In diesen Tagen an denen sich die Öffnung der Berliner Mauer zum dreißigsten Mal jährt, kann man Berichten, Reportagen, Filmen oder Dokumentationen über dieses historische Ereignis kaum ausweichen. Viele Kommentatoren würdigen dieses Jubiläum, jede Zeitung will uns diesen Tag auf unterschiedliche Weise in Erinnerung rufen. Ich erlebte diesen Tag, an dem einige Schlagbäume an der Berliner Mauer geöffnet wurden, in Ost- Berlin und in Leipzig, meine Erfahrungen vor Ort weichen deutlich von vielen der aktuellen, meist euphorischen Schilderungen des Geschehens ab.
Ich war am 9. November, einem Donnerstag, in meiner damaligen Funktion als Sprecher der Landesregierung und als Mitglied einer NRW-Regierungsdelegation Teilnehmer eines protokollarischen Zusammentreffens des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau mit dem wenige Wochen zuvor zum Vorsitzenden des Staatsrats aufgerückten Egon Krenz in dessen Amtssitz im Staatsratsgebäude auf der Berliner Spreeinsel.
Das Land Nordrhein-Westfalen hatte in Leipzig eine Kunstausstellung unter dem – nachträglich betrachtet – geradezu seherischen Titel „Zeitzeichen“ zusammengestellt mit „Stationen Bildender Kunst in Nordrhein-Westfalen“. (Vgl. den Katalog, Hrsg. Landesregierung NRW, DuMont Buchverlag, 1989) Diese Ausstellung bot eine vielfältige Darstellung der Bildenden Kunst seit Gründung des von der britischen Besatzungsmacht zusammengefügten „Bindestrichlandes“ Nordrhein-Westfalen im Jahre 1946. Die Zusammenstellung von nahezu 200 Werken erfasste Malerei und Skulpturen bis hin zu Aspekten der Fotografie und der Videokunst. Die Präsentation der zeitgenössischen Künstler reichte von Carl Andreas Abel über Joseph Beuys, Jörg Immendorff, Markus Lüpertz, Gerhard Marcks, Ewald Mataré, Georg Meistermann, Ernst Wilhelm Nay, Sigmar Polke, Gerhard Richter, Ulrich Rückriem, Emil Schumacher, Hann Trier, Günther Uecker, Wolf Vostell bis Erwin Wortelkamp, um nur einige wenige zu nennen. Das Projekt war einerseits gedacht als ein Beitrag des Landes Nordrhein-Westfalen zum vierzigjährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1989 und andererseits war die Sammlung auch zusammengestellt für Besucher in der DDR und angepasst an die Räumlichkeiten des „Museums der bildenden Künste“ und der benachbarten „Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst“ in Leipzig. Um diese Ausstellung gab es ein längeres politisches Tauziehen. Der im Oktober 1989 vom SED-Politbüro zum Rücktritt gezwungene Erich Honecker hatte schon ausgeladen und erst sein Nachfolger als Staatsratsvorsitzender, Egon Krenz, hatte letztendlich zugestimmt. Für die NRW-Landesregierung war das Leipziger Projekt eine Antwort auf eine Ausstellung der Kunst in der DDR, die 1987 im Rahmen der „Duisburger Akzente“ vorgestellt wurde.
Wie damals üblich war eine solche Darbietung westdeutschen Kulturschaffens in Ostdeutschland natürlich nicht ohne die Zustimmung von oberster Stelle möglich. Also gehörte es zur protokollarischen Pflicht, dass vor der Eröffnung dieser Ausstellung der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rau dem damaligen DDR-Staatsoberhaupt Egon Krenz seine Aufwartung zu machen hatte. Das Gespräch fand um die Mittagszeit herum statt.
