Der Autor hat einen Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie inne. Studiert hat er Mathematik und auch Volkswirtschaftslehre. Entsprechend präzise ist seine Präsentation sicherheitspolitischer Kalküle in diesem Buch. Das Buch strahlt etwas aus von der Frische eines neu angeeigneten Gedankengangs; es überzeugt überdies durch die Konzentration, mit der ein Philosoph auf das Wesentliche zuspitzt, wenn sein Buch auf insgesamt lediglich 111 klassische Reclam-Seiten begrenzt ist. Dass ein Philosoph sich des sicherheitspolitischen Themas annimmt, besagt aber auch: Es geht auch um eine Kritik des fachlichen Verstandes, des militärischen Zugriffs. Der gehört in den Rahmen einer erweiterten Sicht, der der Vernunft, gestellt.
Inhaltlich geht um das Risiko eines Abrutschens bzw. Hocheskalierens des aktuellen Krieges in der Ukraine, der bislang allein mit konventionellen Waffen ausgetragen wird und zudem durch US-seits gesetzte rote Linien in der Reichweite des Einsatzes der gelieferten Waffen begrenzt ist. Er könnte in den Einsatz atomarer Waffen von russischer Seite hocheskaliert werden bzw. hätte es können. Das ist die doppelte Sorge, aus der heraus Müller sein Buch geschrieben hat.
Es beginnt mit den physikalischen Grundlagen und den Wirkungen eines großen Atomkriegs zwischen Russland und den USA, also mit strategischen Waffen. Müller geht dann zwei historische Fälle durch, wo es um ein Haar zum Abgleiten in einen unbeabsichtigten Einsatz gekommen wäre, d.i. einerseits die Kuba-Krise und andererseits der bekannte Fehlalarm in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1983. In jener Nacht trug Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow im Raketenfrühwarnsystem der russischen Atomstreitkräfte Serpuchow-15 die Verantwortung. Kurz nach Mitternacht Moskauer Zeit ploppten auf dem Kontrollbildschirm Satellitenaufzeichnungen von einem amerikanischen Raketenstart mit vermutlichem Kurs auf Moskau auf. Petrow ließ den Computer und die Satellitenaufzeichnungen überprüfen; man fand keine Fehler. Trotzdem meldete er gegen alle Vorgaben einen Fehlalarm. Wenig später zeigte der Computer vier weitere Raketenstarts – und wieder meldete Petrow einen Fehlalarm. Spätere Untersuchungen zeigten, dass es zu einer Kaskade von Fehlern gekommen war, rein technischer Natur. Petrow hatte recht, aber doch gegen die Vorschriften verstoßen. Vernunft hatte über den Verstand die Oberhoheit behalten. Petrow hat Müller sein Buch dankbar gewidmet.
Nach dieser Vorbereitung in drei Kapiteln geht es im vierten Kapitel zunächst um das Risiko eines versehentlich ausgelösten Einsatzes von Atomwaffen; und dann um den bewusst herbeigeführten Einsatz. Nach einer Betrachtung der offiziellen russischen Nukleardoktrin wendet sich Müller der Frage zu: Wäre es nicht wahrscheinlich gewesen, dass Russland bei einem sich abzeichnenden Erfolg der ukrainischen Offensive im Sommer 2023, welche die US-Militärs akribisch mitvorbereitet hatten, in der Not zum Einsatz taktischer nuklearer Sprengköpfe gegriffen hätte?
Zur Beantwortung greift Müller auf eine frühe Einschätzung von Herfried Münkler zurück, schon aus dem Mai 2022. Der hatte damals in einem Interview festgestellt:
„Man kann nicht ausschließen, dass nukleare Gefechtsfeldwaffen eingesetzt werden, etwa wenn große russische Einheiten eingeschlossen würden und deren Kapitulation für Putin als eine nicht hinnehmbare Niederlage erscheinen würde. Das ist denkbar.“
Die stark von Westen beeinflusste Planung einer Offensive des ukrainischen Militärs im Frühjahr des Jahres 2023 sah in der Tat den Einschluss russischer Einheiten vor. Es sollte im Süden gen Melitopol am Asowschen Meer vorgestoßen werden, um damit die weiter südwestlich befindlichen russischen Truppenteile abzuschneiden von ihrem Nachschub aus dem Osten. D.h. der Plan war ziemlich exakt der, der Münkler als Modellfall vor Augen stand.
