Der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff ist im Alter von 92 Jahren gestorben. In vielen regionalen und überregionalen Zeitungen wird derzeit über sein Leben und Werk berichtet. Wir schätzen uns glücklich, ihn persönlich kennengelernt zu haben. Am 14.4. erschien im Blog der Republik unser Artikel: Eine subjektive Annäherung an sein literarisches Werk und am 6.5. unser Text über Krieg und Nachkrieg im Werk von Dieter Wellershoff.
Mit dem folgenden Text zu den Autobiographischen Schriften Wellershoffs (Band 3 der 9bändigen Werkausgabe) möchten wir an ihn erinnern.
Dazu schreibt er: Die Annäherung meines Schreibens an den autobiographischen Text hat eine deutliche lebensgeschichtliche und literarische Eigenlogik, doch ich sehe diese Entwicklung eingebettet in eine literarische Gesamttendenz, die vermutlich etwas mit der zunehmenden Unglaubwürdigkeit der überpersönlichen Weltdeutungssysteme zu tun hat.
Zu allen Zeitpunkten seiner literarischen Tätigkeit hat Wellershoff über seine Arbeit reflektiert. Welches Genre er auch bedient – Hörspiel; Film; Essay; Roman; Novelle; Erzählung; Lyrik – er bearbeitet sie allesamt auf höchstem Niveau: Nicht nur, dass er sich mit den jeweils fortgeschrittensten Konzepten auseinandersetzt; meist entwickelt er in der Auseinandersetzung mit diesen eigene Ansätze, die er konsequent weiterführt.
Seine Selbstreflexion und Standortbestimmung hat Wellershoff in Form von größeren Texten vorgelegt, die unter dem Titel Die Arbeit des Lebens (1985) erschienen sind. Hierbei handelt es sich um sechs Abhandlungen, die mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Themenstellungen sein Leben beleuchten: die Kindheit in Zweiunddreißig Skizzen; Ein Allmachtstraum und sein Ende handelt von der Schulzeit im Krieg; Deutschland – ein Schwebezustand, eine seinen drei Kindern gewidmete Schrift, in denen es um Fragen der nationalen Identität, Politik und Zeitgeschichte geht; über seine Herkunftsfamilie und ihre weite Verzweigung erfährt man im Text Die Familie – eine Geisterbeschwörung; seine eigene Familie, die vielen Wohnungswechsel, die häuslichen Arbeitsbedingungen und sozialen Erfahrungen in wechselnden Umfeldern werden in Wohnungen, Umgebungen und auch im abschließenden Text Langeweile und unbestimmtes Warten behandelt.
Interessant hieran ist nicht nur die collageartige Formung einer Autobiographie in Einzelbetrachtungen, die in sich ein Ganzes ergeben, sondern auch die Mischung aus Chronologie und gegen die Chronologie angeordnete Gesichtspunkte der Reflexion. Die Texte sind zwischen 1978 und 1984 entstanden. Auf insgesamt etwa 200 Seiten gewährt der Autor Einblick in seine Herkunft und sein Leben, die schwierigen Lebensumstände und den steinigen Weg, sich als Schriftsteller zu behaupten; vor allem aber handelt es sich um zeitgeschichtliche und politische Reflexionen, die immer die individuelle Biographie überschreiten, obwohl sie in die Zeitgeschichte eingebettet ist.
In dem kürzeren Text Ein Gefühl von Überfluss resümiert er seine Erfahrungen in der Kölner Literaturszene und mit einer Generation von jüngeren Autoren, die im Unterschied zur älteren, der er angehört, die Moral des Mangels und der Not für überwunden und obsolet erklären und stattdessen in einer Aufbruchstimmung ihren Forderungen nach mehr Freiheit, Sinnlichkeit, Lust und Kreativität nachhängen. Wellershoff erklärt dieses Grundgefühl der 60er Jahre mit den stetig wachsenden Produktivkräften, die eine Gesellschaft des Überflusses versprachen, der man neue Lebensqualitäten abverlangen konnte. Diese Unruhe – in Köln und anderswo – hatte für Wellershoff etwas Karnevaleskes, in der das Leben ein wenig kostümiert erscheint; er spricht von einem Karneval der utopischen Phantasie, voller Happenings und Demonstrationen und aufgeregtem Palaver, die er von der schöpferischen Unruhe der folgenden Jahre unterscheidet.