Es fand das übliche diplomatische Ritual statt: Man tauschte förmlich Höflichkeiten aus. Rau sprach über Wegmarken des kulturellen Austauschs zwischen der DDR und NRW und darüber, dass Kultur Menschen verbinde und dankte Krenz dafür, dass diese Ausstellung möglich wurde. Rau sprach darüber hinaus das damals in der Volkskammer diskutierte „Reisegesetz“ an. Es gab ja eine Großdemonstration auf dem Alexanderplatz am vorausgegangenen Samstag und es gab die kritische Situation in der damaligen Tschechoslowakei, weil seit dem Sommer 1989 viele DDR-Bürger auf dem Gelände der (west-)deutschen Botschaft in Prag diplomatischen Schutz suchten. Wenige Wochen zuvor hatte Außenminister Hans-Dietrich Genscher tausenden auf dem Gelände Ausharrenden vom Balkon der Botschaft ihrer „Ausreise“ verkündet. Der Staatsratsvorsitzende verlor keine Silbe zu diesen Themen. Ein auffallend teilnahmsloser, ja abwesend wirkender und versteinert grinsender Egon Krenz gab nur Förmliches von sich. Wir dachten das läge daran, dass zeitgleich das Zentralkomitee der SED tagte und seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet war. Am Schluss der kurzen Unterredung übergab Rau – wie immer bei derartigen Zusammentreffen – einen Brief, in dem darum gebeten wurde, dass etwa bei Schicksalsschlägen einzelner Menschen, die durch die Teilung des Landes verursacht waren, oder in ähnlichen Fällen „humanitäre Hilfe“ gewährt würde.
Unser fester Eindruck war, dass Egon Krenz zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, ja dass ihm nicht einmal schwante, was sich einige Stunden später an einigen Grenzübergängen an der Berliner Mauer abspielen würde. Auch neugierige Menschen, die sich angesichts der westdeutschen Wagenkolonne vor dem Sitz des Staatsrats versammelt hatten, erahnten nichts. Einer der dort Herumstehenden eilte bei der Verabschiedung vor dem Gebäude auf Rau zu und wollte ihm offenbar ein Schriftstück übergeben. Bevor es dazu kam, wurde er von zivilen Sicherheitskräften aufgegriffen und abgeführt. Rau redete über diese Festnahme auf Krenz ein und forderte, „den Mann“ wieder „laufen“ zu lassen. Die Situation war plötzlich spannungsgeladen. Rau machte keine Anstalten in sein Fahrzeug zu steigen. Nach einer kleinen Ewigkeit der Unsicherheit, ließen die Sicherheitskräfte wie auf ein geheimes Kommando den Mann wieder los, der sich sofort unter die Menge mischen und (hoffentlich) untertauchen konnte.
Nach diesem protokollarischen Pflichttermin in Ost-Berlin fuhr ich in einem Bus mit einer Delegation nordrhein-westfälischer Journalisten weiter nach Leipzig zur Eröffnungsfeier der Ausstellung „Zeitzeichen“. Ich versuchte auf der Fahrt den Redakteuren das Zusammentreffen zwischen Rau und Krenz zu „verkaufen“, was schwer fiel, weil eigentlich nicht viel zu berichten war. So legte ich den Schwerpunkt auf die vorübergehende Festnahme des Petenten vor dem Staatsratsgebäude und dessen Freilassung aufgrund der Intervention des Ministerpräsidenten. Während der Fahrt habe ich dann noch vorgetragen, was ich mir aus dem Katalog für die Ausstellung notiert hatte. Kurz vor Leipzig hörten wir im Radio des Busses noch Nachrichten und es gab einen Originalton des drei Tage zuvor ernannten Sekretärs des Zentralkomitees für das Informationswesen, Günter Schabowski. Wir hörten die später als Weltdokumentenerbe bekannt gewordenen verschwurbelten Sätze, schnappten etwas von „Privatreisen“ aus der DDR ins Ausland auf, hörten auch etwas über „Grenzübergangsstellen“ der DDR in die BRD und nach West-Berlin. Aber die Neuigkeit wurde wieder relativiert, weil, wie es hieß, „Genehmigungen“ erteilt werden müssten – und unter welchen Voraussetzung eine solche Erlaubnis gegeben würde, das blieb – wie die Erfahrungen in der Vergangenheit zeigten – eine offene Frage.
Selbst Journalisten, die sonst den Neuigkeitswert einer Nachricht rasch erkennen und die eine Meldung auch zuspitzen können, haben nicht wahrgenommen, um was es bei dieser Pressekonferenz wirklich ging. Dass die Ausreiseregelung „sofort, unverzüglich“ in Kraft treten sollte – wie sich der als Pressesprecher wohl noch ungeübte Schabowski offenkundig auf der Pressekonferenz verplapperte -, haben wir nicht mehr mitbekommen. Was inzwischen die Nachrichtenagenturen über die Grenzöffnung meldeten, erfuhren wir erst viel später. Damals gab es eben noch keine Mobiltelefone und keine Newsfeeds.