Müller hatte, als er das Buch schrieb, noch eingeschränkte Kenntnis von der US-Beteiligung an der Vorbereitung der Offensive, die er denn auch irrtümlich als „Herbstoffensive“ bezeichnet. Er kennt noch nicht die Analyse der New York Times (NYT) über den Horizont, aus dem heraus die US-Militärs dieses Konzept vehement pushten; und er weiss auch noch nicht im Detail, weshalb der Plan scheiterte. Vor diesem Hintergrund ist es schon hellsichtig, wenn er das Beinahe-Drama so zusammenfasst:
„eine Reihe von Experten hat dem Plan einer solchen Einkesselung gute Aussichten auf Erfolg eingeräumt. Wer sich Sorgen um den Ausbruch eines Atomkriegs macht, wird noch im Nachhinein darüber erleichtert sein, dass der westlich-ukrainische Plan für die Gegenoffensive nicht aufgegangen ist.“
D.h. Müller diagnostiziert eine Situation analog dem sprichwörtlichen unbewussten Ritt über den unter einer Schneedecke verborgenen Bodensee mit unbekannten Status der Zugefrorenheit. Wie dünn die Eisdecke war, das hat ein Autorenteam der NYT am 30. März 2025 als Ergebnis einer einjährigen Recherche veröffentlicht. Seitdem können wir Dreierlei präzise wissen.
- Die Präferierung des Plans für eine ukrainische Gegenoffensive, die russischen Truppen durch einen Vorstoß gen Melitopol zu teilen und abzuschneiden, geht auf beteiligte westliche Generäle in Wiesbaden zurück. Politisch denkende Stellen in Washington griffen nur ein, wenn aus Aufklärungsergebnissen bekannt wurde, dass Russland den Einsatz von Atomwaffen erwog – so in der heißen Phase des russischen Rückzugs bei Cherson über den Dnjpr, der durch die Lieferung weitreichender Präzisionswaffen seitens der USA erzwungen wurde. Die Planung der ukrainischen 2023-Offensive begann bereits im Sommer 2022, das bevorzugte Szenario, Entlastungsangriff bei Bachmut und entschiedener Vorstoß von Saporischja aus südwestlich gen Melitopol, wurde von den Ukrainern unter Generalstabschef (damals noch) Saluschnyj und den Briten favorisiert, die US-Seite blieb zunächst unüberzeugt. Im Hinblick auf ein mögliches Eskalationsszenario des Gegners Russland blieb der Plan US-seits ungecheckt – man war am Sandkasten in Wiesbaden, wo der US-General Donahue die Rolle übernommen hatte, die russischen Truppen einzusetzen, schließlich naiv zufrieden mit einem Plan, bei dem die Ukraine gewinnen könnte, wenn sie denn ihre westlicherseits unterstützten neuen Ressourcen konzentriert einsetzen würden. Ob die russische Seite den „Gewinn“ militärisch akzeptieren würde, war jenseits dessen, was am Sandkasten bedacht wurde.
- Das militärische Überleben der ukrainischen Armee verdankt sich der Kombination der Lieferung von Präzisions-Lenkwaffen aus US-Beständen in Kombination mit der Zieldatenbereitstellung, auch zu beweglichen Zielen, durch das US-Militär, durch das sog. „Fusions Center“ in Wiesbaden. Über die entsprechende Fähigkeit verfügen die russischen Streitkräfte nicht, deswegen waren sie nicht in der Lage, die zentralen beweglichen Ziele des Gegners, „westliche Waffenlieferungen“, zu unterbinden. Die Eskalation je durch Lieferung von zunächst M777, dann der reichweitenstärkeren HIMARS, und schließlich von ATACMS muss in ihrer Blutzoll-Wirkung fürchterlich gewesen sein, HIMARS-Einsätze führten wöchentlich mit einem Schlag zu mehr als 100 gefallenen russischen Soldaten. Die Eskalation wurde gestoppt durch Knappheit. Bei den ATACMS kamen die USA alsbald in Konflikt mit dem Eigenbedarf. Und bei der Munition führte die Knappheit dazu, dass die Ukrainer die US-seits bereitgestellten Zielkoordinaten erst noch jeweils mit eigener Drohnenaufklärung bestätigten, bevor sie losschlugen. Das kostete Zeit und Schnelligkeit.