Auch die als Buch (1990) erschienene Schrift Pan und die Engel, ist in diesem Band enthalten. Für uns das Köln-Buch schlechthin, voller archäologischer und kulturgeschichtlicher Informationen über die 2000 Jahre alte Stadt, voller feinsinniger Beobachtungen und Erfahrungen etwa bei Nachtspaziergängen – nur leider ohne die von Wellershoff angefertigten Zeichnungen, wie sie in der Buchform abgedruckt sind und ein wertvolles Anschauungsmaterial für die Texte bieten. Die Ansichten von Köln (so der Untertitel) erfassen neben den großen geschichtsträchtigen Gebäuden, Kirchen und Gedenkstätten auch Parks und Brücken oder die unterirdische Stadt – einmal profan mit ihren Abwasserkanälen und U-Bahnschächten, einmal archäologisch, wie bspw. in der titelgebenden Geschichte, die von einem eher zufälligen Fund von Bauarbeitern bei Grabungsarbeiten am Chlodwigplatz in den 60er Jahren erzählt:
Trotz Verbots wegen drohender Einsturzgefahr hatten die Amateurarchäologen heimlich weitergegraben. Monatelang waren sie Abend für Abend durch einen Schrank mit verschiebbarem Boden, der über ihrem geheimen Einstiegsschacht stand, in die Tiefe gestiegen und hatten das Erdreich unter dem Haus wie Bergleute mit Gängen und Schächten durchzogen. In einem Filmbericht und einer Ausstellung stellten sie nun das sensationelle Ergebnis ihrer Grabungen der Öffentlichkeit vor: skulptierte Quaderblöcke, Säulentrommeln, Kapitelle, Gesimse, Reliefs, Statuen – insgesamt über hundert Bauteile, die offenbar alle zu einem einzigen Denkmal gehörten. In mühsamer detektivischer Puzzlearbeit wurde daraus der 14,60 Meter hohe Bau des Pobliciusgrabmals rekonstruiert, der im Römisch-Germanischen Museum zu sehen ist und eines der bedeutendsten Denkmäler der römischen Provinzkultur darstellt. Den Autor interessiert dabei besonders das unterschiedliche Verhalten von Amateuren und Fachleuten: Amateurarchäologen haben es immer eilig … (Sie) verwandeln sich in rasende Maulwürfe, wenn sie erst einmal fündig geworden sind. Wenn es sich um Funde auf dem eigenen Grundstück handelt, steht den Entdeckern ja auch ein gewisser Anteil am Marktwert der Objekte zu. Aber die Leidenschaft wurzelt wohl in anderen Schichten. Sie entflammt nicht nur am Vorstellungsbild eines verborgenen Schatzes, sondern wird schon entzündet durch das Abenteuer der Schatzsuche selbst.
Im Unterschied dazu läßt sich die Professionalität der Fachleute an ihrer gebremsten Leidenschaft erkennen. Sie wird sicher nicht geringer sein, aber sie ist herunterdomestiziert worden zu vorsichtiger Behutsamkeit. Die archäologisch geschulten Ausgräber sind Zögerer, die sich gegen ihre Räson immer mehr zur Eile getrieben sehen, weil sich überall Bohrmaschinen und Bagger, die neue U-Bahntunnel und Tiefgaragen vorbereiten, durch den historischen Untergrund der Stadt fressen.
