Vor 20 Jahren hat das „Karfreitagsabkommen“ den gewaltsamen Konflikt in Nordirland befriedet. Seither schweigen die Waffen. Der Jahrhunderte alte Streit zwischen Unionisten und Nationalisten, zwischen den pro-britischen Protestanten und den pro-irischen Katholiken, schwelt zwar weiter, doch wird er nicht mehr mit Bomben, Brandsätzen und Gewehren ausgetragen. Der diplomatische Durchbruch vom 10. April 1998 hat einem schwierigen und langwierigen Friedensprozess den Weg gebahnt. Nun droht der „Brexit“ das historische Abkommen zu Fall zu bringen.
Nicht einmal mehr ein Jahr soll die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union währen. Der in einem Referendum von einer knappen Mehrheit der britischen Wählerinnen und Wähler befürwortete Austritt wird formal Ende März 2019 vollzogen. Intensiv verhandeln die EU-Kommission in Brüssel und die Regierung von Premierministerin Theresa May Übergangsregelungen für die erste Zeit danach, für Handel und Dienstleistungen, Arbeitnehmer und Warenverkehr. Nur: Was aus Nordirland und dem Karfreitagsabkommen werden wird, vermag niemand zu sagen. Die gemeinsame Mitgliedschaft von Großbritannien und Irland in der Europäischen Union bildet eine entscheidende Säule des Vertrags.
Er enthält ein britisch-irisches Abkommen und eine Übereinkunft der zerstrittenen nordirischen Parteien, die sich darin zur Bildung einer gemeinsamen Regierung bekennen. Es hat acht Jahre gebraucht, bis es dazu tatsächlich kam, und zurzeit zieht sich eine neue Regierungsbildung quälend lange hin. Doch einige Fortschritte auf dem Weg zur Versöhnung sind gemacht, die Aufarbeitung der Vergangenheit hat begonnen.
Während der 30 blutigen Bürgerkriegsjahre starben mehr als 3600 Menschen durch politisch motivierte Gewalt, 47.000 wurden verletzt, fast 5000 vertrieben. 500.000 Menschen der insgesamt 1,6 Millionen Einwohner von Nordirland erlitten psychische Verwundungen. Welch einen Segen es nach den Jahrzehnten eines Lebens in Angst und Schrecken bedeutet, dass erstmals eine Generation ohne Gewalt heranwachsen konnte, ist praktisch unermesslich.
Das soll die anhaltenden Konflikte nicht kleinreden. Die politischen Parteien auf beiden Seiten radikalisierten sich, ihre jeweiligen paramilitärischen Verbände wurden offiziell entwaffnet, hinterließen aber kriminelle Banden, die sich bereichern, die Bevölkerung terrorisieren und schmutzige Geschäfte machen. Natürlich war mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens nicht alles gut in Nordirland. Doch der Vertrag wies den Konfliktparteien den Weg und zog auch die entsprechenden Leitplanken ein.
Mit dem Brexit droht der Rückfall. Die 500 Kilometer lange Grenze zwischen der Republik Irland und der britischen Provinz Nordirland wird zur Außengrenze der EU. Wachtürme und Stacheldraht werden wieder trennen, was sich gerade erst mühsam annähert. Die Sonderregelung, nach der die Bewohner von Nordirland zwischen dem britischen und dem irischen Pass wählen, oder sich auch für eine doppelte Staatsbürgerschaft entscheiden können, steht zur Disposition. Die Regierung in London legt in die Passfrage hohen Symbolgehalt, wie die Rückkehr vom roten europäischen zum vormals blauen Dokument bezeugt.
Völlig ungeklärt ist auch, wie London und Dublin die Gemeinsamkeit praktizieren werden, zu der sie sich als Garantiemächte für Nordirland verpflichtet haben. Seit einem Jahr stockt die Regierungsbildung, so als versetze die ungewisse Zukunft Belfast schon jetzt in eine Schockstarre. Der Brexit richtet viel Schaden an, für Nordirland droht er nach 20 hoffnungsvollen Jahren zu einer neuen Tragödie zu werden.
Die IRA sollte jetzt mal offenlegen, welche ehemals lebenden Menschen sie finanziel unterstützt haben. Möglicherweise werden dann Todesfälle durch Mord oder Unfall erklärbarer. Da könnte der Brexit dann eher nebensächlich werden…