Die Strecke von der Autobahnausfahrt in die Leipziger Innenstadt zog sich hin. Unser Bus kam verspätet zur Ausstellungseröffnung an der Oper an. Die Delegation schlich nach einer Eingangsmusik der „Cappella Coloniensis“ gegen Ende der Begrüßungsrede eines Leipziger Kulturverantwortlichen in den Zuschauerraum auf die reservierten Plätze. Nach dem Gastgeber redete Ministerpräsident Rau. Das Übliche: Von den Brücken, die die Kultur bauen könne, von der Kunst als grenzübergreifende Kraft, Raus Stehsatz „Kultur ist nicht die Sahne auf dem Kuchen, sondern die Hefe im Teig“ durfte auch nicht fehlen. Was man halt bei solchen Anlässen an freundlichen Worten des Dankes so sagt. Er rühmte gebührend das Kunst- und Kulturland NRW.
Nach einigen Minuten ging unser Protokollchef auf das Rednerpult zu und steckte Rau einen kleinen Zettel zu. Der Ministerpräsident redete zögernd weiter während er las und hielt dann inne. Er machte eine auffallend lange Pause. Der sonst so wortgewandte Rau, wusste offenbar nicht mehr, was er sagen sollte. Zehn Jahre später als Bundespräsident erinnerte er sich so: „Ich wusste nicht, was das hieß. Ich wusste nicht: Soll ich die Rede zu Ende halten, soll ich sie kürzen, soll ich das vorlesen?“ http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/1999/11/19991109_Rede.html Nach spannungsvoll langem Schweigen sagte er sinngemäß: Ein Mitarbeiter hat mir soeben einen Zettel vorgelegt, darauf steht: „Die Mauer ist auf.“ Es entstand ziemliche Unruhe im Saal. Rau sagte, nach dieser Nachricht könne er wohl sein Manuskript zur Seite legen. Es sei wohl das Interesse aller Anwesenden, wenn er jetzt nicht länger reden würde, er sei sicher, dass alle sich selbst ein Bild darüber verschaffen wollten, was denn eigentlich geschehen sei.
Es war zwar noch ein Büfett im Foyer der Oper aufgebaut, die Leute griffen rasch und kräftig zu, nach wenigen Minuten war der Raum geleert – und die aufgelegten Häppchen waren weg.
Zusammen mit den begleitenden Journalisten fuhren wir rasch ins Hotel Merkur – wie das Leipziger Nobelhotel für ausländische Gäste zu DDR-Zeiten hieß. Die Lobby war überfüllt mit Menschen. Alle Blicke richteten sich auf die wenigen Fernseher, auf denen Westsender liefen. Rau sprach 10 Jahre später über diese Situation: „Ich komme auch heute noch nicht aus dem Staunen über die Menschen in Leipzig damals heraus, die einen umarmten, die weinten, die fragten, was das heißt und wohin das führt.“ http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/1999/11/19991109_Rede.html
Ich erlebte die Stimmung als aufgeregt, eher unsicher, nervös und ungläubig, als dass Begeisterung ausbrach.
Nach kurzer Zeit ging Rau auf sein Hotelzimmer. Ich suchte ihn dort auf, um zu fragen, ob er zu den Ereignissen etwas öffentlich erklären wolle. Er saß gebannt vor dem Fernseher. Er hatte meine Frage gar nicht wahrgenommen. Ich konnte auch nicht weiter nachbohren, denn er griff zu Telefonbuch und Telefonhörer und telefonierte und telefonierte. Ich zog nach geraumer Zeit ohne Antwort wieder ab. Im Nachhinein sagte er, es sei „ein Tag heller Freude“ gewesen, der zeige, dass uns Deutschen angesichts der Erinnerungen an den 9. November 1938 mit der Reichspogromnacht „Geschichte auch gelingen kann“. Ich musste die im Foyer wartenden Journalisten abblocken und es fiel schwer zu begründen, dass an diesem Abend von Rau „nichts verlautbart“ würde. Als Begründung nannte ich: Der Ministerpräsident sei in ständigem telefonischen Kontakt mit vielen Politikern und auch mit ihm bekannten Kirchenleuten aus der DDR – auch mit Hans Modrow von der Bezirksleitung der SED in Dresden hatte er telefoniert, wie ich mitbekommen habe.
