In all seiner Widersprüchlichkeit sei Karl Marx ein großer deutscher Denker, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anläßlich des 200. Geburtstages des 1818 in Trier geborenen und 1883 in England gestorbenen Mannes, den man schlechthin mit dem Kommunismus in all seinen fatalen Auswirkungen verbindet. Was ungerecht ist und unfair, denn Marx hat weder Lenin noch Stalin oder Mao auf den Schild gehoben noch sie den Irrweg in des Teufels Hölle gelehrt, auf dem Millionen und Abermillionen Menschen getötet wurden. Steinmeier hatte das Bild mit den Widersprüchen bewusst gewählt, ist doch gerade die deutsche Geschichte gespickt mit Widersprüchen, eine Geschichte, in der Abgründe neben Höhen stehen. Man denke an jene braunen Jahre, als aus dem Land der Dichter und Denker das Land der Richter und Henker wurde.
Mit Marx auseinandersetzen, ihn weder hochjubeln noch verdammen. Dass die Chinesen der Stadt Trier die Riesen-Statue von Marx mit 5,50 Metern Höhe geschenkt haben, ist ein Geschenk. Jeder kann sich dazu seinen Reim machen. Das Ding steht nun da- unübersehbar. „Wir müssen uns vor Marx nicht fürchten“, hat der Bundespräsident in seiner feinen Rede erklärt, aber wir müssten ihm auch keine goldenen Statuen bauen. Er ist Teil deutscher Geschichte, er schrieb Artikel in der Zeitung zu einer Zeit, da die Zensur die Inhalte bestimmte und den, der sich nicht dran hielt, mit harten Strafen belegte. Dass Marx später in London lebte und wirkte, hatte auch damit zu tun.
Sozialer Sprengstoff ist da
Er schrieb vor dem Hintergrund der Verarmung der Massen, er sah die Kinderarbeit, das Elend, das der Kapitalismus anrichtete, weil er die Menschen ausbeutete. Diese Verhältnisse zu überwinden, trieb den Philosophen Marx an, er wollte die Proletarier aus ihrer Armut befreien und „der Bevormundung aus der eisernen Hand des Obrigkeitsstaates“(Steinmeier) ein Ende bereiten. Wer will ihm da widersprechen? Wenn wir auf die heutige Entwicklung blicken, sehen wir neben vielen Vorzügen auch nicht wenige Fehlentwicklungen. Auch heute gibt es neben sozialen Errungenschaften ungleiche Macht- und Lebensverhältnisse, Kinderarmut, Tafeln, Bettler, spiegelt das System die wachsende Ungleichheit wider, die auch ein Karl Marx, lebte er denn heute, zum Thema gemacht hätte. Denn der soziale Sprengstoff ist zwar mit dem des 19. Jahrhunderts nicht zu vergleichen, aber es gibt ihn. Es ist wahr, dass es vielen Menschen in Deutschland gut bis sehr gut geht, aber Millionen profitieren nicht vom kapitalistischen System. Und niemand weiß, wie sich die Dinge am Arbeitsmarkt in der fortschreitenden Digitalisierung entwickeln.
Dass mit Marx die Unfreiheit des SED-Regimes in der längst untergegangenen DDR verbrämt wurde, ist ja wahr. Aber es ist kein Grund, es Marx in die Schuhe zu schieben. Er konnte sich doch gegen eine solche Vereinnahmung nicht wehren. Zu einer kritischen und fairen Auseinandersetzung mit Marx gehört dann eben auch, sich mit den Gefahren und Auswüchsen eines ungezügelten Kapitalismus zu befassen und sich sich die Frage zu stellen, ob dies die gerechtere und humanere Wirtschaftsordnung ist. Der VW-Skandal um den Diesel, Herrn Winterkorn oder der Skandal um die Deutsche Bank, um nur die zwei zu nennen, müssten dann auch in diesem Zusammenhang erörtert werden. Oder der weltweite Finanz-Skandal vor Jahren, der nur mit massiven Staatshilfen verhinderte, dass die Bankwelt in Schutt und Asche gelegt wurde. Der deutsche Bundesfinanzminister Peer Steinbrück erklärte damals zum Ausmaß dieses Skandals: „Wir haben in den Abgrund geblickt“. Nein, ich rede und schreibe mir den Marx nicht schön, aber ich erinnere an manche Fehlentwicklungen hier im Lande. Nehmen wir die in der SPD einst verpönte Debatte über Stamokap, eine Theorie aus dem Marxismus-Leninismus, die aber im Wester vor allem meinte, dass sich der Staat- wenn nötig- als Reparaturbetrieb des Kapitalismus zeige, also immer dann mit Milliarden Hilfen eingreife, wenn Großunternehmen in Gefahr seien. Wegen dieser Debatte wurde 1977 der frisch gewählte Juso-Chef Klaus-Uwe Benneter aus der SPD geworfen, wenige Jahre später wurde er wieder aufgenommen und Generalsekretär der Partei.
