I.
Am 11. Juni hat der „Blog der Republik“ das Manifest „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“ veröffentlicht, mit dem Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und inzwischen viele weitere sich gegen eine Militarisierung des Denkens und des Handelns in Deutschland und Europa wenden.
Am 12. Juni hat Christian Wolff darauf unter der Überschrift reagiert: „Warum ich das „Manifest“ nicht unterschreiben kann“. Dieser Beitrag verdient eine besondere Antwort, weil Wolff im Kern die gleiche Grundposition vertritt wie die, die das „Manifest“.erarbeitet haben. Er wendet sich gegen die „fatale Rede von der ´Kriegstüchtigkeit´ und ein gigantisches Aufrüstungsprogramm“ und stellt fest: „Beides widerspricht meines Erachtens den Grundanliegen sozialdemokratischer Friedenspolitik.“
Genau so ist es.
Damit unterscheidet er sich grundlegend von denen, die das „Manifest“ und die es unterstützen, in den vergangenen Tagen an den Pranger zu stellen versucht haben. Da werfen Menschen, denen selbst angelegte Scheuklappen den Blick aufs Ganze versperren, anderen Realitätsverweigerung vor. Da wird mit bösen Unterstellungen gearbeitet und schlichter Unsinn verzapft. Da paaren sich Geschichtsvergessenheit mit der mangelnden Fähigkeit, auch jenseits militärischer Kategorien zu denken.
All das dient einem Zweck: Unter allen Umständen soll verhindert werden, dass in der Sache gesprochen und gestritten wird, auf welchen Wegen Sicherheit und Frieden in Europa am besten erreicht werden können. Alles wird dafür getan, dass nicht zur Sache geredet wird:
Nicht über die Gefahren, die mit jedem Rüstungswettlauf verbunden sind, ganz unabhängig von den Absichten der Beteiligten.
Nicht über die tatsächlichen militärischen Kräfteverhältnisse zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten der NATO und Russland.
Nicht über die historischen Erfahrungen, die zeigen, dass es ohne eine Verständigung über Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung Sicherheit für niemanden gibt.
II.
Christian Wolff hat Einwände gegen das Manifest. Zu einigen möchte ich etwas sagen.
Er fragt, ob sich „irgendjemand in die Zeit des Kalten Krieg zurück(wünscht)“, weil es im „Manifest“ nach der Würdigung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 heisst: „Heute leben wir leider in einer anderen Welt.“
Nein, niemand von denen, die das „Manifest“ verantworten und unterstützen, wünscht sich die Zeit des Kalten Kriegs zurück. Und Christian Wolff hat recht, wenn er fragt, ob nach der „Friedlichen Revolution 1989/90 nicht sofort wieder auf den Vorrang von militärischer Interventionspolitik vor langfristig angelegten Friedensprozessen wie der KSZE gesetzt“ wurde.
Genau das steht im „Manifest“, das darauf hinweist, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur Russland, sondern auch „der Westen“ nicht an Völkerrecht und KSZE-Grundakte gehalten haben.
Christian Wolff vermisst Aussagen zur Rolle Europas und zu den „Sicherheitsinteressen der Staaten des früheren ´Warschauer Paktes´ und der früheren Sowjetunion.“
Ein „Manifest“ ist keine Enzyklopädie. Der Text erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder umfassende Darstellung aller Gesichtspunkte. Zu diesen Fragen ist er aber, wenn auch knapp, so doch klar:
„Zudem ist Europa heute mehr denn je gefordert, eigenständig Verantwortung zu übernehmen… Europa muss dem (der Politik der Konfrontation der USA) eine eigenständige, friedensorientierte Sicherheitspolitik entgegensetzen und aktiv an einer Rückkehr zu einer kooperativen Sicherheitsordnung mitwirken – orientiert an den Prinzipien der KSZE-Schlussaktive von 1975.“
Das gilt für alle Staaten in Europa, natürlich auch für „die baltischen Staaten, die Ukraine, Belarus, Georgien Moldavien“, die Christian Wolff besonders nennt. Auch diese Staaten sind selbstverständlich gemeint, wenn es im „Manifest“ heisst: „Die Unterstützung der Ukraine in ihren völkerrechtlichen Ansprüchen muss verknüpft werden mit den berechtigten Interessen aller in Europa an Sicherheit und Stabilität.“
Christian Wolff vermisst, dass „soziale Gerechtigkeit und freiheitliche Demokratie“ als „wichtigste Verteidigungswaffe in der Auseinandersetzung mit dem Autokratismus“ erwähnt werden.
Ja, auch hier enthält das „Manifest“ keine umfassende Darstellung, spricht das Thema aber durchaus an: „…brauchen wir dringend mehr finanzielle Mittel für Investitionen in Armutsbekämpfung, für Klimaschutz und gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, von denen in allen Ländern Menschen mit geringen Einkommen überdurchschnittlich betroffen sind.“
Wir alle wissen auch, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen sozialem Ausgleich, sozialer Sicherheit und stabilen demokratischen Verhältnissen.