- Gescheitert ist die Sommer-Offensive 2023, die eigentlich Anfang Mai 2023 hätte beginnen sollen und somit eine Frühjahrsoffensive sein sollte, an Konflikten in der Koordination. Entscheidend war, dass Präsident Selenskyj politisch motivierte militärische Ziele verfolgte und dazu den damaligen Armee-Chef Syrsky unterstützte, während die Absprachen mit den US-Militärs in Wiesbaden über einen Kontaktmann liefen, der dem Oberkommandierenden Saluschnyj (getrennt vom Amt des Generalstabschefs) unterstellt war. Komplementär zu den prioritären Zielen ging es um die Allokation von Ressourcen zu den beiden Achsen, a) gen Bachmut unter Leitung von Syrsky und b) gen Melitopol unter General Tarnavskyj. Es kam zudem auf die Zeit an, denn die russischen Stellungen, die den Weg gen Melitopol schützten, waren durch den Winter beschädigt und wurden mit Frühlingsbeginn russischerseits mit Hochdruck restauriert. Der Plan war, die Offensive zu beginnen, bevor die russischen Verteidigungslinien samt Verminung wieder intakt waren. Doch dazu kam es nicht. Die ukrainische Seite entschied, zunächst auf weitere Lieferungen aus dem Westen zu warten. Ende Mai erst kam es zu der entscheidenden Sitzung der ukrainischen Militärführung (Stavka-Treffen). Präsident Selenskyj nutzte die Gespaltenheit seiner Top-Militärs und entschied, dass der Armee-Chef entgegen den prioritären Offensivpläne des Oberkommandierenden Saluschnyj, wie sie mit den US-Militärs abgestimmt waren, faktisch einen Großteil der Ressourcen erhielt. Die Ressourcen-Allokation wurde geändert, die Konzentration auf eine Vorstoß-Achse, gen Melitopol, wurde aufgegeben – ohne die US-Militärs ins Vertrauen zu ziehen. Aufgrund von Aufklärungsdaten sahen das die Amerikaner, es kam zu einem Krisentreffen zwischen den US-Top-Generälen Cavoli und Agusto einerseits und Saluschnyj andererseits. Das konnte aber zu nichts führen, da die Entscheidung auf ukrainischer Seite vom Präsidenten getroffen worden war. Das militärische Vorgehen gemäß dem neuen Plan ging schief, das Unternehmen, die Ukraine in die Offensive zu bringen, war damit gescheitert und blieb das auf Dauer. Die Gefahr eines Schlags Russlands mit taktischen Atomwaffen war damit gebannt – nicht aus strategischem Kalkül, sondern implizit unbewusst, aus taktischem Unverstand der westlichen Seite.
Im Ergebnis wird man resümieren müssen: Dieser Krieg ist westlicherseits nicht im Clausewitzschen Sinne als Mittel zu politischen Zwecken geführt worden. Das dürfte der Grund dafür sein, dass die zentrale strategische Frage, die nach der Eskalationsdominanz, unbedacht blieb. Der Krieg wurde auf US-Seite den Militärs überlassen, und die konzipierten ihn allein taktisch.
Der Westen hat es schon einmal besser gewusst. Man rufe sich in Erinnerung die Diskussionen, die auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2015 geführt wurden. Frau Merkel hatte dort, direkt aus Minsk kommend, eine Rede gehalten. In der Diskussion wurde ihr von republikanischen Abgeordneten aus Washington vorgehalten, die Ukraine nicht mit Waffen zu unterstützen. In ihrer Antwort verwies sie auf die gegebene militärische Eskalationsdominanz, die der Kreml in diesem Fall auf seiner Seite habe. Deswegen wären Waffenlieferungen an die Ukraine sehr problematisch und wenig erfolgversprechend. Ihre damalige, sehr präzise subjektiv formulierende Reaktion im Wortlaut:
„Ich glaube nicht, dass wir die ukrainische Armee so ausrüsten und ertüchtigen können, dass Putin davon überzeugt wird, er könne sie nicht besiegen.“
Das Argument der Eskalationsdominanz ist eines, wo wie beim Schachspiel der Konfliktaustrag vom Ende her durchkalkuliert wird. Das Argument der Bundeskanzlerin wurde damals, im Jahre 2015, sowohl von Ruprecht Polenz wie von Michael Thumann unterstützt. Beide wollen heute von ihrer damaligen Positionierung nichts mehr wissen. Auch Frau Merkel ist zu diesem ihrem zentralen Argument gleichsam fahnenflüchtig geworden – sie hat sich neuerdings dazu herabgelassen zu behaupten, die Funktion der Minsker Abkommen sei gewesen, der Ukraine eine Atempause zur Aufrüstung zu verschaffen; im Wortlaut, sehr vorsichtig:
„Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben, … Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“
– eine klare Geschichtsklitterung.
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Den Ritt „über den unter einer Schneedecke verborgenen Bodensee mit unbekannten Status der Zugefrorenheit“ können wir kühl betrachten. Schwerer ist cool zu bleiben, sobald wir an die Unverfrorenheit ideologisch erbitterter Politiker denken, vor dem Hintergrund immer kürzer werdender Reaktionszeiten. In sieben Minuten können ballistische Raketen des Iran Tel Aviv erreichen. Wahnvorstellungen von Präventivschlägen gedeihen mitten in Ängsten aus menschlichen Hoffnungen, wie „ich will noch länger als ein paar Minuten leben“.
Weltweit sind VBM (Vertrauensbildende Maßnahmen), eigentlich „Vertrauensbildende Menschen“, auf einem Tiefpunkt. Es geht nicht um widerstreitende, sondern um gemeinsame Interessen von Kontrahenten. Am besten gar nicht erst Kontrahent sein, das wäre der beste Weg zum globalen Wohlstand.