Auch die meisten Ostdeutschen, die sich in der Empfangshalle des Hotels vor dem Fernseher angesammelt hatten, waren in Sorge, ob die Einsatzkräfte der Volks- und Grenzpolizei still halten würden.
Auch weil ich keine Lust hatte, die ständigen Nachfragen der mitgereisten Presseleute nach einem Interview mit Rau über mich ergehen lassen zu müssen, habe ich heimlich das Hotel verlassen und bin allein zu Fuß ziemlich ziellos durch die Leipziger Innenstadt gegangen. Es waren viele Menschen auf den Straßen. Die Nachrichten aus Berlin waren angekommen. Ich versuchte Leute anzusprechen. Da man leicht ausmachen konnte, dass ich – mit Anzug und Krawatte – erkennbar ein „Offizieller“ war, ist das zunächst gar nicht so leicht gewesen, in ein Gespräch zu kommen. Auf den Straßen Leipzigs war, anders als zur gleichen Zeit die Bilder an der Berliner Mauer zeigten, nichts von überschwänglicher Freude oder gar von Sektlaune zu verspüren. Die Leute wirkten eher ungläubig, irritiert, ja sogar ängstlich. Nach mehreren Angängen kam ich schließlich mit einer Gruppe von Leuten ins Gespräch, die, wie sich herausstellte, offenbar an den vorausgegangenen Montagsdemonstrationen teilgenommen hatten. Sie schienen glücklich und auch ein wenig stolz, aber sie waren sehr unsicher, ja sogar in Sorge darüber, was morgen sein und wie es nun weiter gehen würde. Ich bin mit ihnen weiter durch die Straßen gegangen – ohne Ziel, man wollte offenbar nur mit anderen zusammen sein. Einige sagten, dass ihre Kinder nach Berlin unterwegs seien. Sie konnten es einfach nicht glauben, dass man einfach so nach West-Berlin „rüber machen“ konnte.
Sie zeigten mir das Gebäude, in dem die Stasi untergebracht war. Davor gab es einige Rufe, wie etwa „Stasi raus“ oder Ähnliches. Es kam aber nicht zum Sturm auf das Gebäude. Es wurden auch keine Parolen skandiert. Den Slogan „Wir sind das Volk“ habe ich nicht gehört. Immer wieder fragte ich meinerseits Umstehende danach, welche Vorstellungen sie hätten, wie es denn nun weiter gehen könne und solle. Niemand wollte oder konnte eine Antwort geben. Von Einheit oder einer Vereinigung Deutschlands hat jedenfalls kein einziger meiner Gesprächspartner gesprochen, eher von der Abschaffung der Stasi, vom Sturz der „Parteibonzen“, vom Niederreißen der Grenzanlagen, von „in den Westen reisen können“ – nach Amsterdam, nach Paris, einer wollte sogar nach Bonn. Aber ständig spürte man die Sorge heraus, dass das, was da in Berlin abläuft, doch nur ein flüchtiger Traum sein könnte und dass schon morgen die Machthaber wieder zurückschlagen könnten. Die Hoffnungen auf „den Westen“ hielten sich in Grenzen.
Mitten in der Nacht ging ich auf mein Hotelzimmer und schaute noch lange auf die sich ständig wiederholenden Bilder in der Glotze. Ich konnte die Situation nicht einordnen und hatte kein Gefühl, was nun kommen würde. Eine merkwürdige Leere machte sich breit, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich Zeitzeuge eines historischen Ereignisses geworden bin.
Nach meinem Eindruck war ich gerade eingeschlafen, als das Telefon klingelte. Das Presseamt aus Düsseldorf rief an. Es gab Interviewanfragen an Johannes Rau en masse. Nur wenigen konnte er nachkommen.
Relativ früh am Morgen fuhr ich im Bus mit der Journalistendelegation von Leipzig wieder in Richtung Berlin. Kurz vor der Autobahnauffahrt stellte ich zu meinem Erschrecken fest, dass ich meinen im Hotel abzugebenden Pass vergessen hatte. Ohne Pass in der DDR, das konnte kompliziert werden, also bat ich den Busfahrer anzuhalten und mich aussteigen zu lassen. Ich wusste, dass Rau und Begleitung erst später losfuhren. Mir war bekannt, dass Mitfahren per Anhalter in der DDR eigentlich verboten war. Es war sehr wenig Verkehr. Irgendwann hielt ein Trabi. Ein Volkspolizist nahm mich mit. Wir sprachen darüber, was in der vorausgegangenen Nacht geschehen war. Er redete sehr unsicher, betonte, dass er stets nur seinen beruflichen Pflichten nachgekommen sei und dass er nie an der Grenze eingesetzt gewesen sei. Er brachte mich zum Hotel. Ich gab ihm 20 Mark. Er nahm zögernd aber dankend an.
