen Parlament zur neuen Kommissionspräsidentin gewählt worden. Neun Stimmen mehr als sie für die absolute Mehrheit brauchte: Das reicht für die erste Frau in dem mächtigsten Amt der Europäischen Union und für die nach Walter Hallstein vor gut 50 Jahren wieder deutsche Besetzung. Aber es reicht kaum für einen starken Start. Der Rückhalt der Christdemokratin im Parlament ist dürftig, und das wird ihr in den bevorstehenden Wochen und Monaten noch erheblich zu schaffen machen.
Die Wahl im Europaparlament war geheim, und es ist müßig zu spekulieren, wer von den 733 Abgeordneten der scheidenden Verteidigungsministerin letztlich die Stimme verweigert hat. Viele haben ihr Nein offensiv angekündigt, weil sie auf das vor der Europawahl im Mai verabredete Spitzenkandidatenprinzip pochten und weil ihnen die von den Staats- und Regierungschefs überraschend nominierte Kandidatin zu schwach und unverbindlich erschien. Andere sind von ihrer jeweiligen Fraktionslinie abgewichen, auffallend viele haben sich der Stimme enthalten.
Die Sensation aber blieb aus. Am Ende hat sich der Europäische Rat durchgesetzt, das Parlament hat sich gefügt, die alten Hinterzimmer-Strukturen funktionieren noch. Das zentrale Wahlversprechen ist gebrochen, und es ist der Versuch einer Legendenbildung, den Schwarzen Peter dafür dem Parlament selbst zuzuschieben. Es war der Rat, der die Nachfolge von Jean-Claude Juncker in einem Paket mit anderen europäischen Topjobs geregelt und durchgedrückt hat.
Ursula von der Leyen haftet dieser Makel an. So erleichtert sie sein mag, dass sie das Verteidigungsministerium in Berlin mit den vielen Baustellen und Skandalen hinter sich lassen kann, so schwierig wird, was nun in Brüssel auf sie zukommt. Wohlklingende Reden über die Zukunft eines starken und geeinten Europa zu halten, genügt nun nicht mehr. Aus all den gefälligen Ankündigungen vor dem Europäischen Parlament zur Klimakrise, zur Rechtsstaatlichkeit, zu Migration und Asyl, zu Mindestlöhnen und Arbeitslosenversicherung, zu Steuergerechtigkeit und Initiativrecht sollte nun ein Arbeitsprogramm für die nächsten fünf Jahre entstehen. Und es ist absehbar, dass die vollmundigen Versprechen der Umsetzung in konkrete Politik nicht standhalten werden.
Da wird das Parlament wieder ein starkes Wort mitreden und die erlittene Schmach wettmachen wollen. Auf die schwierige Aufgabe, eine Kommission zu schmieden, hat Parlamentspräsident David Sassoli gleich nach dem Glückwunsch an Ursula von der Leyen hingewiesen. Es werden wieder die nationalen Regierungschefs sein, die durch die Benennung ihres jeweiligen Kandidaten die Weichen stellen wollen. Und es gehört nicht viel dazu zu ahnen, dass aus Ländern wie Polen, Ungarn und Italien nicht die glühendsten Europafreunde geschickt werden. Das Parlament kann jeden Einzelnen ins Gebet nehmen und notfalls den kompletten Vorschlag von der Leyens ablehnen. Ein weiterer Machtkampf bahnt sich an.
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Ein schwacher Kommentar. Wer immer noch von „alten Hinterzimmerstrukturen“ redet, hat das Wesen eines Staatenbundes nicht verstanden. Des weiteren hat das EP das Spitzenkandidatenmodell tatsächlich selbst sabotiert. Erstens, in dem sich EVP und S&D nicht vor der Wahl auf Kandidaten geeinigt haben, die für beide Fraktionen wählbar gewesen wären (wie 2014). Zweitens, in dem die S&D gleich nach der Wahl dem Spitzenkandidaten der EVP die Eignung abgesprochen haben.