Geschichten wie diese und zudem aus der Warte profunden Wissens kommentiert, findet man ganz sicher in keinem anderen Buch zur Stadtgeschichte von Köln. In einem anderen Kapitel dieses Buches lässt Wellershoff den Leser an seinen Nachtspaziergängen in der Kölner Südstadt teilhaben:
Am späten Abend, manchmal auch nachts, wenn ich meine Arbeit an der Schreibmaschine beendet oder das Buch, in dem ich gelesen, zugeschlagen habe, mache ich meistens noch einen Rundgang durch die Kölner Südstadt. Ich muß mich nach dem stundenlangen Sitzen ein wenig bewegen, muß ausatmen, durchatmen (…) und vor allem muß ich mich von den Gedanken und Phantasien lösen, die mich den Tag über beschäftigt haben. Ich muß das imaginäre Szenarium verlassen und Verbindung aufnehmen zu der vertrauten Lebenswelt um mich herum.
Der Schriftsteller wechselt die Perspektive: aus dem Schreibenden, der versucht, seinen Phantasiegestalten zu entkommen, wird der Beobachter, der bereits wieder auf der Suche nach neuen Eindrücken ist und diese in sich aufnimmt. Die Außenwelt verlangt Einlaß mit ihren Reizen. Interessant ist, dass man auf diese Weise erfährt, wie er als Schriftsteller wahrnimmt, beobachtet, verarbeitet; überspitzt könnte man sagen: Der Schriftsteller ist immer bei seiner Arbeit; selbst dann, wenn er sich scheinbar von ihr erholt: Mit allen Sinnen nimmt er wahr; alles scheint ihm ein potentieller Gegenstand von Literatur zu sein. Völlig unangestrengt flaniert er durch sein Revier; lässt alles auf sich wirken; hält inne; sinniert und lässt aufs Neue seine Phantasie schweifen:
Das Viertel ist unschuldig an meinen Phantasien. Obwohl es mir manchmal Motive zuschiebt, die ich gebrauchen kann. Sobald ich irgendein Thema habe, macht mir das Viertel seine Vorschläge. Eine Romanfigur ist in einer schwierigen, bedrängten Lage, und ich sehe auf einem abendlichen Spaziergang auf einem Monitor einen Karatekampf, auf dem sich ein Mann gegen drei Angreifer zu behaupten sucht. Das ist das Bild, das mir fehlte. Genauso wie das große Reklamemesser in einer Eisenwarenhandlung, das langsam seine Gerätschaften aus- und einklappt, den Herzkrampf veranschaulicht, den ich gerade beschreiben will. Noch wichtiger sind eigentlich die unauffälligen Dinge: das Bild einer leeren Telefonzelle in der Nacht, das Flackerlicht einer defekten Straßenbeleuchtung, ein regennasser alter Baumstamm, Schneefall vor der Fassade eines Hauses auf der anderen Straßenseite, Menschen in der Straße, Vögel auf den Fernsehantennen und die plötzliche Erinnerung daran, dass ich bestimmte Personen lange nicht mehr gesehen habe.
Fragt man sich, woher Wellershoff seine Schreibideen nimmt, findet man hier die Antwort: Die Wirklichkeit selbst in all ihren Nuancen und Facetten ist ihm Material für sein Schreiben. Es ist sein zwingender Blick, der ihn Dinge so sehen lässt, dass sie sich seinem Schreiben offenbaren. In seiner Phantasie nehmen sie Gestalt an und der Schriftsteller kann an seinen Schreibtisch zurückkehren und sie in eine in eine literarische Form bannen.
Die Schrift Blick auf einen fernen Berg, in der Wellershoff die Krebserkrankung, therapeutische Behandlung und schließlich den Tod seines jüngeren Bruders beschreibt, haben wir übersprungen. Sie war uns Anfang der 90er Jahre eine wichtige Hilfe bei der Verarbeitung des Todes eines nahestehenden Menschen.