Christian Wolff vermisst namhafte Stimmen aus dem Osten und moniert, dass zu wenige Frauen dabei sind.
Ja, nicht nur die beteiligten Frauen würden sich freuen, wenn sich mehr Frauen beteiligen. Was den „Osten“ angeht, hat Wolff wahrscheinlich Hans Misselwitz übersehen, der 1981 Gründungsmitglied des Friedenskreises Pankow war und sich vor und nach dem Fall der Mauer nicht nur für die Wiederbegründung der Sozialdemokratie in der DDR engagiert hat. Ich bin sicher, dass bald deutlich werden wird, wie viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, aber auch Parteilose oder Mitglieder anderer Parteien im „Osten“ das „Manifest“ und seine Forderungen unterstützen.
III.
Christian Wolff wirft den Verfassern des „Manifests“ vor, dass sie „völlig gefangen sind in der Vergangenheit und ihre Überlegungen auf Russland konzentrieren.“
Das ist ein Irrtum. Wer daran erinnert, dass sich das Konzept der „gemeinsamen Sicherheit“ in der Vergangenheit als erfolgreich erwiesen hat und es bis heute keine verantwortbare Alternative dazu gibt, ist nicht in der Vergangenheit gefangen.
1982 hat Olof Palme, der zwei Mal schwedischer Ministerpräsident war, den Bericht „Common Security“ der von ihm geleiteten „Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit“ der Generalversammlung der Vereinten Nationen vorgelegt. Olof Palme schreibt in seinem Vorwort zu dem Bericht, den damals Vertreterinnen und Vertreter aus Ost und West, aus Nord und Süd erarbeitet hatten:
„In unserem Bericht kommt die tiefe Sorge über die Verschlechterung der internationalen Lage zum Ausdruck sowie über die heute von so vielen wahrgenommene Tendenz, alles auf einen Krieg zutreiben zu lassen. Wir sind uns völlig einig darin, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann… Ein sogenannter begrenzter Atomkrieg würde sich fast unausweichlich zu einer weltumspannenden Katastrophe ausweiten. Die verschiedenen Doktrinen über die Führung eines Atomkriegs stellen daher eine ernst zu nehmende Bedrohung der Menschheit dar. Die Abschreckungsdoktrin bietet in der Tat einen sehr schwachen Schutz gegen die Schrecken eines Atomkriegs.
Es ist folglich von allergrösster Bedeutung, dass an die Stelle der Doktrin von der gegenseitigen Abschreckung etwas anderes tritt. Unsere Alternative lautet: gemeinsame Sicherheit. In einem Atomkrieg besteht keinerlei Aussicht auf einen Sieg; beide Seiten würden gleichermassen von Leid und Zerstörung betroffen. Sie können nur gemeinsam überleben. Beide Seiten müssen Sicherheit erlangen nicht vor dem Gegner, sondern gemeinsam mit ihm. Internationale Sicherheit muss von der Verpflichtung zu gemeinsamem Überleben getragen sein, nicht von der Androhung gegenseitiger Vernichtung.“
Diese fundamentale Einsicht ist in den vergangenen Jahren nicht nur vergessen und verdrängt worden, sie wird heute von der grossen Mehrheit der politisch Verantwortlichen nicht nur bei uns in Deutschland geleugnet. Sie haben dabei ein pathologisch gutes Gewissen, weil sie offenbar nicht wissen, was sie tun.
Das „Manifest“ soll dazu beitragen, dass das Konzept der „gemeinsamen Sicherheit“ wieder in die Diskussion über Sicherheit und Frieden zurückkehrt und sich im Interesse aller durchsetzt. Deshalb heisst es im „Manifest“: „Eine Rückkehr zu einer Politik der reinen Abschreckung ohne Rüstungskontrolle und der Hochrüstung würde Europa nicht sicherer machen. Stattdessen müssen wir wieder an einer Friedenspolitik mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit arbeiten.“
IV.
Was Christian Wolff am Ende seines Beitrags zu den Aufgaben künftiger europäischer Verteidigungspolitik schreibt, von der Stärkung und Unabhängigkeit der EU von den USA und Russland bis zur „Beschränkung der Rüstungsausgaben auf das absolut notwendige Minimum“, passt gut zu den Überlegungen und Forderungen des „Manifests“.
Bei so viel Übereinstimmung sollte es in Abwandlung des biblischen Wortes möglich sein, den Splitter im Auge unter Gleichgesinnten zu ertragen. Sonst behalten die das Sagen, deren Balken im Auge ihren Blick auf die Wirklichkeit verstellt und die deshalb eine Politik betreiben wollen, die schon deshalb falsch ist, weil sie mit mehr Waffen weniger Sicherheit schafft.
Die von Christian Wolff hervorgehobenen, angeblichen Mängel des Manifestes bestehen nicht, die wesentliche Aussage, der Zweck, ist erfüllt. Der offenkundigen deutsch-politischen Kriegswilligkeit ist genauso zu unterbinden wie die fortschreitende Dämonisierung legitimer russischer Sicherheitsinteressen.