Wenig später startete die Wagenkolonne der offiziellen Delegation nach Berlin. Nach wie vor rasend mit Blaulicht durch die Stadt, Straßenbahninseln als Überholspur nehmend und mit einem Höllentempo über die Autobahn – alles wie früher.
Rau hatte schon vor der Reise noch in der Nähe der Invalidenstraße einen privaten Termin mit kirchlich gebunden Leuten vereinbart. Wir erreichten ein ziemlich vergammeltes Haus irgendwo im nördlichen Ost-Berlin. Im Souterrain war ein kleiner Versammlungsraum mit Sitzkissen und Holzstühlen aus dem Sperrmüll. Große Teebecher mit Henkel standen auf einem flachen Tisch und von mehreren Kerzen hatte sich das hart gewordene Wachs auf der Tischplatte verteilt – eine evangelisch karge Atmosphäre. Einige jüngere Männer erwarteten uns; wenn ich mich richtig entsinne, war Stephan Hilsberg dabei. Ich kannte ihn damals noch nicht. Es waren Vertreter des Ostberliner protestantischen Bürgerrechtsmilieus. Rau fragte, wie sie die Situation einschätzten und was sie nun vorhätten. Er fragte und fragte…Es gab nicht viele Antworten. Alle waren noch zu sehr überrascht und überwältigt. Auch die Bürgerrechtler hatten diese Entwicklung nicht erwartet – jedenfalls nicht über Nacht. Rau sagte zu, dass man im Kontakt bleiben solle und bot Hilfe an.
Ich verließ die nur noch kleine nordrhein-westfälische Delegation und machte mich auf eigene Faust auf den Weg. Ich fragte Passanten nach dem nächsten Grenzübergang nach West-Berlin. An der Invalidenstraße gebe es einen Sektorengrenzübergang für Westberliner, erfuhr ich. Dort angekommen taten die Grenzposten ihren Kontrolldienst und sie ließen etliche Leute nach Ausweiskontrolle nach Westen durch. Ich konnte nicht erkennen, ob es Westberliner oder Bürger der DDR waren. Ich zeigte meinen Pass und der Beamte sagte mir, dass ich hier nicht passieren könne. Ich hätte einen Stempel vom Kontrollpunkt an der Friedrichstraße, dem „Checkpoint Charly“ (über den „Diplomaten“ ein- und ausreisten). Unterwürfig, wie ich es mir im Umgang mit „Grenzern“ angewöhnt hatte, wies ich darauf hin, dass doch jetzt sogar DDR-Bürger nach Westen ausreisen dürften, warum dann nicht auch ich mit einem bundesrepublikanischen Pass. Der Grenzposten überlegte lange und ging dann in den Grenzcontainer, besprach sich offenbar mit Kollegen. Ich musste minutenlang warten bis er endlich zurückkam. Er gab mir meinen Pass und ließ mich wortlos passieren.
Zu Fuß ging ich möglichst nahe der Mauer Richtung Süden. Bis zur Spree begegnete ich wenigen Menschen, die Mauer stand wie eine alte hässliche Ruine. Je näher ich dem Reichstag kam, desto mehr Menschen waren unterwegs und desto mehr Trabis sah und roch ich vor allem auf den West-Berliner Straßen. Um das Brandenburger Tor war eine Stimmung, wie nach einer durchzechten Nacht oder nach Karneval. Sektflaschen lagen auf den Straßen, zahllose neugierige „Ossis“ schnupperten den Westen, wildfremde Menschen fielen sich in die Arme. Die ersten „Mauerspechte“ hackten mit scharfkantigen Hämmern kleine Steinbrocken von der Mauer ab. Ich wollte auch gerne ein Stückchen haben und ich musste dafür bezahlen. Da argwöhnte ich, dass es im vereinten Deutschland weiter gehen sollte, wie vorher im Westen. Selbst die trennende Mauer wurde vermarktet, wie später die ganze ehemalige DDR.
Bildquelle: Wikipedia, Colin Smith, CC BY-SA 2.0,