Dann etwas, das wir noch nie von Wellershoff gelesen hatten: Ein Reisebericht mit dem Titel Im Land des Alligators. Auf über 50 Seiten lässt er einen teilnehmen an einem zweimonatigen Aufenthalt in Florida (in Begleitung seiner Frau und seiner ältesten Tochter mit Mann) vor etwa zwanzig Jahren. Er war einer Einladung von Germanistik-Professoren am dortigen Goethe-Institut gefolgt und hatte an der Universität Gainesville/Florida wöchentlich Seminare und Vorlesungen vor einer informierten und interessierten Hörerschaft von Studenten abzuhalten. Doch viel mehr als von diesen Lehrveranstaltungen erfahren wir über des Autors Wahrnehmungen und Beobachtungen in einem fremden Land mit eigener Geschichte. Er hatte sich auf die Reise gut vorbereitet, um auf dieser Basis dann seine Erfahrungen zu machen und darüber zu reflektieren. Bisweilen holen ihn auch die Umstände ein, und die Recherche muss dann vor Ort erfolgen. So war es wohl mit dem Haus, das die Familie W. gemietet hatte und den wohlklingenden Name Sea Matanza trug, das auf spanisch Gemetzel heißt; es ist benannt, wie auch die umliegende Region, nach der Abschlachtung von Hunderten von schiffbrüchigen französischen Soldaten durch die Spanier im 16. Jahrhundert. Auch erfahren wir beispielsweise von der leidvollen Geschichte griechischer Immigranten Anfang des 20. Jahrhunderts und dem traurigen Lied griechischer Bauernmädchen, die von den jungen männlichen Landsleuten in die fremde, ferne Welt gelockt wurden und oft genug dann sich selbst überlassen waren. Ihnen blieb oft nur der Weg in die Prostitution.
Naturschilderungen von Küstenlandschaften wechseln sich ab mit sozialen Beobachtungen wie zum Beispiel die über die unmäßigen Essgewohnheiten der US-amerikanischen Mittelklasse und daraus resultierender Fettleibigkeit. Anlässlich eines Ausflugs nach Jacksonville, den DW in Begleitung eines einheimischen Professors unternimmt, wird beispielhaft die soziale Spaltung von Orten sichtbar: hier die Viertel und Straßenzüge der wohlhabenden, weißen Mittelklasse – dort die Kehrseite des Reichtums in Gestalt der völlig heruntergekommenen, verwahrlosten Bezirke, Straßen und Häuser der armen, schwarzen Unterklassen-Bevölkerung.
DW macht diesen Erfahrungsbericht mit vielen Detailschilderungen höchst anschaulich. Und natürlich sind auch die titelgebenden Alligatoren Objekt seiner Betrachtungen – ihre Verbreitung in den Sumpfgebieten, die Unterarten usw.
Dass der Autor auch Jazzfan ist, erfährt man im kleinen Text über das Knistern der alten Platten (von 1992), wie überhaupt die Bedeutung von Musik des öfteren in diesem Band Erwähnung findet (s. Moments musicaux – Ansichten zur Musik).
War man gerade mit Wellershoff in Florida, so geht es weiter mit ihm auf die Reise: Zum Beispiel Juist (1993). Auf knapp 30 Seiten erfährt man erst einmal Fundiertes über die Geologie und weiß dank dieser Betrachtungen dann, wie und wann die ostfriesischen Inseln entstanden sind. Es folgen Schilderungen von täglich mit seiner Frau unternommenen, stundenlangen Strandwanderungen und die dabei beobachtete Vielfalt von Flora und Fauna, immer wieder untermalt mit geologischen Informationen etwa über die grauen und weißen Dünen, die permanente „Arbeit“ des Wassers, das Auf- und Abtragen von Sand etc. Auch vom typischen Exkursionsverhalten der Inselbesucher ist die Rede: erst wird der Nahbereich erschlossen, und dann wagt man sich immer weiter hinaus, nicht ohne die Gefahr der Gezeitenfolge aus den Augen zu verlieren. Einen Reiz von Juist macht das strikte PKW-Verbot aus, das auch für die Bewohner gilt; stattdessen fahren Planwagen und Kutschen mit Pferdegespannen über die schmalen Inselwege. Und es ist bezeichnend, dass sich der Autor an ein bestimmtes Geklapper der Hufe erfreuen kann, wenn die Pferde die Schrittart wechseln und nicht sogleich wieder völlig synchron laufen.