Als Ampelmännchen
„Er lebt“ überschreibt die Süddeutsche Zeitung am Wochenende ihren Aufmacher im Feuilleton, in dem die Ausstellungen zum 200. Geburtstag des Philosophen in der altrömischen Stadt Trier kritisch gewürdigt werden. Der Autor fügt gleich in der Unterzeile hinzu: „ein erstaunliches Revival“. Was ja stimmt, denn jahrelang ist Marx beschwiegen worden, seit Tagen füllt er die Medien von Nord bis Süd und West bis Ost.Marx als Kommunistenmacher, als Denker, als Ampelmännchen oder als Knusperpastete. Früher in christlich-konservativen Kreisen und Parteien verteufelt und in einem Satz mit Hitler und Stalin genannt, werden seine Person und sein Werk heute in einer kulturhistorischen Ausstellung gezeigt, mit Würde und Respekt. Sogar die katholische Kirche beschäftigt sich mit Marx und dem Spannungsfeld von Arbeitsleben und Menschenwürde. Dass von Marx der berühmte Satz stammt, Religion sei Opium fürs Volk, ist Anlass für Margot Käßmann von der Evangelischen Kirche, in der „Bild-am-Sonntag“, sich mit Marx in einer Kolumne kritisch zu befassen. „Wenn sich Marx heute die Kirchen anschauen würde, könnte er sehen, wie wenig sich Christinnen und Christen in unserem Land mit den Verhältnissen abfinden. Sie engagieren sich für Obdachlose. ..Sie organisieren Tafeln für Menschen, denen das Geld nicht für anständige Lebensmittel reicht. Sie nehmen Flüchtlinge auf, die nicht wissen, wie sie sich in unserem Land zurechtfinden sollen.“ Margot Käßmann erinnert daran, was das heutige Wirtschaftssystem anrichtet und sie erwähnt die Näherinnen unserer billigen Kleidung in Bangladesh, die Opfer unserer Rüstungsexporte im Jemen, die Kinder, die in Minen im Kongo mit bloßen Händen Kobalt für unsere Handys schürfen.“
„Oh nein“, hält Käßmann Marx entgegen, “ die Kirchen beschwichtigen nicht, sie benennen heute ganz klar die Ungerechtigkeiten mitten in dieser Welt. Und sie versuchen, die Not zu lindern.“ Dann zitiert sie Papst Franziskus mit den Worten: “ Dieser Kapitalismus tötet.“ Und am Ende schließt sie: „Das hätte sich Karl Marx wohl nicht träumen lassen.“ Sicher wäre er begeistert von der Diskussion um sein Werk.
Kein Satz länger als sieben Wörter
Marx ist wieder aktuell, was nicht jedem gefallen wird, weil Marx nun mal viele Feinde hat. Die SZ erinnert in ihrem Leitartikel zu Karl Marx an ein Interview des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, das er einer Frauenzeitschrift gegeben habe. Auf die Frage, welche Lektüre er empfehle, habe Macron geantwortet: „Lesen Sie das Kapital von Marx“. Das sei nützlich, um die Welt zu verstehen. Das Trierer Stadtmuseum Simeonstift, einer der Standorte der Landesausstellungen zu Marx, hat das „Manifest der Kommunistischen Partei“ als Broschüre in leichter Sprache herausgegeben, wie die SZ in ihrem Beitrag über Marx(„Er lebt“) hervorhebt. Kaum ein Satz sei länger als sieben Wörter. Ein Auszug: Der Kommunismus ist eine Idee. Darum geht es: Die Welt soll gerechter werden.“
Übrigens: Nach der Wende erhielt die Stadt Chemnitz ihren alten Namen zurück, aber die Einwohner entschieden sich bewusst dafür, ihr Marx-Denkmal als Wahrzeichen stehenzulassen. Wer etwas damit anfangen kann: die Sachsen nennen es „Nischel“, das ist gut gemeint und die sächsische Bezeichnung für Kopf oder Gesicht.
Wikipedia, Karl Marx (1875; Fotografie von John Mayall), gemeinfrei,
'Trotz allem: Karl Marx ist ein großer Deutscher – Gedanken zum 200. Geburtstag des umstrittenen Philosophen' hat keine Kommentare
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