Der dafür genutzte Missbrauch der Achse: Politik-NGOs-Medien ist zu stoppen.
Das Manifest ist der Bevölkerung zum Zwecke der Unterschrift zugänglich zu machen!!! Die deutsche Bevölkerung will keinen Krieg. .
Zunächst danke ich Christoph Habermann für seine kritische Replik auf meinen Beitrag. Ich stimme ausdrücklich zu: Eine Erklärung wie das „Manifest“ kann nicht eine „Enzyklopädie“ sein. Natürlich beschränkt man sich auf wesentliche Punkte. Das gilt auch für meinen Beitrag wie für diese Antwort auf Christoph Habermann. Dennoch ist es durchaus berechtigt, aus dem, was Erwähnung findet bzw. was weggelassen wird, Rückschlüsse zu ziehen.
Im Abschnitt III erwidert Habermann meine Kritik, dass das Manifest zu sehr in der Vergangenheit gefangen bleibt, mit dem Hinweis auf ein Papier aus dem Jahr 1982. Ich bestreite keinen Moment, dass es wichtig ist, solch grundlegende Überlegungen auch heute zu bedenken. Nur hat sich zwischen 1982 und heute sehr viel ereignet: die Friedliche Revolution 1889/90, der (unzureichende) Auf- und Ausbau der EU, die radikal veränderten politischen Bedingungen im Bereich der ehemaligen Sowjetunion. Darum finde ich es schon erstaunlich, dass Habermann zwar auf ein Dokument aus dem Jahr 1982 Bezug genommen wird, aber wie im Manifest mit keinem Wort das „Budapester Memorandum“ von 1994 Erwähnung findet. Mit dem Abkommen verpflichteten sich Russland, die USA und Großbritannien in drei getrennten Erklärungen, die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine, Belarus und Kasachstans zu respektieren und auf jeglichen militärischen Zwang gegen die nun unabhängigen Staaten zu verzichten. Auch kann ich in dem Manifest nicht erkennen, dass die Autor:innen in irgendeiner Weise den radikalen Wandel Russlands zu einer imperialistischen Diktatur unter Putin reflektieren. Das ist für mich ein wesentlicher Grund, warum ich das Manifest auch nach den werbenden Einlassungen von Habermann nicht unterschreiben möchte.
Wenn ich Hochrüstung ablehne, muss ich mich auch dazu äußern, was an die Stelle treten soll. Da reicht mir nicht der Hinweis auf die europäische Friedensordnung. Ganz wesentlich ist der Punkt: dass wir gerade angesichts des Angriffskrieges Russlands hier und in den Ländern der EU alles dafür tun müssen, dass Demokratie, gleichberechtigte Teilhabe, Rechtsstaatlichkeit bei uns erhalten bleiben bzw. ausgebaut werden. Das beginnt damit, dass wir das Großmacht- bzw. Blockdenken aufgeben. Dieses missachtet kleinere Staaten und den Willen ihrer Bevölkerungen. Um eine europäische Friedensordnung herzustellen, sind nicht nur Gespräche mit Russland notwendig. Ebenso wichtig ist die gleichberechtigte Beteiligung der Bevölkerungen der baltischen Staaten und der Länder wie die Ukraine, Belarus, Georgien, Moldawien am Prozess einer neuen europäischen Friedensordnung. Das werde ich nicht müde zu betonen, um allen Anschein, als ginge es nur um Russland, zu vermeiden. Nein: Mit Russland wurde ja bis zum 24. Februar 2022 gesprochen. Genutzt hat es nichts. Angesichts dessen hinterlassen die nicht nur zwischen den Zeilen auftauchenden Argumentationen, als sei Russland durch den Westen quasi zur „militärischen Operation“ gezwungen worden, bei mir einen sehr schalen Nachgeschmack.
Für mich besteht nach wie vor ein großer Nachteil in dem Manifest darin, dass es auf die von mir am Schluss gestellte Frage, nicht nur keine Antwort hat, sondern diese Überlegung offensichtlich gar keine Rolle spielt: „Wie wollen wir als und in der EU und NATO das verteidigen, was Länder wie Russland, USA, Ungarn in ihrem Einflussbereich bekämpfen: freiheitliche Demokratie, gesellschaftliche Vielfalt, Rechtsstaatlichkeit?“ Und eine weitere Frage kommt hinzu: Was geschieht mit der Hochrüstung, wenn rechtsnationalistische Parteien die Regierungsmacht in Staaten erhalten, die die Hochrüstung einst mit der Begründung hochgezogen haben, die freiheitliche Demokratie zu verteidigen? Antworten auf diese Fragen zu finden, ist mE eine wesentliche Aufgabe sozialdemokratischer Friedenspolitik. Warum? Weil es auch darum geht, das unbedingte Primat des demokratisch Politischen vor dem Militärischen und Großmachtdenken zu bewahren.