Immer wieder ist bei Wellershoff die Geschichte des eigenen Schreibens und die Reflexion darauf Thema, so auch in dem Text Der Flug der Taube vom 1995. Er beginnt mit einer an ihn gerichteten Frage, die da lautet: Welche Impulse aus der deutschen Nachkriegsliteratur waren für Ihr Schreiben wichtig? Sie brachte ihn in eine gewisse Verlegenheit, denn es gab keine Einflüsse im Sinne von Vorbildern. Um sich auf die Spurensuche nach Impulsen zu begeben, unternimmt Wellershoff einen autobiographischen Streifzug, einsetzend mit der Situation als junger Mann, der nur durch Zufall (lebensgefährlich verwundet) den Krieg überlebt hatte; seinem Bildungsweg in der Nachkriegszeit; seinen literarischen und philosophischen Bildungserlebnissen, seiner Vorliebe für die Existenzphilosophie, in der viele Kriegsheimkehrer ihre existentielle Lage beschrieben fanden. Seiner Entdeckung der Psychoanalyse, woraus er entscheidende Anregungen für sein zu entwickelndes literarisches Menschenbild schöpfte. Der Impuls, der von Conrads Gestaltanalyse oder Sartres Roman Der Ekel ausging – bis hin zu den Auseinandersetzungen über Sinn und Zweck von Literatur als oder mit sozialer Funktion oder als l’art pour l’art.
Wellershoff beschreibt den Prozess der literarischen Selbstfindung in der Auseinandersetzung mit diversen Autoren, Ansätzen oder Positionen, von denen ihn die wenigsten überzeugen konnten. Er vermittelt, wie er nach ersten Schreibversuchen in die Hörspielsparte vorstieß und gleich mit dem dritten Stück Der Minotaurus den Hörspielpreis der Kriegsblinden gewann. Er entdeckt das Hörspiel als literarisches Medium für sich. Danach wurde das Hörspiel für längere Zeit mein literarisches Übungsfeld. Es hatte den Vorzug, eine offene Form zu sein, in der man monologisch, dialogisch, erzählerisch und auch collageartig vorgehen konnte. Alles habe ich in wechselnden Konstellationen erprobt.
Darüber hinaus berichtet Wellershoff, wie er über seine spätere Tätigkeit als Lektor im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch eine Gruppe jüngerer Autoren mit einem originären Realismus-Konzept zu verbinden versuchte, das ein programmatisches Profil gerade auch fürs eigenen Schreiben aufwies:
Gegen symbolische Überhöhung und abstrakte Wortmodelle setzte ich den individuellen Erfahrungsausschnitt. Gegen freies Phantasieren, das sich von der Realität oder der Erfahrung löst, um es einfach zu überfliegen, setzte ich die Vorstellungskraft als das Vermögen, ausgehend von eigenen Erfahrungen, sich fremde Situationen zu erschließen. Gegen die abstrakte Beweglichkeit von der Erfahrung abgelöster Sprachspiele, setzte ich auf die Sprachbewegung, die aus der Entfaltung und Differenzierung von Wahrnehmungs- und Vorstellungsprozessen entsteht. Ich unterschied das Konzept aber auch deutlich von einem naiven vorkritischen Realismusbegriff, der Realität als das Gegebene voraussetzt, das man nur genau darzustellen habe, und hielt dagegen, Wirklichkeit sei intensiv und extensiv unausschöpfbar und deshalb tendenziell das Unbekannte, das von den Ruinen des vermeintlichen Bescheidwissens vereinfacht und verstellt werde. Realistisch zu schreiben war deshalb in meinem Verständnis ein unendliches Projekt, das damit begann, die gewohnten Schemata der Wahrnehmung zu modifizieren oder zu durchbrechen.
Es folgt für Wellershoff die schwierige Phase, in der er neben dem Lektorat in den übrigbleibenden Zeitlücken seine ersten Romane schreibt, das Dilemma, ständig zwischen fremden und eigenen Texten hin und her lavieren zu müssen, das sich später dann ganz hin zur Schriftstellerei als freier Existenzform auflöst.
Die Frage nach den Einflüssen und Umständen, die einen schriftstellerischen Lebensweg bestimmt haben, greift Wellershoff am Ende des Textes noch einmal auf. Sie werde wohl deshalb so häufig gestellt, weil Schriftsteller im Unterschied zu Künstlern und Musikern, die ihr Handwerk auf einer Akademie oder Hochschule bei selbstgewählten Lehrern lernen, in der Regel … Autodidakten sind. Man kennt ihre Schuladresse nicht und steht deshalb vor den verborgenen und geheimnisvollen Prozessen der Individuation. Das Geheimnisvollste ist wohl der Anfang, wenn alles noch so oder anders sich entwickeln oder auch vereitelt werden kann. Am Anfang ist alles noch bloße Möglichkeit, heimlicher Traum und Größenwahn. Später kommen die Herausforderungen, die wechselnden Umstände und die Widerstände. Doch in einem leeren Raum könnte sich auch eine starke Begabung, was immer das sein mag, nicht finden und entwickeln.
Sodann vergleicht Wellershoff die Situation des Schriftstellers mit dem Bild von der Leichten Taube aus Kants Kritik der reinen Vernunft, die im freien Flug den Widerstand der Luft fühlt und sich dabei vorstellen könnte, dass es ihr im luftleeren Raum noch besser gelänge zu fliegen. Tatsächlich aber könnte sie sich nicht vom Boden erheben.
Mit der Abhandlung Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges aus dem Jahr 1995 schließt der 3. Band der Werkausgabe ab. Was Dieter Wellershoff hier vorlegt, ist ein groß angelegtes Erinnerungswerk, ein autobiographischer Erlebnisbericht aus der Perspektive der individuellen Erfahrung als junger Mann, einer Erfahrung, die eingebettet ist in das unmittelbare menschliche Umfeld der Gruppenmitglieder, Vorgesetzten, Mitkämpfer, Kumpanen und Freunde, von denen die meisten ihr Leben hingeben mussten – insofern holt die individuelle Erfahrung hier auch die kollektive ein. Aber das Buch ist mehr als ein Erlebnisbericht aus der Erinnerung: in Form und Stil wechselt die Erlebnisschilderung mit kriegsgeschichtlichen und militärstrategischen Erläuterungen, Einschätzungen, Beurteilungen aus der Jetzt-Perspektive. Beides – die subjektiv-individuelle Innenansicht als Mentalitätsgeschichte und der objektivierende, sachlich und fachlich gestützte Lagebericht – machen aus dem Werk ein Sachbuch der besonderen Art: Man ist ganz nahe dran am grausamen Geschehen im Kriegsalltag und erhält gleichzeitig eine Fülle an Informationen wie bspw. solche über kriegsstrategische Entscheidungen führender Militärs und NS-Politiker, die zu einem Massensterben von gigantischem Ausmaß geführt haben.
Dieter Wellershoff hat ein großes, reichhaltiges Werk hinterlassen, in welchem die Autobiographischen Schriften wichtige Hinweise zu seiner Entstehung und Deutung geben. Wir verneigen uns vor diesem Werk, das mit dem Tod seines Autors den endgültigen Abschluss gefunden hat.
Bildquelle: Wikipedia, Bodow, CC BY-SA 4.0